Von Iwan Timofejew
Die jüngste Entwicklung im palästinensisch-israelischen Konflikt ist ein Hinweis auf das wachsende Ungleichgewicht im bestehenden System der internationalen Beziehungen. Dieses ist gekennzeichnet durch das Ausbrechen neuer bewaffneter Konflikte, das Wiederaufflammen langjähriger Konfrontationen, durch erhebliche menschliche Verluste und die Gefahr weiterer Eskalationen. Während die USA die internationale Führung und die Rolle des Garanten der bestehenden internationalen Ordnung für sich beanspruchen, ist es Washington erneut nicht gelungen, die Entstehung eines weiteren Krisenherdes zu verhindern.
Noch immer besteht die Möglichkeit, dass diese neue Krise im Nahen Osten eingedämmt werden kann und nicht zu einem bewaffneten Konflikt zwischen wichtigen regionalen Akteuren eskaliert. Aber allein die Tatsache, dass sich ein solcher Zustand abzeichnen könnte, deutet darauf hin, dass das Gefüge der globalen Ordnung, die einst von Moskau und Washington beherrscht wurde, immer deutlicher auseinanderfällt, was die Bewältigung größerer Krisen immer schwieriger macht.
Die Ereignisse im Nahen Osten haben die Feindseligkeiten in der Ukraine in den Hintergrund der Medienaufmerksamkeit gerückt. Mittlerweile rechtfertigt selbst die Situation in der Ukraine kaum noch den Fortbestand des alten Status quo. Anders wäre es, wenn Russland wieder in den Status einer besiegten Macht zurückgekehrt wäre und Kiew und seine westlichen Unterstützer endlich die Folgen des Zusammenbruchs der Sowjetunion hätten konsolidieren können.
Doch die Fakten sprechen eine andere Sprache. Die aufsehenerregende und kostspielige Gegenoffensive der ukrainischen Armee hat ihre Ziele nicht erreicht. Das russische Militär baut langsam, aber unweigerlich Druck an der Front auf. Die Wirtschaftssanktionen haben nicht zum Zusammenbruch der Wirtschaft Russlands geführt. Trotz schwerer anfänglicher Schäden passte man sich schnell an die neuen Bedingungen an. Auch Versuche, Moskau politisch zu isolieren, blieben erfolglos. Für die westlichen Partner von Kiew wird der anhaltende Konflikt immer kostspieliger. Der Preis, der dafür zu bezahlen sein wird, könnte rasant in die Höhe schnellen, nachdem die aus der Sowjetunion stammende Ausrüstung der ukrainischen Streitkräfte weitgehend vernichtet wurde. Der Bedarf an Nachschub wird zunehmen. Angesichts militärischer Verluste, eines demographischen Versagens und anhaltender innenpolitischer Probleme, einschließlich jenes der grassierenden Korruption, benötigt die ukrainische Wirtschaft zudem auch gewaltige externe Finanzspritzen.
Wäre der Ukraine-Konflikt die einzige Herausforderung, die die USA zur Beibehaltung ihrer Kontrolle in einer postbipolaren Weltordnung zu bewältigen hätten, gäbe es möglicherweise weniger Risiken. Die westlichen Verbündeten könnten zwar alle ihre Kräfte sammeln und sich auf die Bekämpfung Russlands konzentrieren. Aber ihre geopolitische Verzettelung verkompliziert die Sache erheblich. Es müssten nicht nur Ressourcen eingesetzt werden, um "China einzudämmen", sondern auch, um Brände dort zu löschen, wo sie nie hätten entstehen dürfen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird Washington in der Lage sein, Israel erhebliche militärische und diplomatische Unterstützung zukommen zu lassen und so den Ausbruch eines größeren regionalen Konflikts zu verhindern. Denn ein Flächenbrand im Nahen Osten würde nach einer Konzentration materieller und finanzieller Ressourcen verlangen, was selbst für eine Weltmacht wie die USA schwer zu stemmen wäre. Dies gilt umso mehr, als es zahlreiche andere ungelöste Probleme gibt.
Die jahrelangen Bemühungen, die militärische Aufrüstung Nordkoreas zu verhindern, sind gescheitert. Pjöngjang verfügt nun sowohl über Atomwaffen als auch über die Trägersysteme, um diese auf Ziele abzufeuern. Die Krise in den amerikanisch-russischen Beziehungen bot Nordkorea neue Chancen. Jedoch würde eine mögliche Intensivierung der Zusammenarbeit Nordkoreas mit Russland den Zielen der USA zuwiderlaufen. Diesbezüglich war Moskau für Washington früher ein weitaus geringeres Problem.
Ähnlich verhält es sich mit Iran. Der Rückzug der USA aus dem sogenannten Nuklearabkommen im Jahr 2018 führte nicht dazu, dass Iran seine Positionen zu seinem Raketenprogramm und seiner Politik im Nahen Osten änderte. Stattdessen wurden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Teheran zu seiner nuklearen Entwicklung zurückkehren konnte. Sowohl im Fall von Nordkorea als auch im Fall von Iran ist somit ein militärisches Vorgehen kaum optimal.
Weitere Schwelbrände bleiben bestehen. Afghanistan ist weitgehend in Vergessenheit geraten, doch die Kräfte, die den USA und dem Westen feindlich gesinnt sind, erstarken dort. In Syrien bleibt die Regierung von Präsident Baschar al-Assad trotz der Sanktionen und der Versuche, das Land zu isolieren, an der Macht. In Afrika verlieren die europäischen Verbündeten der USA an Einfluss. Terroristen, Drogenhändler und transnationale kriminelle Netzwerke haben sich nicht in Luft aufgelöst. Es ist zwar gelungen, sie in enger Abstimmung mit anderen großen Akteuren zu bekämpfen und auf der Grundlage des UN-Sicherheitsrates das Vorgehen gegen sie abzustimmen. Aber das frühere Maß an Vertrauen unter den wichtigen Staaten wurde untergraben. Und unter den gegenwärtigen Bedingungen des "hybriden Krieges" mit Russland und den zunehmenden Widersprüchlichkeiten gegenüber China wird es schwieriger, diese Probleme effektiv zu bewältigen.
