Von Sergei Poletajew
Der Konflikt in der Ukraine hat in der russischen Gesellschaft und auf der ganzen Welt eine seltene Welle der Emotionen ausgelöst. Die schneidigen Angriffe, die der einen oder anderen Seite Hoffnung auf einen schnellen Sieg gaben, sind einem brutalen Stellungskampf gewichen. Bei vielen ist die Hochstimmung einem Burnout gewichen – es scheint, dass eine hoffnungslose Pattsituation bevorsteht, dass die Militäroperation ihren Zweck aus den Augen verloren hat und sich nun auf Angriffe auf unwichtige ukrainische Dörfer und namenlose Waldabschnitte beschränkt.
Angriffe auf unwichtige Ziele? Nur auf den ersten Blick!
In einem früheren Artikel habe ich darüber geschrieben, weshalb Russland die Ukraine nicht auf breiter Front angreift und Städte wie Charkow und Odessa einnimmt. Es gibt einen bedeutenden Grund dafür: Russland will dies eigentlich nicht. Oder besser gesagt, Präsident Wladimir Putin will dies nicht. Noch nicht.
Sofern die Ukraine nicht unerwartet so weit zusammenbricht, dass sie mit den verfügbaren Kräften besiegt werden kann, stehen uns monatelange, wenn nicht sogar jahrelange Stellungskämpfe bevor – aber diese werden weder zufällig noch ziellos geführt werden. Russlands Plan besteht darin, die Sache entweder mit einer umfassenden Vereinbarung mit dem Westen oder mit einem umfassenden Einmarsch der russischen Armee in das von Kiew kontrollierte Gebiet zu beenden. Diesmal, um die entscheidendsten Ziele zu erreichen.
Souveräner Opportunismus
Seit seinem Amtsantritt vor 24 Jahren hat Putin das Image eines kompromisslosen Verfechters russischer Interessen gegen äußere und innere Feinde entwickelt. Sein Versprechen – ausgesprochen während des Kriegs in Tschetschenien –, diese Feinde "selbst während ihrer Notdurft zu erledigen", wird tendenziell auf alles angewendet. Auch auf alles, was im Zusammenhang mit der Ukraine steht. Allerdings war Putin im Verhältnis zum Westen und zu Kiew stets ein Mann des Kompromisses. Das Prinzip seiner Politik gegenüber der Ukraine – wie auch gegenüber dem gesamten postsowjetischen Raum – bestand darin, auf Einigungen zu drängen. Von den Streitereien um den Gastransit unter dem ehemaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Juschtschenko bis hin zum Abkommen über die Schwarzmeerflotte unter dessen Nachfolger Wiktor Janukowitsch. Von den Minsker Vereinbarungen unter Petro Poroschenko bis hin zum Epos in Istanbul unter Wladimir Selenskij. Putin hat der Ukraine nie tödliche Schläge versetzt, sondern sich stets auf Ohrfeigen beschränkt, in der Hoffnung, seinem ukrainischen Gegenüber klarzumachen, worum es tatsächlich geht.
Dieser Ansatz wird oft kritisiert, aber Putin betrachtet die Ukraine, wie die russischen Eliten im Allgemeinen auch, grundsätzlich als eigenständigen und organischen Staat und hat dessen Existenzrecht stets anerkannt. Unter diesem Paradigma muss Kiew ein Angebot annehmen, das nicht abgelehnt werden kann, und als Absicherung hat Putin immer auch einen Plan B bereit: Um beim Gastransit nicht von der Ukraine abhängig zu bleiben, wurden Pipelines angelegt, mit denen die Ukraine umgangen werden konnte. Parallel zum Abkommen über die Schwarzmeerflotte wurde der Plan für die Militäroperation auf der Krim entwickelt – und im März und April 2014 ausgeführt. Es gibt unzählige Beispiele.
