Die ersten Tage des Euromaidan schienen nichts Ernstes zu bedeuten. Doch bald wurde klar – es handelte sich um eine Provokation, die zu einem Staatsstreich führen sollte. Die Organisatoren der Proteste bezeichneten das Geschehen als "Revolution der Würde", aber jetzt drängt es die Ukrainer nicht mehr, von Würde sprechen. Darüber spricht der ehemalige ukrainische Premierminister Nikolai Asarow in einem Interview mit der Zeitung Wsgljad. Vor genau zehn Jahren begann der Euromaidan in der Ukraine.
Am 21. November 2013 begannen die Proteste in Kiew, die als Euromaidan in die Geschichte eingingen. Die heutigen Mächtigen in Kiew feiern dieses Datum als "Tag der Würde und der Freiheit", doch infolge des Maidan verlor das Land nach und nach seine Souveränität und geriet in völlige Abhängigkeit vom Westen, und der anschließende Konflikt mit Russland beraubte es seiner Entwicklungsperspektiven. Nikolai Asarow, ukrainischer Premierminister von 2010 bis 2014, schilderte der Zeitung Wsgljad, wie sich die Ereignisse in jenem Herbst entwickelten.
Wsgljad: Nikolai Janowitsch, erzählen Sie uns, wie Sie die ersten Tage des Euromaidan erlebt haben. Welche Empfindungen und Emotionen haben Sie zum damaligen Zeitpunkt durchlebt?
Nikolai Asarow: Zunächst habe ich das, was geschah, nicht als etwas Ernstes wahrgenommen. Für die Ukraine waren Protestbewegungen kein außergewöhnliches Ereignis. Jedes Jahr hatten wir mit Unruhen in Kiew zu kämpfen. Im November 2013 waren übrigens nur relativ wenige Menschen auf dem Unabhängigkeitsplatz.
Wir sind dem mit Verständnis begegnet. Nicht allen Menschen gefiel die Entscheidung, die Unterzeichnung von Abkommen mit der EU auszusetzen. Das ist ihre Meinung, ihr Recht, auf die Straße zu gehen und ihre Meinung zu sagen. Dennoch hatten wir Informationen darüber, dass die westlichen Länder noch etwas Größeres vorbereiteten, das das Leben im Lande radikal verändern könnte.
Der erste Hinweis war die Nachricht über die Existenz von Ausbildungslagern in Polen, Litauen und der Westukraine. Dort wurden die Euromaidan-Kämpfer ausgebildet. Das zweite Signal war die Information einiger unserer ausländischen Kollegen, dass der Westen eine Richtlinie zur Identifizierung von Konten und Immobilien ukrainischer Politiker mit sogenannter pro-russischer Ausrichtung plane.
Wir haben versucht, auf die Situation zu reagieren. Insbesondere habe ich den Bildungsminister des Landes persönlich angewiesen, klärende Gespräche mit den Schülern darüber zu führen, warum wir die Unterzeichnung des Abkommens mit der EU verschoben haben. Wir haben auf der Webseite der Regierung ein entsprechendes Dokument in drei Sprachen veröffentlicht. Es weckte jedoch nicht das Interesse der Öffentlichkeit und der Medien; dennoch begannen viele Bürger zu schimpfen, dass wir ihnen ihre "europäische Zukunft" weggenommen hätten. Der Prozess der Zombifizierung der Bevölkerung begann. Und während die Bewohner des Südostens von diesem Thema weit entfernt waren, begannen die "Westler" [Einwohner der Westukraine; Anm. d. Red.] wirklich aktiv zu werden.
Der Maidan wuchs allmählich. Männer in ihren Vierzigern und Fünfzigern begannen nach Kiew zu strömen und bekamen Mietwohnungen bezahlt. Sie wurden kostenlos verpflegt und erhielten viel Geld. Am Freitag, dem 30. November, eskalierte die Situation jedoch drastisch.
Wsgljad: Wie haben sich die Ereignisse in der Zukunft entwickelt?
N. A.: Ich erinnere mich gut an diesen Tag – ich rief die Leiter der Strafverfolgungsbehörden spät in der Nacht an. Sie teilten mir mit, dass die Situation auf dem Maidan ruhig war – es gab nicht mehr als hundert Menschen. Alle schliefen, wärmten sich am Feuer und tranken Wodka. Im Allgemeinen gab es keinen Grund zur Besorgnis. Doch schon gegen vier Uhr morgens kamen Autos der wichtigsten Fernsehsender mit Kameras und Beleuchtungsanlagen im Zentrum an.
