Von Wiktor Schdanow
Unerfüllte Erwartungen
In der ukrainischen Bevölkerung haben sich "viel Frust" und "schwierige Fragen" angesammelt, sagte der Berater des Präsidialamts, Michail Podoljak, in einem Interview mit Medienvertretern. Die Gesellschaft wisse, dass nicht jeder im Staatsapparat, gerade auch in den lokalen Behörden, sich genug Mühe gebe.
"Ich spreche sowohl von der Korruption als auch vom Verhaltensmuster als auch von merkwürdigen Behauptungen, die von Zeit zu Zeit kommen. All das wiegt schwer, denn an der Front gab es keinen Durchbruch." Podoljak erwähnte die knapp zwei Jahre andauernden Kampfhandlungen, eine Stagnation des öffentlichen Lebens und zahlreiche unerfüllte Ambitionen. Er zog den Schluss, dass sich das Verhältnis der Bevölkerung zur Regierung ändere.
Selenskijs Zustimmungswerte sind auf 32 Prozent gesunken, berichtet die Zeitschrift The Economist unter Verweis auf eine Umfrage vom November. Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko sagte dem schweizerischen Portal 20 Minuten, dass er sich darüber nicht wundere.
"Die Menschen sehen, wer effektiv ist, und wer nicht. Es gab auch viele Erwartungen. Selenskij zahlt für seine Fehler", erklärte er. Zuvor berichtete Klitschko von zunehmendem Autoritarismus: In der Ukraine gebe es praktisch keine unabhängigen Institutionen mehr, alles sei dem Willen eines einzigen Menschen untergeordnet.
Sorgen des Volkes
Die Ukrainer seien über die Spannungen an der Staatsspitze besorgt, meldet die Nachrichtenagentur Bloomberg. Das zunehmende Bewusstsein, dass sich der Konflikt in die Länge zieht, erzeuge ebenfalls keinen Optimismus. In den Regionen finden Kundgebungen für eine Rückkehr der Mobilisierten nach Hause statt. Vor einem Jahr waren sie eine Seltenheit, doch inzwischen versammeln sich in Kiew, Odessa, Lwow, Chmelnizki, Schitomir und Kriwoi Rog Dutzende, manchmal auch Hunderte Protestierende.
In der Rada wird über die Möglichkeit verhandelt, Militärangehörige nach 18 oder 36 Monaten ununterbrochenen Dienstes zu demobilisieren. Doch diese Initiative hat wenige Chancen.
Am 5. September wurde auf der Webseite des Präsidenten eine Petition mit der Forderung, die gültigen Einberufungsregeln zu ändern, registriert. Über 25.000 Menschen unterzeichneten den Aufruf, "die Bedingungen für alle Bürger anzugleichen" und auch Abgeordnete und Beamte zu mobilisieren. Selenskij muss die Petition nun untersuchen.
Unvermeidbarer Fall
Der Spiegel berichtet von einer massenhaften Kampfesmüdigkeit beim ukrainischen Militär. Als Beispiel wird ein Kämpfer angeführt, der sich im Jahr 2022 freiwillig zum Frontdienst meldete, inzwischen aber Frieden will. Seinen Angaben zufolge befinden sich überwiegend ältere Menschen an der Frontlinie. Selbst jene, die gegen Verhandlungen mit Moskau sind, seien nicht mehr in der Lage zu kämpfen. "Jetzt sind andere an der Reihe", sagen die Soldaten.
Vierzig Prozent der von der Agentur "Rating" befragten Ukrainer sind der Ansicht, dass ein Kompromiss mit Russland gesucht werden muss. Gegen einen Friedensschluss treten 48 Prozent ein, während es im Sommer noch 60 Prozent waren. Über die Hälfte der Letzteren sind Menschen aus westlichen Gebieten im Alter zwischen 36 und 50 Jahren. Jüngere Menschen und Bewohner der Ostukraine ziehen Verhandlungen vor.
"Die andauernden Kampfhandlungen beeinflussen die Stimmung in der Gesellschaft. Die Menschen gehen zu Kundgebungen, obwohl sie dadurch Probleme bekommen könnten. Bisher stellen sie keine politischen Forderungen, dennoch sind solche Aktionen bezeichnend", erklärte der Politologe Alexandr Dudtschak in einem Gespräch mit RIA Nowosti.
Das, was im Präsidialamt gesagt wird, seien Manöver einzelner Politiker. "Podoljak will seine Position für die USA im Vorfeld deutlich machen. Er will zeigen, dass er gewarnt hat, dass sich die Lage zuspitze. Bisher wird Selenskij als Staatsoberhaupt angesehen, der seinen Posten in einer schwierigen Zeit bekleidet. Doch es fällt ihm immer schwerer, das Vertrauen der Bevölkerung zu bewahren. Seine Zustimmungswerte werden unweigerlich weiter fallen", meint der Experte.
Die Regierung bereitet Gegenmaßnahmen vor. "Wahrscheinlich gibt es einen Plan, der den angesammelten Unmut schwächen oder kanalisieren soll. Personelle und politische Entscheidungen stehen bevor. Wahrscheinlich werden sie mit der Entlassung des Oberbefehlshabers Saluschny und einer Umformung des Ministerkabinetts beginnen", vermutet Wassili Stojakin, Politologe und Journalist des Portals Ukraina.ru.
Auch politische Strafprozesse gegen Oligarchen seien nicht ausgeschlossen, fügt er hinzu. Die Rede sei nicht nur vom bereits verhafteten Igor Kolomoiski, sondern auch etwa von Rinat Achmetow. Die Frage der Wahlen sei noch unklar. Sie wurden zwar ausgesetzt, allerdings kann sich die Situation jederzeit ändern.
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei RIA Nowosti.
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