Deutscher Diplomat: Friedensschluss in Istanbul wäre Niederlage der NATO gewesen

Man redet im Westen ungern darüber, aber ohne dessen Einmischung wäre die militärische Sonderoperation Russlands bereits im April letzten Jahres durch einen Friedensvertrag beendet worden. Ein General, ein Politologe und ein Diplomat aus Deutschland sammelten nun die Details.

Was ist Ende März/Anfang April vergangenen Jahres wirklich geschehen, als die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland in Istanbul scheiterten? Michael von der Schulenburg, langjähriger hochrangiger Mitarbeiter bei den Vereinten Nationen, Hajo Funke, ein emeritierter Professor für Politikwissenschaften, und General a. D. Harald Kujat haben auf dem Blog Brave New Europe alle inzwischen vorliegenden Erkenntnisse noch einmal zusammengefasst.

Allein die Tatsache, dass derartige Texte inzwischen auf Blogs erscheinen und nicht zu Titelgeschichten etwa des Spiegel oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung werden, ist dramatisch genug. Aber die Belege, die zum großen Teil bereits einzeln in den vergangenen Monaten bekannt geworden waren (wie die Aussagen des ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett), zusammen mit dem vollen Text der vorläufigen Übereinkunft zu dem Zeitpunkt, als diese Verhandlungen abgebrochen wurden, entfalten noch eine neue Wucht. Wie schreibt es von Schulenburg in seinem Resümee?

"Die Blockierung der damaligen Friedensverhandlungen hat uns allen geschadet: Russland und auch Europa – aber vor allem den Menschen in der Ukraine, die mit ihrem Blut für die Ambitionen der Großmächte zahlen und wohl letztlich nichts dafür zurückbekommen werden."

Die Verhandlungen hatten mit einem Flug Bennetts nach Moskau begonnen, am 5. März 2022, also nicht einmal zwei Wochen nach Beginn der russischen Militäroperation. Bennetts Reise war auf Bitten des ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij erfolgt, der damals nicht nur ihn, sondern auch den deutschen Altbundeskanzler Gerhard Schröder um Vermittlung gebeten hatte. Das Ergebnis dieser Vermittlungsversuche war die Aufnahme formeller Verhandlungen in Istanbul, von ukrainischer Seite unter anderem vom damaligen Sicherheitsberater Rustem Umjerow, der mittlerweile ukrainischer Verteidigungsminister ist.

Am 29. März war aus diesen Verhandlungen ein Kommuniqué entstanden, das bereits recht präzise Bestimmungen enthalten hatte. Die Ukraine würde Neutralität wahren und auf einen Beitritt zur NATO verzichten, aber eine Mitgliedschaft in der EU bliebe weiterhin möglich. Die geplanten Garantiestaaten würden mit dem Recht versehen, der Ukraine im Falle eines Angriffs in jeder Form beizustehen, bis der UN-Sicherheitsrat reagieren könne.

"Diese Hilfe wird durch die sofortige Durchführung der erforderlichen individuellen oder gemeinsamen Maßnahmen erleichtert, einschließlich der Schließung des ukrainischen Luftraums, der Bereitstellung der erforderlichen Waffen und der Anwendung bewaffneter Gewalt mit dem Ziel, die Sicherheit der Ukraine als dauerhaft neutraler Staat wiederherzustellen und dann zu erhalten." (Zitat aus dem Kommuniqué)

Der Vertrag sollte durch ein Referendum beschlossen werden und über eine entsprechende Veränderung der ukrainischen Verfassung und die Ratifizierung durch die Ukraine und die Garantiestaaten in Kraft treten. Der Status der Krim sollte im Zeitraum der folgenden 15 Jahre in bilateralen Verhandlungen geklärt werden.

Anfang März hatten die Verhandlungen noch die Unterstützung der meisten westlichen Politiker gefunden; die Autoren führen dazu eine ganze Reihe von Telefonaten an. Der Wendepunkt in Bezug auf die laufenden Verhandlungen war wohl der NATO-Sondergipfel am 24. März 2022 in Brüssel, zu dem US-Präsident Joe Biden angereist war. Auf diesem Gipfel wurde beschlossen, die Verhandlungen nicht zu unterstützen.

Von der Schulenburg bestätigt aber, dass von ukrainischer Seite die Verhandlungen dennoch fortgesetzt wurden; er nennt diese Verhandlungen sogar eine "historisch einmalige Besonderheit, die nur dadurch möglich war, weil sich Russen und Ukrainer gut kennen und 'die gleiche Sprache sprechen'". Am 28. März erfolgte der Rückzug russischer Truppen aus dem Raum Charkow und dem Raum Kiew.

Am 5. April meldete die Washington Post, die NATO befürworte eine Fortsetzung des Krieges. Selenskij solle "so lange weiterkämpfen, bis Russland vollständig besiegt ist".

Erst am 9. April erfolgte dann tatsächlich der Abbruch der Verhandlungen durch einen unangemeldeten Besuch des britischen Premierministers Boris Johnson in Kiew. Die Neue Zürcher Zeitung bemerkte dazu noch am 12. April, das sei wohl der erste Tory-Wahlkampf, "der an den Grenzen Russlands ausgetragen wird. (…) Dass dieser Konflikt von Großbritannien für einen schäbigen bevorstehenden Führungswettstreit missbraucht wird, ist widerwärtig."

Am 25. April erklärte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, man wolle die Gelegenheit nutzen, um Russland auf Dauer zu schwächen. Einen Tag später gab er bei einem Treffen der NATO-Verteidigungsminister in Ramstein "den militärischen Sieg der Ukraine als strategisches Ziel vor".

In der westlichen Presse waren die Umstände, wie die Istanbuler Verhandlungen abgebrochen wurden, kein Thema, das weiter verfolgt wurde. Erst im Sommer dieses Jahres wurde anlässlich eines Besuchs afrikanischer Delegationen im Kreml bekannt, wie weit diese Verhandlungen tatsächlich fortgeschritten waren.

In diesem Zusammenhang ist die Biografie der drei Autoren bedeutend. Denn man kann davon ausgehen, dass sie aus persönlicher Erfahrung imstande sind, zu bewerten, ob ein Verhandlungsergebnis solide und tragfähig ist oder nicht. Dass sie es für erforderlich hielten, die Ergebnisse selbst auf diese Weise zu veröffentlichen, stützt ein weiteres Mal ihre Einschätzung, dass diese Verhandlungen tatsächlich die Kampfhandlungen beendet hätten, wäre es nicht zu jenem britisch-US-amerikanischen Eingreifen gekommen. Dazu von der Schulenburg:

"Ein derartiger Friedensschluss wäre einer Niederlage der NATO, einem Ende der NATO-Osterweiterung und damit einem Ende vom Traum einer von den USA dominierten Welt gleichgekommen."

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