Wenig später trafen mehrere Busse mit "Fans" von Dynamo Kiew am Hotel Ukraina ein. Es waren harte Kerle, die mit der Polizei, die das Zeltlager bewachte, aneinandergerieten. Ich möchte Sie daran erinnern, dass die Polizisten nicht einmal ihre Dienstwaffen dabei hatten. Die Menschen, die die Nacht auf dem Maidan verbracht hatten, rannten zu dem Lärm. Sie schlossen sich dem Kampf an und begannen, die Milizionäre mit brennenden Holzscheiten aus Lagerfeuern zu bewerfen.
Natürlich riefen unsere Ordnungshüter um Hilfe. Die Jungs von "Berkut" [damalige Spezialeinheit der ukrainischen Miliz; Anm. d. Red.] kamen. Sie traten zur Verteidigung ihrer Kollegen auf. Leider haben sie nicht auf die Kameras und Beleuchtungsgeräte geachtet, auf die Tatsache, dass eine Provokation vorbereitet wurde. Ich erinnere mich, dass die Aufnahmen, auf denen zu sehen war, wie ein polnischer Journalist zusammengeschlagen wurde, besonders schlecht aufgenommen wurden.
Jemand rief einen Krankenwagen, und es verbreitete sich das Gerücht, dass viele Studenten und "die-noch-Kinder" [Asarow spielt mit dieser Wendung darauf an, dass damals in der ukrainischen Öffentlichkeit davon die Rede war, dass es "noch Kinder" seien, die demonstrierten; Anm. d. Red.] zusammengeschlagen worden seien. Das war natürlich eine Lüge. Insgesamt wurden etwa 80 Personen ins Krankenhaus eingeliefert, darunter nur drei junge Menschen.
Alle anderen waren erwachsene Männer, die in Iwano-Frankowsk, Lwow und so weiter mit ihrem Wohnsitz gemeldet waren. Nichtsdestotrotz wurde die Angelegenheit publik gemacht, und bis zum Morgen hatten sich etwa zwanzig- oder dreißigtausend Menschen auf dem Platz versammelt.
Es begannen Aktionen nach dem "serbischen Szenario". Die Demonstranten stürmten das Gebäude der Präsidialverwaltung. Ein Bulldozer fuhr vor der Menge her. Er sollte die Absperrung durchbrechen. Unseren Leuten gelang es, ihn zu stoppen, aber die Demonstranten nahmen mehrere Straßensperren im Regierungsviertel in Beschlag. Das Stadtzentrum wurde blockiert.
Wsgljad: Hatten Sie das Gefühl, dass das Land hoffnungslos verloren war?
N. A.: Ich persönlich hatte nicht so ein Gefühl. In den Nullerjahren machte ich den Maidan durch, der als "Orangene Revolution" bezeichnet wurde. Und sie war nicht weniger intensiv als diese – dieselben militanten Gruppen, die aus der Westukraine geholt worden waren, dieselben Massen von verblendeten Menschen, dieselben Reden, dieselbe pausenlose Musik. Wir haben das alles schon einmal gesehen, wir haben es durchgemacht. Zu diesem Zeitpunkt [Herbst 2013; Anm. d. Red. ] hatte die Ukraine bereits günstige Abkommen mit Russland und China geschlossen. Daher galt 2014 aus finanzieller und wirtschaftlicher Sicht als ein sehr zuverlässiges Jahr.
Abgesehen von einigen Gebieten in der Westukraine war die Lage in allen größeren Regionen absolut normal: Die Menschen gingen zur Arbeit, die Kinder zur Schule. Nur hier, im Zentrum von Kiew, rumorte es, allerdings nicht die ganze Zeit. Der Platz [der Unabhängigkeitsplatz Anm. d. Red.] selbst war ein Drecksloch, an dem ständig Reifen herumlagen, es keine organisierten Toiletten gab und Obdachlose herumliefen.
Wer auf dem Maidan war, hatte nicht das Gefühl, dass dort irgendjemand irgendeine Art von Freiheit, Demokratie, Bewegung in Richtung Europa verteidigt.
Die Menge lauschte den Liedern und dem endlosen Geplapper der Anführer der Proteste. Und die Strafverfolgungsbehörden waren in einer Stimmung à la Gebt den Befehl – und es wird keinen Maidan mehr geben!
Wsgljad: Warum hat Präsident Janukowitsch diesen Befehl dann nicht gegeben?