Der Patient schwitzte noch, bevor er starb
In den Anfangsjahren seiner Präsidentschaft sprach Putin direkt mit den ukrainischen Eliten, doch als Kiew seine Unabhängigkeit verlor, verhandelte er nur noch unter Beteiligung westeuropäischer Mächte – über die Minsker Abkommen, die im zweiten Anlauf unterzeichnet wurden – und offenbar stillschweigend auch mit den Vereinigten Staaten. Die Vereinbarungen funktionierten von Jahr zu Jahr immer weniger gut, aber der gewählte Ansatz machte es schwierig, mehr zu erreichen. Darüber hinaus waren die Minsker Abkommen im luftleeren Raum eine Art diplomatischer Triumph: Schließlich wurde Minsk II nach der Billigung durch den UN-Sicherheitsrat zu einem völkerrechtlichen Vertrag von höchster Instanz, der für die Ukraine bindend war.
Der Ersatzplan für den Fall, dass Minsk scheitern sollte, war die "militärische Sonderoperation", wie sie in Russland genannt wird, und zwar in ihrer ursprünglichen Form: zuerst ein paar Monate lang verschärfte militärische Spannungen erzeugen, dann ein umfassendes militärisches Eingreifen, um Kiew dazu zu zwingen die Bedingungen Moskaus zu akzeptieren. Im März 2022 wurde in Istanbul vorgeschlagen, die USA, Großbritannien und China als ultimative Garanten für die Sicherheit der Ukraine mit einzubeziehen. Peking schien damit kein Problem zu haben. Der Westen jedoch weigerte sich rundweg, einen solchen Handel einzugehen, und Putin wartete darauf, dass seine Gegenspieler ernsthaft wurden, während er die Ukraine mit Gewalt fest im Griff hielt, aber indem er seinen Griff mal festigte und mal lockerte.
Funktionierte diese Strategie? Nun ja, der Westen hat Kiew so weit bewaffnet, wie er konnte, jedoch ohne es völlig zu übertreiben, wie zum Beispiel mit der massiven Lieferung von Langstreckenraketen. Aber er hat noch keine unumkehrbaren Schritte unternommen, wie zum Beispiel den Beitritt der Ukraine zur NATO. Unterdessen wird die Schwere der antirussischen Sanktionen durch den unverbindlichen Charakter ihrer Umsetzung ausgeglichen.
Ob durch geheime Vereinbarungen oder durch Eigendynamik, in den vergangenen zwei Jahren hat sich ein anderes Gleichgewicht herausgebildet: Der Westen lässt die Ukraine nicht zusammenbrechen, provoziert aber auch keine Eskalation, während Russland die Ukraine zunehmend in die Knie zwingt, das Land aber nicht vernichten will.
Spezielle militärische Verzögerungstaktik
Wir haben wiederholt festgestellt, dass Russland sich auf eine große militärische Eskalation vorbereitet. Der militärisch-industrielle Komplex wird ausgebaut, die Armee erweitert und eine tiefgreifende Mobilisierungsreform durchgeführt. Bisher hat Putin jedoch weder mit Worten noch mit Taten seine Bereitschaft gezeigt, dass er sich auf eine Eskalation einlassen will. Im Gegenteil: Es gibt Signale von Verhandlungsbereitschaft, während an der vordersten Front ein Defensivspiel betrieben wird und die Intensität der Bombenangriffe aus großer Entfernung sogar reduziert wurden.
In der Ukraine verläuft alles nach dem Schema, das man bereits seit Ende August kennt: Der Westen handelt aus Trägheit heraus, gibt der Ukraine gerade genug, um das Land am Leben zu erhalten, verbreitet gleichzeitig verleumderische Aussagen über das Versagen der ukrainischen Streitkräfte und schickt vorsichtige Signale von Verhandlungsbereitschaft – alles vor dem Hintergrund sich vor sich hinschleppender Kampfhandlungen.
Doch derzeit liegen die Positionen der Parteien noch sehr weit auseinander. Moskau verlangt von der Ukraine immer noch, dass sie damit aufhört, als militärischer und ideologischer Rammbock gegen Russland zu agieren – das ist es, was sich hinter den Begriffen Entmilitarisierung und Entnazifizierung verbirgt –, während der Westen ein einfaches Einfrieren des Konflikts ohne formelle Garantien anbietet und nicht bereit ist, das Problem tiefer zu diskutieren.