Gleichzeitig scheint der Ukraine-Konflikt der Schlüssel zur postbipolaren Weltordnung zu sein. Der Beginn der russischen Offensive im Februar 2022 verschaffte den USA unmittelbar mehrere taktische Vorteile. Washington verfügt über einen mächtigen Einflusshebel auf seine Verbündeten in Europa. Der NATO wurde neues Leben eingehaucht und der Prozess der Erweiterung der Allianz ist im Gange. Der anhaltende Widerstand der großen westeuropäischen Länder gegen die wiederholten Forderungen der USA, ihre Verteidigungsausgaben zu erhöhen, wurde gebrochen. Daher wird die Militarisierung Europas rasant voranschreiten. Aber die europäischen Länder müssen dafür selbst aufkommen und wertvolle Ressourcen von zivilen Prioritäten abziehen. Die Bedingungen sind reif dafür, dass die USA zumindest einen Teil des europäischen Energiemarktes übernehmen werden. Wovon der frühere US-Präsident Donald Trump nur träumen konnte, wurde fast über Nacht zur Realität.
Ein weiterer entscheidender taktischer Erfolg der USA war die vollständige Übernahme der Kontrolle über Kiew. Die USA bestimmen weitgehend die Fähigkeit der Ukraine, militärische Operationen durchzuführen und ihre Wirtschaft am Leben zu erhalten. Die Kontrolle über die Ukraine – oder einen bedeutenden Teil davon – zerstört jede Aussicht auf eine Wiederbelebung des "Sowjetimperiums", zumindest auf europäischer Ebene.
Strategisch hat der Konflikt die USA jedoch vor große Probleme gestellt. Der Hauptgrund ist der Verlust Russlands als möglichen Verbündeten oder zumindest als Macht, die sich nicht in die Interessen Washingtons einmischt. An der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert waren alle Voraussetzungen für eine solche Beziehung zwischen Moskau und Washington gegeben. Darüber hinaus war Russland zu gleichberechtigten und partnerschaftlichen Beziehungen mit den USA bereit, sofern die Interessen Russlands berücksichtigt würden – insbesondere im postsowjetischen Raum.
Moskau hat sich weder die Wiederbelebung der UdSSR zum Ziel gesetzt noch versucht, die ehemalige UdSSR neu zu formatieren. In allen wichtigen Fragen der globalen Agenda hat Russland entweder mit den USA kooperiert oder lange Zeit auf aktiven Widerstand verzichtet. Über die Schuldigen an der zunehmenden gegenseitigen Konfrontation zwischen beiden Staaten lässt sich streiten, doch die Positionen beider Seiten sind diametral entgegengesetzt. Was zählt, ist das Ergebnis: Die USA haben mit Russland eine Großmacht als ihren unversöhnlichen Gegner gefunden.
Moskau baut enge Beziehungen zu China auf, das von Washington wiederum als künftige Bedrohung angesehen wird. Die Kosten des Konflikts mit Russland werden für die USA nicht nur an ihrer Unterstützung für die Ukraine zu bemessen sein, sondern auch an den enormen Kosten für die Eindämmung des russisch-chinesischen Tandems und der Bewältigung von Problemen, bei denen Russland den USA mit Begeisterung Schaden zufügen kann. Dass auch Russland zum Teil Federn lassen wird, verbessert die Situation für Washington nicht.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die taktischen Gewinne aus dem Konflikt in der Ukraine mit einer großen diplomatischen Niederlage für Washington in Form der Stärkung einflussreicher Gegner einhergingen, obwohl alle Voraussetzungen gegeben waren, um dies zu verhindern. Für die EU sind die strategischen Kosten sogar noch bedeutender. Dabei spielen die geografische Nähe zum Kriegsschauplatz in der Ukraine und die größeren Sicherheitsrisiken einer absichtlichen oder unabsichtlichen militärischen Auseinandersetzung mit Russland eine Rolle. China hingegen stärkt seine Position. Peking hat an seinen ausgedehnten nördlichen Grenzen zu Russland Ruhe und Stabilität gefunden, einen großen russischen Markt und eine Überdehnung der Ressourcen der USA.
Es ist nicht auszuschließen, dass die USA und ihre Verbündeten unter solchen Bedingungen ihre Vorstellung, Russland im Ukraine-Konflikt um jeden Preis zu besiegen, überdenken werden. Die große Frage ist, ob Moskau seinen Ansatz ändern wird. Russland ist entschlossen, langfristig für seine Interessen zu kämpfen. Das Vertrauen in westliche Initiativen tendiert gegen Null. Das langsame Verbrennen der Führungsmacht USA auf dem Herd der geopolitischen Weltküche verringert die Motivation, Kompromisse einzugehen, ohne die russischen Interessen vollständig zu berücksichtigen. Der Ausgang des Ukraine-Konflikts wird, wann immer er kommen möge, eine entscheidende Phase in der neuen Weltordnung darstellen, die sich vor unseren Augen abzeichnet.
Aus dem Englischen.
Iwan Timofejew ist Programmdirektor des Waldai-Clubs und einer der führenden Außenpolitikexperten Russlands.
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