Von Wassili Kaschin
Das erklärte Ziel der lange erwarteten ukrainischen Gegenoffensive vom vergangenen Sommer bestand darin, Russland durch das Durchschneiden des Landkorridors zur Krim eine große strategische Niederlage zuzufügen. Aber kaum jemand im militärischen und politischen Establishment des Westens mit wirklichem Fachwissen hat geglaubt, dass Kiew in der Lage sein würde, ein solches Ergebnis zu erzielen. Es wäre seltsam gewesen, etwas anderes zu erwarten: Während des gesamten Krieges ist es den Ukrainern nie gelungen, die befestigten Verteidigungsanlagen der russischen Truppen zu durchbrechen.
Die ukrainische Charkow-Offensive im September 2022 wurde gegen eine äußerst begrenzte und überdehnte russische Streitmacht ohne ernsthafte Verteidigungsanlagen durchgeführt. Der Vorstoß im Gebiet Cherson vom August bis November 2022 wurde ebenfalls gegen erschöpfte und überdehnte russische Verteidiger durchgeführt, führte jedoch nur zu begrenzten Erfolgen mit schweren Verlusten auf ukrainischer Seite. Die drohende Zerstörung der Dnjepr-Übergänge zwang schließlich die Russen zum Rückzug auf das linke Ufer.
Angesichts dessen erschien es seltsam, von den Ukrainern unter den neuen Bedingungen, die im Sommer dieses Jahres vorherrschten, einen Erfolg zu erwarten: Das zahlenmäßige Kräfteverhältnis hatte sich zugunsten Moskaus verschoben, die russische Verteidigungslinie war gut ausgebaut und befestigt und auch die Mobilisierung der heimischen Industrie zeigte erste Ergebnisse.
Das eigentliche Ziel der Offensive bestand also nicht darin, die russischen Streitkräfte zu besiegen und sich Zugang zum Asowschen Meer zu verschaffen, sondern vielmehr darin, Moskau zu Verhandlungen zu für den Westen günstigen Bedingungen zu zwingen. Dazu musste erstens bewiesen werden, dass Kiew die strategische Initiative hat, dass man zweitens der russischen Armee schwere Verluste zufügen konnte, was wiederum die innenpolitische Lage in Russland destabilisiert hätte und drittens, einige Fortschritte zu erzielen, um eine Art Sieg erringen zu können.
Krise der ukrainischen Strategie
Die ukrainische Offensive verfolgte in erster Linie politische Ziele. Das Hauptkriterium für ihren Erfolg bestand darin, die Stimmung in der russischen Gesellschaft und die Wahrnehmung der Lage durch die russische Führung zu verändern. Ein solches Vorgehen war während des gesamten bisherigen Konflikts charakteristisch für Kiew. Ein Großteil der Bemühungen der Ukraine – und vielleicht auch die meisten ihrer Verluste – entfielen auf Operationen, die darauf abzielten, eine starke Medienwirkung zu erzielen.
Die hartnäckige Verteidigung von Städten, die zu "Festungen" erklärt wurden, unter ungünstigen Bedingungen, riskante Streifzüge speziell ausgebildeter subversiver Einheiten in "altes" russisches Territorium mit auf TikTok publizierten Videos und Angriffe auf symbolische Gebäude in russischen Städten – der Kreml und die Wolkenkratzer in Moskau City – sind typische Beispiele für solche Aktionen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Strategie auf westlichen Vorstellungen über die öffentliche Meinung zum Krieg basiert, die während amerikanischer und europäischer Auslandskampagnen wie der illegalen Irak-Invasion entstanden sind.
Um eine filmische Metapher zu verwenden: Die Ukraine versuchte wie in einem alten Actionfilm aus Hongkong die Rolle eines Kung-Fu-Meisters zu spielen, der einen stärkeren und größeren Gegner ausschalten will, indem er mit dem Finger auf bestimmte Schmerzpunkte drückt. Leider hat er nur geringe Anatomiekenntnisse, weshalb er auch immer jene Stellen beim Gegner trifft, an denen es nur sehr wenige empfindliche Nervenenden gibt.
Die Haltung der russischen Gesellschaft gegenüber dem Konflikt ist so, dass sie sich erst nach mehreren vernichtenden Fiaskos auf dem Schlachtfeld – Umzingelung und Niederlage großer Truppenteile – bereit erklärt hätte, eine Niederlage einzugestehen und sich zurückzuziehen. Kleinere Misserfolge treiben Russland nur dazu an, immer mehr seiner Ressourcen für den Sieg einzusetzen. Und diese sind um ein Vielfaches größer als das, was die Ukraine aufbringen kann, selbst mit aller Hilfe, die der Westen sich leisten kann.