Plan A, Plan B
Das Szenario des Kremls für das kommende Jahr könnte wie folgt aussehen: Beibehaltung der aktuellen Intensität der Kämpfe, langsames Vorrücken im Donbass und Erschöpfung der Ukraine, um dem Westen die Standfestigkeit der russischen Position und die Sinnlosigkeit der Hoffnungen auf einen militärischen Sieg Kiews zu demonstrieren. Das Angebot, das der Westen nicht ablehnen kann, lautet im Wesentlichen: Entweder ihr gebt die Ukraine auf, oder wir zerschlagen die Ukraine als Staat und beseitigen die Bedrohung auf unsere eigene Weise.
Wenn die Ukraine in den kommenden Monaten nicht zusammenbricht, könnte die derzeitige relative Ruhe bis zu den US-Wahlen Ende 2024 anhalten. Dann wird der neuen US-Regierung ein Vorschlag unterbreitet, was auch immer dieser sein mag. Putin hat das schon einmal getan: Er hat das Kräftemessen in Bezug auf die Minsker Abkommen bis nach der Wahl von Selenskij verschoben, und erst, als er von dessen mangelndem Engagement überzeugt war, grünes Licht für den Militäreinsatz gegeben.
Somit wird die militärische Eskalation zu einer weiteren Absicherung für verschiedene Anlässe: Wenn keine substanziellen Vereinbarungen getroffen werden, wird im Rahmen der aktuellen Operation ein Großangriff mit entscheidenden Zielen gestartet. Und falls eine Einigung über die Entmilitarisierung der Ukraine erzielt werden kann, gemäß den in Istanbul festgelegten Prinzipien und der militärischen Neutralität Kiews, wird das Damoklesschwert einer neuen – diesmal ungezügelten – russischen Operation über der Ukraine schweben, falls Versuche unternommen werden, den erzielten Status quo zu ändern.
Putin selbst hat ein solches Szenario angedeutet: Bei einem denkwürdigen Treffen mit Militärkorrespondenten Anfang Juni 2023 sprach er von einem "zweiten Marsch auf Kiew", der eine erneute Mobilisierung erfordern würde. Der Zeitpunkt lässt sich an den Worten von Verteidigungsminister Sergei Schoigu ablesen: Bis Ende 2024 müssen die Hauptaufgaben beim Armeeausbau und der Entwicklung des militärisch-industriellen Komplexes abgeschlossen sein. Den Haushaltsplänen zufolge ist 2024 auch das Spitzenjahr für die Verteidigungsausgaben des Landes, und dieses Ergebnis muss irgendwie genutzt werden. Ein Zeichen der Vorbereitungen für den oben erwähnten "Großangriff" wird ein drastischer Wandel in der offiziellen Rhetorik sein. Es wird eine große, landesweite Angelegenheit sein, daher muss die militärische Propaganda auf Hochtouren gefahren werden.
Aber wenn meine Schlussfolgerungen richtig sind, handelt es sich um ein Ausweich-Szenario, so wie die Mobilisierung ebenfalls ein Ausweich-Szenario darstellt. Für Putin ist es wichtiger, eine große Vereinbarung mit dem Westen abzuschließen, als die Ukraine zu vernichten. Ersteres sind die wahren Gründe für die Militäroffensive, die physische Reduzierung der Ukraine ist bloß ein Nebeneffekt. Wenn es gelingt, hat die Ukraine die Chance, eine größere Version Georgiens zu werden – und das wäre wahrscheinlich ihr bestes Schicksal.
Im Hier und Jetzt ist keine Vereinbarung möglich, aber nach dem Scheitern der Gegenoffensive Kiews zögert der Westen, Geld und Waffen zu schicken, um seinen Klienten in seiner derzeitigen – wenn auch nicht so guten – Verfassung zu halten. Wenn sich das Blatt nicht wendet, werden die Chancen der Ukraine, dem russischen Angriff standzuhalten, mit jedem Monat geringer, und damit auch die Hoffnungen des Westens, Putin mit Gewalt zu stürzen.
Aus dem Englischen.
Sergei Poletajew ist Mitbegründer und Herausgeber des Vatfor Project.
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