Von Dawid Narmanija
Die Zeitschrift Foreign Affairs, das Zentralorgan der US-amerikanischen Außenpolitik, hat einen wahrhaft visionären Artikel mit einem Plan für den ukrainischen Sieg über Russland veröffentlicht. Liana Fix vom Council on Foreign Relations (CFR) und Michael Kimmage vom Centre for Strategic and International Studies (CSIS) präsentieren dem Leser eine Strategie, die so zuverlässig sein soll wie eine Schweizer Uhr.
Ihre Thesen lauten, kurz gefasst, wie folgt: Der Kreml sei davon überzeugt, dass sich die Situation zugunsten Russlands entwickelt. Russland hat durch die westlichen Sanktionen und Feindseligkeiten keinen nennenswerten Schaden erlitten und ist sogar in der Lage, seine Militärausgaben zu erhöhen, während der Westen Schwierigkeiten hat, das frühere Niveau seiner Unterstützung für Kiew aufrechtzuerhalten. Das hat sich durch die Eskalation im Nahen Osten sogar noch verschärft.
Dem halten die beiden Autoren jedoch einen wirklich interessanten Gedanken entgegen: Der Stillstand an der Front, so argumentieren sie, sei überhaupt kein Problem für die Ukraine, sondern im Gegenteil ein großer Erfolg. Kiew und seine westlichen Unterstützer, so sagen sie, sollten genau so weitermachen: in die Verteidigung gehen, die Ukraine mit Geld und Waffen unterstützen und wirtschaftliche Beschränkungen für Moskau aufrechterhalten.
Wenn Sie denken, dass diese Thesen widersprüchlich sind, sind Sie damit nicht allein. Aber gerade für solche renitenten Leser haben sich die Autoren eine in ihrer Einfachheit geniale Erklärung einfallen lassen:
"Siege in Kriegen kommen manchmal unerwartet."
Sie behaupten jedoch auch, dass weder ein Sieg noch das Erreichen einer starken Verhandlungsposition in Kiews absehbarer Zukunft zu erwarten sei. Moment mal, was ist mit dem Unerwarteten?
Die Auflösung dieses Widerspruchs ist leichter, als man denkt: Den Sieg über Russland hat man sich bitte nicht länger als etwas so Triviales wie die Zerschlagung der russischen Armee vorzustellen.
Als neues Narrativ, für das Kiew nun werben muss, bieten sie die Idee an, dass eine dauerhafte Eindämmung ("Containment") Russlands für die Ukraine wie auch für den Westen selbst ein großer Erfolg sei. Ja, das klingt nicht so spektakulär wie die schnelle Zerschlagung Putins, aber für Europa geht es um die Sicherung des Kontinents, und für die USA geht es um die Erhaltung der Weltordnung mit ihrer ungeteilten Hegemonie.
Aus Sicht des Westens passt hier alles, zumal die Autoren vorrechnen, dass die Ukraine für Washington billiger kommt als Vietnam, Afghanistan und der Irak. Und im Allgemeinen ist Kiew der demokratischste Partner, den die Vereinigten Staaten je hatten, nicht vergleichbar mit Saigon, Kabul und Bagdad. Ich frage mich natürlich, wer der Partner des Weißen Hauses im Irak war, den sie in eine Brutstätte für den Islamischen Staat verwandelt haben, aber die Autoren machen sich nicht die Mühe, solche Erklärungen zu geben.
Das ist eigentlich das Revolutionäre an dem Artikel ‒ amerikanische Politikwissenschaftler geben offen zu, dass die Taras und Mykolas (stereotype Vornamen für Ukrainer) billig zu haben sind. Und sie schlagen vor, sie so lange zu benutzen, bis sie völlig aufgebraucht sind. Was bislang als russische Propaganda galt, ist nun der offen erklärte Standpunkt amerikanischer Analysten. Und ja, die Ukraine hat jetzt offiziell keinen anderen Status als den des "Anti-Russlands".
Aber es gibt noch ein weiteres wichtiges Detail: Fix und Kimmage stellen die Angriffe auf die Krim als den größten Erfolg Kiews dar:
"Lange Zeit eine begehrte Trophäe für Putin, kann sie nun nicht mehr als attraktives Ziel für Russen angesehen werden."
Das für Angriffe auf die Krim-Brücke ausgegebene Geld sei gut angelegt, behaupten die US-Analysten:
"Je mehr die Ukraine die russischen Seestreitkräfte angreifen und die Krim gefährden kann, desto mehr kann sie den Krieg für den Kreml und die russische Bevölkerung sinnlos machen."
Dies ist auch eine interessante Änderung der Rhetorik. Jetzt ist das erklärte Ziel nicht mehr das berüchtigte "Putin-Regime" allein, sondern auch die einfachen Russen nimmt man bewusst ins Visier. Der Vorschlag der US-Außenpolitik lautet, sie, die einfachen Russen, mit terroristischen Methoden anzugreifen und das Leben ‒ mindestens auf der Krim ‒ für sie unerträglich werden zu lassen. Was für eine pikante Situation: Intelligente Akademiker rufen Washington offen dazu auf, Terroranschläge, Sabotage und andere "liberal-demokratische" Methoden des "Kampfes für Freiheit und Gerechtigkeit" zu unterstützen.
Dass Versuche terroristischer Einwirkung auf die Bevölkerung der Krim und anderswo unternommen werden, ist nichts Neues, sie sind bereits längst Arbeitsroutine der Behörden in Kiew, London und Washington geworden. Neu ist, dass darüber so offen gesprochen wird.
Die Vorliebe von Selenskijs Komikertruppe "Kwartal 95" für mediale Triumphe hat den Westen angesteckt. Für die einfachen Ukrainer erweist sich dies allerdings als katastrophal. Denn nun werden sie im Wesentlichen aufgefordert, einen Zermürbungskonflikt zu akzeptieren, bei dem kein Ende in Sicht und kein Sieg möglich ist. Als Trost wird ihnen angeboten, Terroristen spielen zu dürfen.
Churchill hat einmal gesagt:
"If you are going through hell, keep going."
Frei übersetzt: Wer durch die Hölle geht, sollte bloß nicht stehen bleiben. Aber die Zeiten ändern sich, und jetzt verlangen die westlichen Herren von den Ukrainern, dass sie in der Hölle sesshaft werden.
Übersetzung aus dem Russischen. Der Text ist zuerst am 30.11.2023 auf ria.ru erschienen.
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