Westliche Visionen vom Ende des Konflikts
Das Scheitern der Gegenoffensive zeigte also, dass die Strategie, den Konflikt für den Westen zu akzeptablen Bedingungen zu beenden, in eine Sackgasse geraten ist. Was waren das für Bedingungen?
Eine Rückkehr zu den Grenzen von 1991 oder gar zu jenen vom 23. Februar 2022 wurde in Moskau nie ernsthaft in Betracht gezogen. Neue Gebiete zu annektieren, war nicht das ursprüngliche Hauptmotiv für Moskau, seine militärische Operation zu starten. Die territoriale Integrität der Ukraine hatte für die USA und ihre Verbündeten hingegen keine Priorität. Die Ursache des Konflikts war ein Disput über die Rolle der Ukraine im regionalen Sicherheitssystem. Russland versucht, die potenzielle Bedrohung durch das Land zu beseitigen, indem man es zwingt, den Neutralitätsstatus anzunehmen und Einschränkungen für seine Verteidigungsindustrie und seine Streitkräfte zuzustimmen.
Für die USA ist es jedoch wichtig, die Ukraine als potenziellen militärischen Brückenkopf zu erhalten. Daher ist ein Ergebnis, bei dem Kiew einen wesentlichen Teil seines Territoriums verliert, aber ein amerikanischer Außenposten bleibt, mit anschließender Aufrüstung und US-Militärstützpunkten, für Washington akzeptabel. Mit anderen Worten: Für die USA spielt es keine Rolle, wie viel Land die Ukraine verliert, solange sie wirtschaftlich lebensfähig bleibt und ihre wichtigsten politischen Zentren kontrolliert.
Wenn die USA den Konflikt zu solchen Bedingungen in naher Zukunft beenden würden, könnten sie die Ausgaben für die militärische Unterstützung Kiews vorübergehend reduzieren und den Konflikt "einfrieren". Dies würde es Washington ermöglichen, seine Aufmerksamkeit auf Krisen in anderen Teilen der Welt zu richten und sich vor allem auf die Eindämmung Chinas zu konzentrieren.
Wenn die Ukraine künftig in das System westlicher Institutionen eingebunden ist und unter der Herrschaft eines russophoben nationalistischen Regimes steht, könnte Washington das Land jederzeit wieder als militärisches Instrument nutzen, um Russland abzuschrecken oder strategisch zu attackieren.
Was will Russland?
Für Moskau bedeutet ein solcher Ausgang eine hohe Wahrscheinlichkeit eines neuen, viel zerstörerischeren Krieges, vielleicht in nicht allzu ferner Zukunft. Das ist natürlich nicht vorherbestimmt. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass der Konflikt für Washington zu akzeptablen Bedingungen endet, könnte vieles schiefgehen. Beispielsweise könnten die USA in Konflikten im Nahen Osten mit dem Iran und seinen Verbündeten, sowie im Fernen Osten mit China und Nordkorea stecken bleiben. Wenn es den USA in diesen Regionen der Welt schlecht ergeht, werden sie nie wieder zum Projekt des Wiederaufbaus und der Remilitarisierung der Ukraine zurückkehren können.
Das Problem besteht jedoch darin, dass es sich lediglich um Wahrscheinlichkeiten handelt, die von vielen Faktoren abhängen, über die Moskau kaum oder gar keine Kontrolle hat. Die russische Planung muss vom Worst-Case-Szenario ausgehen – einer raschen Remilitarisierung der Ukraine. Folglich kann aus der Sicht des Kreml die Militäroperation nicht enden, solange diese Bedrohung nicht beseitigt ist.
Im März 2022 hätte Russland beinahe einem Frieden zugestimmt, zu der Bedingung, sich kein neues Territorium in die Russische Föderation einzuverleiben, dafür aber Garantien für die Entmilitarisierung und Neutralität der Ukraine zu erhalten. Und dieses Abkommen wurde, wie wir jetzt sicher wissen, durch die direkte Intervention der USA und Großbritanniens vereitelt.
Seitdem hat sich die Situation geändert. Moskau steht vor der Aufgabe, die Außengrenzen seiner vier neuen Teilgebiete zu erreichen. Die russische Verfassung macht territoriale Kompromisse unmöglich. Die hohe Gefahr von Provokationen, Sabotage und terroristischen Aktivitäten seitens der Rumpfukraine könnte es erforderlich machen, weiter liegende Grenzen zu erreichen. In jedem Fall wird die Territorialfrage auf dem Schlachtfeld geklärt. Die tatsächliche Grenze wird wahrscheinlich entlang der Kontaktlinie zum Zeitpunkt eines Waffenstillstands verlaufen.