N. A.: Er war der Meinung, dass ein Räumungsbefehl zu Blutvergießen führen würde, weil es auf dieser Seite ausgebildete Kämpfer gab, die sehr realen Bandera-Anhänger. Es hätte wahrscheinlich zu Blutvergießen kommen können, aber wenn es früher passiert wäre, hätte es nicht mehr als fünfzig Verletzte gegeben, die Demonstranten hätten sich einfach zerstreut.
Dennoch sagte Janukowitsch: Nein, das können wir nicht tun, wir müssen verhandeln und nach einem Kompromiss suchen. Und so begannen diese endlosen Verhandlungen. Aber alles, was vor sich ging, wurde von den Amerikanern gesteuert. So erinnerte sich unser ehemaliger Abgeordneter Oleg Zarjow kürzlich daran, dass es zu diesem Zeitpunkt eine Anfrage der US-Botschaft über die bevorstehende Ankunft von Diplomatenpost in der Ukraine gab. Sie schrieb: "Wir bitten um die Erlaubnis, zwei militärische Transportflugzeuge des Typs Lockheed C-130 Hercules landen zu dürfen."
Ich habe sofort zu Janukowitsch gesagt: "Hör' mal, was für eine Art von Diplomatenpost in zwei Hercules-Flugzeugen soll das sein? Das ist, gelinde gesagt, seltsam. Warum sollten wir das zulassen?" Schließlich wurden diese Hercules-Flugzeuge von einem Botschaftsfahrzeug mit einer US-Flagge empfangen. Offenbar kam der amerikanische Botschafter selbst zum Flughafen, begleitet von gepanzerten Geldtransportern. Da fragt es sich, um was für eine Art von Diplomatenpost es sich handelte?
Natürlich brachten die Amerikaner Geld und eine spezielle Ausrüstung mit, die es ihnen ermöglichte, alle unsere Gespräche sowie die Kommunikation der Geheimdienste abzuhören. Und sie begannen, diese Vorgänge zu steuern: Sie sammelten umfassende Informationen über unsere Aktivitäten und Pläne.
Unsere ganze Nachgiebigkeit war also unnötig, als wir mit all diesen Tjagniboks, Klitschkos und Jazenjuks verhandelten. Sie wurden als Führer des Maidan dargestellt, aber sie haben absolut nichts entschieden, sie waren "Marionetten".
Wsgljad: Wann wurde es klar, dass es notwendig war, wirklich ernstzunehmende Maßnahmen zu ergreifen?
N. A.: Am 21. Januar sagte ich auf einer Regierungssitzung, dass alle "roten Linien" überschritten worden seien und es an der Zeit sei, Maßnahmen zum Schutz der Verfassung zu ergreifen. Aber dann sagte Janukowitsch zu mir: "Du bringst die Verhandlungen zum Scheitern, die sich auf einen Kompromiss zubewegen." Und der Kompromiss bestand darin, dass die Regierung zurücktritt und ein Koalitionskabinett gebildet wird. Darauf hatte Victoria Nuland, die nach Kiew gekommen war, bestanden. Aber alles endete damit, dass alle Regierungsgebäude und -einrichtungen beschlagnahmt wurden und der Präsident gezwungen war, nach Charkow zu fliegen.
Wsgljad: Hätte die Ukraine nach dem Ende des Euromaidan die Situation entschärfen können und die Beziehungen zu Russland nicht auf das derzeitige Niveau eskalieren müssen? Oder war dies ein Wendepunkt, ab dem es kein Zurück mehr gab?
N. A.: Alles hätte geregelt werden können. Weißrussland, angeführt von Lukaschenko, hat dies im Jahr 2020 deutlich gezeigt, als man bei ihnen genau solch einen Staatsstreich vorbereitete. Vielleicht gab es nicht so viele Militante, aber sie traten in unserem Land aufgrund der Schwäche unserer Strafverfolgungsbehörden auf. Lukaschenko hat gezeigt, wie man mit einer "orangenen Revolution" umgeht. Es sollte klar sein, dass ...
... der Putsch in der Ukraine das Ziel hatte, das Land zu einem Anti-Russland zu machen, um es in einen Krieg mit Russland zu ziehen.
Die erste Entscheidung der illegalen Junta bestand darin, allen Maidan-Teilnehmern Amnestie für alle Artikel des Strafgesetzbuchs zu gewähren, einschließlich Vergewaltigung und Raub. Der Staatsanwaltschaft wurde untersagt, Strafverfahren einzuleiten. Dies zeigte der ganzen Welt, welche Art von Demokratie in der Ukraine Einzug gehalten hatte.
