Von Gleb Prostakow
Während der Druck des Westens auf die Ukraine wächst, korrigieren die Westmedien das Image des Präsidenten Wladimir Selenskij vom Helden zum Antihelden. Langsam, aber beständig. Beides zwingt die Kiewer Machthaber, einen Ausweg zu suchen. Die kreativen Köpfe im Präsidialamt haben sich gleich mehrere Probewürfe ausgedacht – für die Öffentlichkeit in der Ukraine, aber auch im Ausland.
So sollte der Skandal um Irina Farion, die Soldaten im ukrainischen Militär für die Nutzung der russischen Sprache an der Front und im Alltag aufs Heftigste anfeindete, die Öffentlichkeit von der Situation um Awdejewka ablenken. Ablenken aber auch von der wachsenden Bedrohung für Kiews Truppen im Raum Kupjansk. Zu diesem Zweck wurde der Skandal auch mehrere Wochen aufgebauscht. Denn die Angriffe, die das russische Militär im Gebiet Charkow unternimmt, sind politisch gesehen nicht weniger gefährlich als die im Großraum Donezk. Sie geben zu verstehen, dass Russland sich mit vier neuen Gebieten nicht zufriedengeben wird. Und dass die Staatsgrenzen, die zwischen Russland und der Ukraine ohnehin nie delimitiert, geschweige denn demarkiert wurden, in Bewegung bleiben werden.
Es ist klar, dass zum Löschen eines solchen Brandes eine Persönlichkeit vom absoluten Rand der Gesellschaft, wie die vorsintflutliche russophobe Nationalistin Farion eben eine ist, nicht einmal annähernd hinreicht. Darum wird auch die Suche nach inneren Feinden, die den Sieg über Russland infragestellen, fortgesetzt werden.
Signale an die Außenwelt, die von der Bankowaja Straße in Kiew ausgehen, sind indes viel wichtiger. Um diese zu senden, wurden gleich zwei von Selenskijs Mitstreitern geopfert: Die Abgeordneten der Volksdiener-Partei Marjana Besuglaja und David Arachamija. Der Letztgenannte gehört übrigens zu Selenskijs innerem Kreis.
Besuglaja wurde mit der Diskreditierung des Oberbefehlshabers der ukrainischen Streitkräfte Waleri Saluschny als möglichen Nachfolger Selenskijs beauftragt. Sie beschuldigte ihn alsbald öffentlich, keinen Aktionsplan für das Jahr 2024 bereit zu haben und rief zu seiner Entlassung auf. Dies sorgte für viel Kritik, auch bei ihren Parteigenossen.
Zwar haben sich die Volksdiener-Parteileitung und das Präsidialamt sofort von Besuglajas Äußerungen distanziert, doch die Aufgabe, Saluschnys Talent als Stratege in Zweifel zu ziehen, war bereits erfüllt. Dass hierdurch der Leumund einer Selenskij treuen Abgeordneten geopfert wurde, ist nebensächlich. Die Schwerpunktsetzung bei der Kritik an Saluschny, ihm fehle eine Strategie für den Sieg, muss zwingend als Angriff auf etwaige Ambitionen des Generals auf eine Präsidentschaft gewertet werden. Ein potenzieller Präsident darf nicht ohne Strategie daherkommen, denn die propagandavergiftete ukrainische Öffentlichkeit erwartet keine andere Strategie als eine Strategie des Sieges. Und eine solche Strategie hat in der Ukraine ja bekanntlich nur Selenskij, wie man weiß: Noch mehr Geld und Waffen vom Westen – und das Ziel werde garantiert erreicht.
Teil zwei dieses politischen Balletts war das skandalöse Interview mit David Arachamija. Selenskijs engster Verbündeter, Geschäftsmann, Vermittler und Problemlöser Arachamija hatte die Verantwortung für eine mögliche militärische Niederlage der Ukraine de facto dem Westen zugewiesen. Ebenso die Folgen. Aus Arachamijas Mund offenbarte Kiew erstmals die Rolle des damaligen britischen Premiers Boris Johnson; dass Johnson die Übereinkünfte vereitelt hatte, zu deren Abschluss es im März 2022 in Istanbul um eine Haaresbreite gekommen wäre. Davor hatte Kiew jegliche diesbezügliche Information gänzlich ohne Kommentar belassen.
Dabei legte Arachamija besonderes Augenmerk darauf, dass die wichtigste Forderung Russlands im neutralen Status der Ukraine und deren Nicht-Beitritt zur NATO bestand, während die Forderungen über die Entnazifizierung und Demilitarisierung des Landes eher im Hintergrund erklungen haben sollen. Falls dies stimmen sollte, so wären zahlreiche Opfer und großflächige Zerstörung vermeidbar gewesen – hätte Kiew nur die Vereinbarungen von Istanbul unterschrieben. Denn die Forderung Russlands sei beileibe nicht unannehmbar gewesen. Die Ukraine war ja auch vor dem Beginn der militärischen Sonderoperation kein NATO-Mitgliedsland, und Kiew hätte sich einzig und allein dazu verpflichten müssen, dass dies auch künftig so bleibt.