Das Kräfteverhältnis
Unterdessen verschlechtert sich die strategische Position Kiews. Erschöpfungserscheinungen werden immer deutlicher. Ein Beispiel dafür ist ein Anfang September veröffentlichter Erlass des ukrainischen Verteidigungsministeriums, der es Menschen mit Virushepatitis, asymptomatischem HIV, leichten psychischen Störungen, Erkrankungen des Blut- und Kreislaufsystems und einer Reihe anderer Krankheiten ermöglicht, für den Militärdienst als geeignet erklärt zu werden. Es wurden weitere Maßnahmen ergriffen, um die Zahl der mobilisierungspflichtigen Personen zu erhöhen: Studenten zweiten und dritten Grades, Studierende im Studienurlaub, Ärztinnen, Behinderte und so weiter. Bisher ausgestellte Behindertenausweise werden überprüft, und die Militärkommissionen werden überprüft. Extreme Mobilisierungspraktiken – Razzien, Zwangsrekrutierungen und Prügel für nicht Rekrutierungswillige – sind weitverbreitet.
Offensichtlich sind die unwiederbringlichen Verluste im Vergleich zu den Mobilisierungsressourcen, die Kiew zur Verfügung stehen, erheblich. Gleichzeitig ist der Anstieg der Opferzahlen an der Front derzeit so hoch, dass die Ukraine dies nicht lange wird durchhalten können. Vielleicht erreicht sie die Talsohle ihrer Stärke nicht erst in Jahren, sondern bereits in wenigen Monaten.
Natürlich ließe sich der Kreis der Personen, die mobilisiert werden können, noch mehr erweitern. Schließlich gelang es Paraguay während des Großen Paraguayischen Krieges von 1864 bis 1870, bis zu 90 Prozent seiner männlichen Bevölkerung zu rekrutieren. Als diese verloren gingen, wurden gegen Ende des Konflikts Frauen und Kinder in die Schlacht geschickt.
Aber die Fähigkeit des ukrainischen Staates, die Gesellschaft zu kontrollieren, ist begrenzter. Es kommt zu massiver Korruption bei der Umgehung des Militärdienstes. Darüber hinaus führt die ständige Ergänzung der Liste der mobilisierungspflichtigen Bürgerkategorien zu einer Verschlechterung der Qualität der Wehrpflichtigen und folglich zu einem weiteren Anstieg der Opferzahlen auf dem Schlachtfeld. Wenn man immer weniger gesunde und ausgebildete Rekruten zur Armee schickt, kann man sich mit großen Opfern eine kleine Gnadenfrist vor einer sich abzeichnenden Niederlage erkaufen.
Westliche Politiker und Experten wiederholen jetzt wie ein Mantra: Sowohl die Ukraine als auch Russland sind nicht in der Lage, großangelegte Offensivoperationen durchzuführen. Der erste Teil dieser These wurde durch das Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive bestätigt. Es gibt jedoch keine Grundlage für die Schlussfolgerung, dass Russland nicht in der Lage sei, auf dem Schlachtfeld einen Durchbruch zu erzielen. Was die Zahl der Soldaten und deren Bewaffnung betrifft, gewinnt die russische Armee im Vergleich zum Feind weiter an Stärke.
Seit dem Frühjahr haben die russischen Streitkräfte damit begonnen, große Mengen an Waffen zu erwerben, die zuvor entweder völlig fehlten – zum Beispiel universelle Planungs- und Korrekturmodule für Bomben – oder zuvor in geringen Mengen eingesetzt wurden, wie Munition für Artillerie-Barragen oder FPV-Drohnen. In einigen bisher problematischen Bereichen, wie beim Einsatz von Drohnen zur Aufklärung, hat Russland zur Ukraine aufgeschlossen, oder sie sogar überholt. Eine wichtige Errungenschaft war, wie aus kürzlich veröffentlichten Dokumenten hervorgeht, der Übergang Russlands zum Einsatz neuartiger Munition, die in der Lage ist, ein Ziel mithilfe künstlicher Intelligenz und Technologien zur Mustererkennung autonom anzugreifen.
Schließlich haben der Konflikt im Nahen Osten, der vergangenen Monat ausbrach, und die wachsende Gefahr einer großen militärischen und politischen Krise um Taiwan, bereits zu einer Umverteilung der militärischen Ressourcen der USA und einer Kürzung der Hilfe für die Ukraine geführt.
Die Fähigkeit, eine Großoffensive zu starten, hängt weitgehend davon ab, dass das russische Militär neue Taktiken entwickelt, um das aktuelle Festsitzen im Stellungskrieg zu überwinden. Wenn solche Taktiken gefunden werden, könnte sich die Dynamik des Konflikts dramatisch ändern.
