Von Andrei Koz
Drei Schläge
Der erste Angriff hat in der Nacht auf den 29. Dezember stattgefunden. Experten sprachen von einer Reaktion auf den Raketenbeschuss von Feodossija einige Tage zuvor. Doch bald wurde klar, dass die Operation vor langer Zeit geplant wurde. Davon zeugten sowohl der Umfang des Angriffs als auch die Vielfalt der eingesetzten Präzisionswaffen.
Juri Ignat, Pressesprecher der ukrainischen Luftwaffe, gestand:
"So viele Ziele haben wir auf unserem Monitor noch nie gesehen."
Nach seinen Angaben setzte Russland alle Typen von Präzisionswaffen außer den seegestützten Kaliber-Marschflugkörpern ein. Laut dem ukrainischen Verteidigungsministerium wurde der Angriff mit 122 Marschflugkörpern und 36 Drohnen durchgeführt. Die Luftabwehr schoss Behauptungen des ukrainischen Militärs zufolge 114 Luftziele ab.
In sozialen Netzwerken veröffentlichte Videoaufnahmen widerlegen diese Behauptungen jedoch. Explosionen erschütterten in jener Nacht die ganze Ukraine. Raketen und Drohnen griffen Odessa, Lwow, Charkow, Dnjepropetrowsk und Kiew an. Und während im Herbst und Winter 2022 die Ziele hauptsächlich Objekte der Energieinfrastruktur waren, wurden diesmal Rüstungsbetriebe, Munitionsdepots und Waffenlager angegriffen. Russlands Verteidigungsministerium bestätigte dies später.
"Das Ziel wurde erreicht, alle anvisierten Objekte wurden getroffen. Durch den Angriff wurden Herstellung und Reparatur von Militärtechnik und Munition ausgeschaltet sowie die Verlegung von Personalreserven aus westlichen Regionen der Ukraine unterbunden. Durch die Störung von Eisenbahntransporten wurden die für das ukrainische Militär gelieferten ausländischen Waffen in rückwärtigen Gebieten blockiert", berichtete die Behörde.
Am 2. Januar folgte der nächste Großangriff. Zu Hauptzielen wurden diesmal Rüstungsbetriebe in Kiew und Charkow. Nach Angaben des ukrainischen Militärs setzte Russland beim Angriff 40 Fernflugdrohnen des Typs Geran, 110 Marschflugkörper und zwölf ballistische Iskander-Raketen ein. Abgefangen wurden angeblich 107 Geschosse, darunter alle zehn Hyperschall-Flugkörper des Typs Kinschal. Freilich wurden dafür keine Beweise vorgelegt.
Am 8. Januar wurden Rüstungsbetriebe in Charkow, Saporoschje, Kriwoi Rog und Nowomoskowsk angegriffen. Der offizielle Bericht Kiews fiel diesmal weniger optimistisch aus: Von 59 Raketen und Drohnen seien 26 abgefangen worden.
Jagd auf Luftabwehrraketensysteme
Die ukrainische Luftabwehr ist sichtlich überfordert: Bei solchen Angriffen werden parallel zu Präzisionsraketen auch Antiradarflugkörper abgefeuert, die das Signal einer Radaranlage anvisieren. Luftabwehrstellungen werden unweigerlich getroffen – gegnerische Luftabwehrkomplexe gehörten schon immer zu Prioritätszielen und sind es immer noch.
Jede Luftabwehranlage ist für Kiew sehr teuer, deswegen verheimlicht das ukrainische Militär sorgfältig ihre Zerstörung. Doch viele Experten, darunter auch westliche, halten die Verluste für sehr hoch.
"Zwei Großangriffe – am 29. Dezember und am 2. Januar – waren ganz verheerend. Offensichtlich wurden Amerikaner und Ukrainer sowie ihre westlichen Verbündeten durch diese Angriffe schockiert. Es gibt nicht wenige Belege, dass mindestens zwei Batterien von Patriot-Luftabwehrkomplexen in Kiew vernichtet wurden, von Industriebetrieben und strategischen Objekten ganz zu schweigen", sagte der britische Militäranalytiker Alexander Mercouris.
Selbstverständlich wird auch das Bedienpersonal von Luftabwehrkomplexen dabei getötet oder verwundet. Spezialisten, die mit den westlichen Systemen umgehen können, gibt es in der Ukraine nicht sehr viele. Diese Verluste beeinträchtigen die Verteidigungsfähigkeit des ukrainischen Militärs kaum weniger als die unmittelbare Zerstörung von Luftabwehrkomplexen.
Raketenmangel
Ein weiterer Faktor, der die Effektivität der ukrainischen Luftabwehr in den letzten Wochen erheblich verminderte, ist der schnelle Verbrauch von Flugabwehr-Lenkraketen. Ihr großzügiger Einsatz ruft im Westen nicht immer Verständnis hervor. The New York Times bemerkte etwa unlängst, dass die USA der Ukraine keine Raketen für Patriot-Komplexe im Wert von zwei bis vier Millionen Dollar pro Stück werde liefern können, solange der Kongress nicht die Finanzierung bewillige.
"Ein Defizit an Flugabwehr-Lenkraketen herrscht tatsächlich, niemand macht einen Hehl daraus. Deswegen werden in der westlichen Presse auch solche Sorgen geäußert. Ich denke, dass die westlichen Partner darüber, wie es bei uns um Luftabwehrmittel steht, gut informiert sind. Wir verbrauchten nicht wenige Raketen, um die Großangriffe der letzten Tage abzuwehren", sagte Juri Ignat in einer Sendung des ukrainischen Fernsehmarathons.
Zuvor hatte Ignat berichtet, dass besondere Sorgen den ukrainischen Luftabwehrtruppen luftgestützte Hyperschall-Marschflugkörper des Typs Ch-32 bereiteten, die eine Geschwindigkeit von bis zu 5.400 Kilometern pro Stunde erreichen. Kein einziger davon wurde bisher abgeschossen, räumt Kiew offiziell ein. Das bedeutet, dass diesen Raketen selbst die fortschrittlichsten westlichen Luftabwehrsysteme nichts entgegensetzen können.
Die Hauptbesonderheit des Ch-32 besteht in den umfangreichen Möglichkeiten zur Überwindung der Luftabwehr. Erstens fliegt die Rakete in einer Höhe von etwa 40 Kilometern. Kein Luftabwehrsystem der Welt kann ein Ziel in einer solchen Höhe abfangen. Zweitens greift der Ch-32 in seinem finalen Flugabschnitt das Ziel im Sturzflug an, weswegen er schwieriger aufzuspüren ist – viele Systeme können nichts direkt über sich selbst "sehen". Drittens ist die Radaranlage dieser Rakete gegen Mittel der elektronischen Kriegsführung besonders resistent.
Am wichtigsten ist indessen, dass Ch-32 von der Industrie in Serie massenproduziert werden. Dagegen ist die Ukraine, die über keine entwickelte Rüstungsindustrie verfügt, völlig von Lieferungen aus dem Westen abhängig. Und wenn man nach dortigen offiziellen Ankündigungen und Medienpublikationen urteilt, wird der Westen Kiews zunehmend überdrüssig.
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei RIA Nowosti.
Andrei Koz ist ein Kriegsberichterstatter der Nachrichtenagentur RIA Nowosti.
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