Gleichzeitig wurde das Recht, Russisch zu sprechen und es als zweite Staatssprache zu verwenden, für die südöstlichen Regionen aufgehoben. Warum hat die Krim sofort rebelliert? Warum hat der Donbass rebelliert? Es wurde ihnen klar, dass eine Pro-Bandera-Junta an die Macht gekommen war, und Parubij wurde der Vorsitzende der Rada.
Die Amerikaner verstanden sehr gut, dass es notwendig war, einen blutigen Staatsstreich zu organisieren, die Staatsführung der Grausamkeit zu beschuldigen, die Beamten zu töten, Repressionen entlang der gesamten Machtvertikalen durchzuführen und eine Junta an die Spitze zu setzen. Sehen Sie sich doch an, wie grausam die "Partei der Regionen" zerstört wurde. Zwei Tage vor dem Putsch wurde das Hauptquartier der Partei im Zentrum von Kiew niedergebrannt. Nach dem Putsch wurden im ganzen Land alle Regional- und Bezirksverbände zerschlagen. Aktivisten wurden vernichtet, inhaftiert und aus dem Lande vertrieben.
Die Kommunisten, die Sozialisten und alle linken Bewegungen wurden ebenfalls zerschlagen. Es blieben nur Quasi-Oppositionelle übrig, die zur Legitimierung des neuen Regimes benötigt wurden. Bereits 2014 war es das Ziel, alle Kräfte, die eine Zusammenarbeit mit Russland anstrebten, vollständig zu vernichten. Auf die Krim wurden sie nicht gelassen, aber die Armee wurde in den Donbass geschickt, und in unmittelbarer Nähe zur Russischen Föderation wurde ein Spannungsherd geschaffen. Und Moskau konnte nicht anders, als darauf zu reagieren. Russland hat die Vertreter der Ukraine viele Male davor gewarnt, wie sich das alles entwickeln wird. Aber alles vergeblich.
Wsgljad: Was in der Ukraine geschah, wurde von den neuen Machthabern damals als "Revolution der Würde" [von den Fragestellern auf ukrainisch zitiert; Anm. d. Red. ] bezeichnet. Gibt es Ihrer Meinung nach überhaupt irgendeiner Würde in dem staatlichen Gebilde, das sich jetzt in der Ukraine befindet?
N. A.: Welche Würde kann es in einem Land geben, in dem mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Armut lebt? Übrigens erwähnt heute niemand mehr die Slogans vom Maidan. Aber damals riefen sie, dass "wir morgen in der Europäischen Union sein werden." Zehn Jahre sind vergangen – und kein EU-Beitritt steht für die Ukraine in Aussicht. Vielleicht steht die EU für diejenigen in Aussicht, die jetzt die Ukraine verlassen haben, sowie für die große Zahl von Menschen, die dieser "Würde" [Asarow verwendet das ukrainische Wort für 'Würde' statt des russischen; Anm. d. Red.] so schnell wie möglich nach dem Maidan entkommen sind. Ich möchte Sie daran erinnern, dass die Ukraine mehr als die Hälfte ihrer Bevölkerung verloren hat. Von welcher Würde können wir in diesem Fall sprechen?
Biden hat kürzlich erklärt, dass die Vereinigten Staaten Freiheit, Demokratie und Souveränität in der Ukraine verteidigen. Das ist eine dreiste Lüge! Die orthodoxe Kirche wird dort zerschlagen, Kirchenoberhäupter werden inhaftiert und Andersdenkende werden verhöhnt und getötet. Ist das etwa die Freiheit?
Übrigens nehmen die Kopenhagener Kriterien für den EU-Beitritt einen großen Teil des EU-Assoziierungsabkommens ein. Sie beschreiben bestimmte Verpflichtungen der Ukraine, darunter vor allem die Schaffung einer unabhängigen Justiz. Wo ist diese unabhängige Justiz, wenn beispielsweise der Metropolit wegen seiner Predigten mit einer idiotischen Anklage wegen Vaterlandsverrats konfrontiert ist?
Darüber hinaus wurden alle oppositionellen politischen Parteien, Kanäle und Massenmedien in der Ukraine verboten und liquidiert. Und Selenskij entzieht ukrainischen Politikern die Staatsbürgerschaft, verhängt Sanktionen gegen sie, nimmt ihnen ihr Eigentum weg und sperrt ihre Konten. Niemand hat ihm in der Verfassung ein solches Recht gegeben. Sie pfeifen auf die Verfassung – sie machen, was sie wollen.
Das Interview mit Nikolai Asarow führten Jewgeni Posdnjakow, Rafael Fachrutdinow und Anastassija Kulikowa.
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei Wsgljad am 21. November 2023.
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