Eine gefährliche Phase
Die Verschlechterung der Lage in der Ukraine hat im Westen die Diskussion über Möglichkeiten zur Lösung des Konflikts intensiviert. Dies könnte durch Verhandlungen geschehen. Sie werden jedoch durch die permanente innenpolitische Krise in den USA, den internen Kampf in der aktuellen US-Regierung und die Angst vor einer Schwächung der westlichen Einheit behindert.
Die Frage der künftigen Rolle der Ukraine im europäischen Sicherheitssystem, die für die Beendigung des Konflikts von entscheidender Bedeutung ist, löst sich im Verlauf des Konflikts teilweise. Die Infrastruktur des Landes wurde und wird zerstört. Die Bombardierung von Energieanlagen im Herbst und Winter 2022/2023 führte nicht nur deshalb zum Zusammenbruch des Energiesystems, sondern auch, weil der Rückgang des Stromverbrauchs, insbesondere in der Industrie, so enorm war, dass es zu Schäden an Erzeugungskapazitäten und Netzen kam, die jene Schäden überstiegen, die durch russische Raketen verursacht wurden.
Das demografische Potenzial der Ukraine schrumpft weiter. Ukrainische Auswanderer leben in Westeuropa. Dort finden sie Arbeit, ihre Kinder besuchen die örtlichen Schulen, wodurch die Wahrscheinlichkeit, dass sie in die Ukraine zurückkehren, abnimmt. Das Ende des Konflikts und die Öffnung der Grenzen führen möglicherweise nicht zu einer massenhaften Rückkehr von ukrainischen Flüchtlingen, sondern zu einer Abwanderung der noch immer in der Ukraine festsitzenden männlichen Bevölkerung.
Die anhaltenden Feindseligkeiten wirken sich auch auf das Geschäftsklima aus. Die Ukraine bleibt ein unglaublich korruptes Land. Gleichzeitig findet unter dem Deckmantel des Konflikts und der außergewöhnlichen Befugnisse der Armee und der Geheimdienste eine massive und gewaltsame Umverteilung des Eigentums statt. Dies sind eindeutig nicht die Voraussetzungen für eine wirtschaftliche Erholung nach dem Krieg. Infolgedessen könnte der Wiederaufbau der Ukraine schwieriger und zeitaufwendiger werden als bisher angenommen. Da diese Faktoren jedoch schwer vorherzusagen sind, wird Russland nach Garantien suchen, dass es nicht zu einer vollständigen Remilitarisierung des Landes kommt.
Über dieses Thema zu sprechen, wird für Washington und seine Partner schmerzhaft sein. Sie wollen die Ukraine wahrscheinlich nicht in der NATO sehen, aber ein solches Bekenntnis gegenüber Moskau ist für sie inakzeptabel. Darüber hinaus ist das Vertrauen zwischen Russland und den USA schwer belastet. Möglicherweise verdächtigen die Parteien einander mangelnde Verhandlungsbereitschaft und die Absicht, lediglich Informationen über den Dialog durchsickern zu lassen, um eine schnelle politische Wirkung zu erzielen.
Damit tritt der Konflikt in eine gefährliche Phase. Der Gegner erkennt, dass sich seine Situation verschlechtert und versucht möglicherweise, die Sackgasse durch eine scharfe Eskalation zu überwinden. Wir sehen bereits immer mehr Angriffsversuche auf russisches Territorium innerhalb der Grenzen vom Februar 2022. In diesem Zusammenhang ist auch der Transfer neuer Raketensysteme in die Ukraine zu sehen.
Die subversiven und terroristischen Aktivitäten nehmen einen gefährlichen Charakter an. Der jüngste erfolglose Versuch des ukrainischen Geheimdienstes, eine Massenvergiftung von Absolventen und Lehrern der Luftfahrschule im russischen Armawir zu organisieren, ist ein Zeichen dafür, dass die ukrainischen Geheimdienste sich auf die Organisation massiver Terroranschläge zubewegen, wie es während der Zeit der Kriege im Nordkaukasus üblich war.
Eine drastische Veränderung des Kräfteverhältnisses auf dem Schlachtfeld zugunsten Russlands könnte auch dazu führen, dass einige NATO-Staaten Truppen auf ukrainisches Territorium entsenden, was Russland und die USA an den Rand einer Nuklearkrise bringen könnte. Sowohl für Moskau als auch für Washington steht zu viel auf dem Spiel, sodass sich dies als beispiellos gefährlich erweisen würde.
Eine solche Krise kann nur vermieden werden, wenn die Hauptkonfliktparteien einen Dialog beginnen, der die objektiv vorherrschenden Verhältnisse berücksichtigt.
Aus dem Englischen.
Wassili Kaschin ist Doktor der Politikwissenschaften, Direktor des Zentrums für umfassende europäische und internationale Studien.
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