Experten ziehen bittere Bilanz zur Gegenoffensive: "Die Ukraine verbraucht sich"

Die Gegenoffensive hat ihre Ziele im Großen und Ganzen verfehlt. Die Kampfkraft der ukrainischen Armee ist schwach. Die Stärke und Tiefe der russischen Verteidigungsanlagen überfordert die verfügbare ukrainische Kampfkraft. Bei der gescheiterten Gegenoffensive sollen rund 100.000 ukrainische Soldaten getötet worden sein.

In letzter Zeit mehren sich kritische Stimmungen im Westen gegen die Militärstrategie des Kiewer Regimes. "Experten ziehen bitteres Fazit", schreibt der Focus. "Die Gegenoffensive ist gescheitert. Die Ukraine verbraucht sich." Bei der Gegenoffensive ging es darum, Gebiete zurückzuerobern. Doch jetzt, Monate später, sei Enttäuschung eingekehrt. Die Frontlinie habe sich kaum verschoben, die Fläche der wiedererlangten Gebiete im Süden beträgt gerade einmal 400 Quadratkilometer.

Die Gegenoffensive habe ihre Ziele im Großen und Ganzen verfehlt. Die Kampfkraft der ukrainischen Armee sei schwach. Geländegewinne könnten kaum mehr erzielt werden. Das erklärte Franz-Stefan Gady, Analyst beim britischen Institute for International Strategic Studies. Auch Ralph Thiele, Vorsitzender der Politisch-Militärischen Gesellschaft in Berlin, sagt im Gespräch mit Focus online: "Die ukrainische Armee ist in den fünf Monaten ihrer Gegenoffensive nur 17 Kilometer tief in die russischen Stellungen vorgedrungen." Eigentlich wollten die Streitkräfte in wenigen Wochen bis zur Schwarzmeerküste, konkret bis zum Asowschen Meer, vorrücken – ein Plan, der nicht aufging. Die Ukrainer "haben sich in den aufgehäuften Minenfeldern und starken Verteidigungsstellungen der Russen festgelaufen", analysiert Thiele. Dem Verteidigungsexperten zufolge sind rund 100.000 ukrainische Soldaten getötet worden, außerdem spricht er von einem "Vielfachen an körperlich und seelisch Verwundeten seit Beginn des Ukraine-Krieges".

Der ukrainische Generalstabschef Waleri Saluschny verfasste jüngst einen Beitrag, der vor Kurzem im Economist erschienen ist. Darin konstatiert er eine "Sackgasse" an der Front und moniert, die Gegenoffensive sei missglückt.

Denn die russische Armee scheint sich besser zu halten, als viele Beobachter anfangs angenommen hatten. "Zu Beginn des Krieges schaute der Westen fassungslos auf die massiven strategischen und operativen Fehler des russischen Militärs", sagt Verteidigungsexperte Thiele. "Doch inzwischen hat sich Russlands Armee Zug um Zug auf dem Schlachtfeld angepasst und ist zudem dazu übergegangen, die Ukraine und den Westen zu zermürben."

Aus verschiedenen Medienberichten geht hervor, dass die Ukraine in heftigen Kriegsphasen bis zu 10.000 Drohnen pro Monat verliert. Thiele sagt, dass das auch mit Russlands angepasster Kriegsstrategie zu tun hat. Sein Fazit: "Die Stärke und Tiefe der russischen Verteidigungsanlagen überfordert sichtbar die verfügbare ukrainische Kampfkraft." Auch wirtschaftlich geht es Russland offenbar besser als erhofft, räumen Beobachter im Westen ein. 

Verteidigungsexperte Thiele betont, Russland sei es gelungen, seine Wirtschaft hinsichtlich alternativer Einnahmequellen neu zu justieren. Er vermutet, dass der Kreml von Anfang an darauf hingearbeitet hat, "die eigene Wirtschaft in Zusammenarbeit mit internationalen Partnern zu einer leistungsfähigen Kriegswirtschaft umzugestalten, die den wesentlichen Bedarf der eigenen Streitkräfte in einem materialintensiven Krieg decken kann".

Die vom Focus befragten Experten prognostizieren einen langen Abnutzungskrieg. "Ein schneller Sieg der Ukraine scheint spätestens jetzt – nach dem Scheitern der Gegenoffensive – vom Tisch". Auch Alexander Libman, Politikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin, vermutet: "Sowohl die Ukraine als auch Russland scheinen davon auszugehen, dass sie vor einem sehr langen Positionskrieg stehen."

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