Stattdessen versprach der Westen Kiew eine günstigere Ausgangsposition bei späteren Verhandlungen mit Moskau. Diese hätte sich aus den Zwischenergebnissen der Konfrontation ergeben sollen. Doch nach nahezu zwei Jahren Kampfhandlungen hat sich Kiews Lage nicht bloß nicht gebessert, sondern nun steht es am Rande einer militärischen Niederlage und all deren Folgen.
Arachamija richtet sich nun an den Teil des westlichen Establishments, der glaubt, die USA würden für Hilfeleistungen an Israel und gleichzeitig an Kiew und bei Bedarf auch noch an Taiwan genügend Ressourcen haben. Und wer dort diesen Glauben nicht teilt, an den richten sich die "Andeutungen" der Selenskij-Clique von riesigen Rufschäden für die Demokratische Partei und deren Umfeld. Rufschäden, die während der Kampagne zu den Präsidentschaftswahlen schlicht unannehmbar wären. Immerhin verdauen die USA immer noch die Schmach ihres Rückzugs aus Afghanistan. Eine Schmach, die mittlerweile zum inhaltlichen Festbestand der Wahlkampfreden von Donald Trump gehört. Leisten die USA sich eine solche Eskapade auch in der Ukraine, so werden die öffentlichen Auftritte von Bidens Mitbewerber um perfekte Vorlagen schwerwiegender Argumente bereichert. Dies könnte sich für die Umfragewerte eines jeglichen Kandidaten von der Demokratischen Partei als fatal erweisen.
Selenskij seinerseits benötigt eine Verlängerung seiner "Lizenz zum Krieg" – und für die weitere Kriegsführung neue Ressourcen. Obwohl der Druck aus dem Westen Selenskijs Mannschaft davon abbringen sollte, hat sie sich nun doch entschlossen, die im Frühling 2024 anstehenden Präsidentschaftswahlen abzusagen. Somit braucht Selenskij dringend einen weiteren Freifahrtschein, um die Ukraine noch strammer auf seinen Kurs zu prügeln.
Denn der "Krieg bis zum letzten Ukrainer" als Haltung wurde bereits in dem Gesetzesentwurf formalisiert, der eine Anhebung des Wehrpflichtalters auf 65 Jahre für Soldaten und auf 70 Jahre für ranghohe Offiziere vorsieht. Sergei Naryschkin, Leiter des russischen Auslandsnachrichtendienstes SWR, hat zudem auf Kiews Pläne hingewiesen, die untere Altersschwelle für den Einzug zum Militärdienst im Rahmen der Mobilmachung von 18 auf 17 Jahre zu senken. Selbstredend würde beides in der Ukraine zu landesweiten Unruhen führen. Denn die Menschen sind deutlich weniger motiviert, in den Krieg zu ziehen, als sie es zu Beginn der russischen Intervention in den Ukraine-Konflikt noch waren. Und das bedeutet, dass Kiew harte Maßnahmen zum Unterdrücken des Willens der Ukrainer zwingend wird ergreifen müssen.
Unter dem Strich ist die Botschaft der Selenskij-Clique an ihre Gönner im Westen recht einfach gestrickt: Selenskij werde nirgendwo hingehen, Wahlen werde es keine geben, Saluschny als potenzieller Rivale werde auf die eine oder andere Art beseitigt. Damit wiederum könne es auch keine Verhandlungen mit Russland über ein Einfrieren des Konflikts geben. Falls Moskau überhaupt in solche Verhandlungen einwilligen sollte. Und die Unterstützung durch Finanzen oder Rüstungsgüter herunterzufahren, sei nicht hinnehmbar, denn dies würde zu einer militärischen Niederlage der Ukraine führen. Dies ist eine Schuld, die Kiew der US-Führung, die ja Unterstützung "solange wie nötig" versprochen hatte, vorsorglich aufgebürdet hat.
Die Rufschäden, die Selenskij der Demokratischen Partei zufügt, mehren sich. Zwar wird er hierdurch unhaltbar, bloß dürften den Demokraten mitten im Wahlkampf plötzliche Schritte gegen ihn nicht ganz so leicht von der Hand gehen. Das schließlich bedeutet, dass Washington "seinem Hurensohn" noch mindestens ein Jahr lang alles Notwendige wird gewährleisten müssen.
So sieht zumindest die Logik der Kiewer Strategen die Lage, und diese Logik hat durchaus ihre Daseinsberechtigung.
Eine andere Sache ist, dass das Einverständnis Washingtons mit dieser Logik der Erpressung unter Umständen ausbleiben könnte. Sollte es dazu kommen, dann wird es zu Selenskijs Beseitigung – und dies könnte auch eine physische sein – keine Alternative geben. Derweil sind Selenskijs Warnungen vor einem drohenden "dritten Maidan" auf jeden Fall ernstzunehmen: Einbrüche an der Front oder der Verlust einer großen Stadt wie Charkow, gepaart mit äußerst unbeliebten Maßnahmen zur Mobilmachung von Jünglingen und Greisen, könnten bereits in diesem Winter zu Massenunruhen führen.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei Wsgljad.
Gleb Prostakow ist ein russischer Business-Analytiker und Journalist. Ehemals Redakteur des ukrainischen Wochenblattes Westi. Reportjor. Ab Ende 2015 war er Leiter der Abteilung Innenpolitik des Stadtrates von Saporoschje. Wenig später ließ er sich in Russland nieder und schreibt seitdem für zahlreiche russische Medien Kommentare und Analysen.
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