Von Alexej Danckwardt
Ein Geschworenengericht in Kiew hat am 18. Oktober – mehr als neun Jahre nach dem sogenannten "Maidan-Massaker" – ein Urteil in diesem aufsehenerregenden Fall gesprochen. Es hat vier Polizisten wegen "Überschreitung von Befugnissen" und wegen Totschlags bei "Überschreitung der Grenzen der Notwehr" zu Freiheitsstrafen von je fünfzehn Jahren verurteilt.
Interessant sind die Tatsachenfeststellungen dieses seit Donnerstag schriftlich vorliegenden Urteils, denn – anders als die ausgesprochenen Strafen es auf den ersten Blick vermuten lassen – widerlegen sie das im Westen von Anfang an verbreitete Narrativ eines von "Diktator Janukowitsch" angeordneten Massenmordes an "friedlichen Demonstranten". Das Gericht zeichnet vielmehr den Ablauf eines chaotischen Tages nach, an dem Maidan-Anhänger die Ordnungshüter zuerst beschossen und dann die in Richtung des nahegelegenen Regierungsviertels flüchtenden Beamten verfolgten und bedrängten.
Dabei bleiben diese Feststellungen in vielen Punkten, natürlich im Sinne des Maidan-Narrativs, einseitig und lückenhaft. Sie umgehen vor allem die Frage, wer genau an jenem 20. Februar erst auf Sicherheitskräfte und später aus einem Hotelhochhaus in die Rücken der Maidan-Sturmgruppen schoss, welche die flüchtenden Polizisten verfolgten. Ausgelassen werden auch die Morde, die Maidan-Anhänger am 18. Februar begangen haben, wie auch die Ungesetzlichkeit der Protestform insgesamt. Und doch – gewollt oder ungewollt –, das Urteil räumt mit manchem Mythos auf, indem es wenigstens in groben Zügen den äußeren Ablauf der Ereignisse rekapituliert. Und so bleibt als Vorwurf gegen die Beamten die Überschreitung von Befugnissen im Rahmen einer an sich legitimen Selbstverteidigung der von "Maidan-Aktivisten" angegriffenen und verfolgten Gesetzeshüter.
Von legitimer Selbstverteidigung spricht das Kiewer Urteil vom 18. Oktober sogar ausdrücklich, und dies zu Recht. Es sieht allerdings deren Grenzen verletzt.
Der Leser wird sich vielleicht noch an jenen 20. Februar 2014 erinnern. Dieser Tag war das Fanal des Kiewer Euromaidan, der Höhepunkt des verfassungswidrigen Umsturzes, den er darstellte. Die Nachricht von hundert (das Urteil konkretisiert die Zahl jetzt auf 48) durch das "Regime" erschossenen "friedlichen Demonstranten" machte weltweit Schlagzeilen. Der frei gewählte ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch geriet dadurch ins Wanken und stimmte einem von europäischen Politikern – darunter dem damaligen deutschen Außenminister, Frank-Walter Steinmeier – vermittelten Abkommen mit der Opposition zu, das baldige Neuwahlen vorsah. Janukowitsch erfüllte das Abkommen durch den Abzug der Sicherheitskräfte aus Kiew, die Opposition brach es nur zwei Tage später durch seine verfassungswidrige Absetzung. Der ukrainische Bürgerkrieg nahm seinen Lauf und führte uns nahtlos dorthin, wo wir heute stehen.
Jedem, der sich auskannte oder sich näher mit dem Fall beschäftigte, fielen sofort Ungereimtheiten auf. So stellte sich schnell heraus, dass in jenen Tagen zwei Dutzend Polizisten ihr Leben ließen. Hatten etwa Polizisten auf Polizisten geschossen? Oder vielleicht doch die "friedlichen Demonstranten"? Auffallend war auch, dass die Toten fast ausschließlich männlich waren und es die Todesfälle eben nicht auf dem eigentlichen Maidan, dem großen Platz in Zentrum Kiews, sondern in einer von ihm ausgehenden und in das angrenzende Regierungsviertel führenden Straße gab. Auch erinnerte das Ereignis an die längst aus Tunis, Ägypten und von anderswo bekannten Szenarien "farbiger Revolutionen", die immer wieder das Auftauchen unbekannter Scharfschützen beinhalten. Scharfschützen, die auf die Menge zielen, um Emotionen zum Überborden und den jeweiligen "Diktator" zum Sturz zu bringen.
Der deutsche Medienkonsument jedoch war für voreilige und emotionalisierte Urteile besonders anfällig, hatten doch ARD und ZDF wider besseres Wissen monatelang das Bild eines friedlichen proeuropäischen Protestes des "Euromaidan" gezeichnet, während in den Nebenstraßen des abgekürzt "Maidan" genannten Hauptplatzes von Kiew von Anfang an blutige Straßenschlachten zwischen unbewaffneten Polizisten und gewalttätigen, vermummten Maidan-"Aktivisten" tobten.
Schauen wir uns also an, wie das neueste Urteil aus Kiew erklärt, wie es an jenem Tag zu den Toten kam. Es ist nicht die ganze Wahrheit, kommt der Wahrheit jedoch schon deutlich näher als das ursprüngliche Narrativ:
"Am 20. Februar (2014), um ca. 05:30 Uhr eskalierte die Konfrontation zwischen den Aktivisten und den Einheiten des Innenministeriums, die auf Befehl ihrer Vorgesetzten im Bereich des Maidan Nesaleschnosti (Unabhängigkeitsplatz – d. Red.) in Kiew Stellung hielten, erneut. Unbekannte feuerten mit Schusswaffen auf die Beamten, wobei 3 Beamte getötet und 39 weitere verletzt wurden. Selbst der Einsatz von Spezialmunition – Betäubungs- und Gasgranaten – durch die Soldaten der Bereitschaftspolizei und der Berkut-Einheiten konnte den auf die Ordnungskräfte gerichteten Beschuss nicht beenden."
Es bestätigt sich also, dass die Gewalt an jenem Tag nicht von der Polizei ausgegangen war, sondern von "Unbekannten". Das Gericht ist hier nicht vollständig ehrlich, denn wer diese "Unbekannten" waren, ist seit Jahren bekannt. Einer von ihnen, ein Maidan-Aktivist mit dem Namen Iwan Bubentschik hat bereits im Jahr 2015 der BBC gegenüber eingeräumt, dass er unter den Schützen jenes Tages war und aus dem Gebäude des Konservatoriums auf dem Unabhängigkeitsplatz auf Polizei und Sicherheitskräfte schoss. Zwei weitere Namen sind ebenso bekannt: Vater und Sohn Parasjuk, Letzterer wurde im Herbst 2014 sogar Rada-Abgeordneter und blieb es bis 2019.
Aber fahren wir mit den Urteilsfeststellungen fort:
"Als Reaktion auf die Situation im Epizentrum der Konfrontation begannen einzelne Einheiten und Gruppen von Ordnungskräften, ihre Positionen um die Unabhängigkeitsstele auf dem Maidan Nesaleschnosti selbständig und spontan zu verlassen, was zu einem weiteren massiven und unorganisierten Rückzug der Ordnungskräfte die Institutskaja-Straße hinauf in Richtung der Kreuzung mit der Bankowaja-Straße führte, der erst nachträglich von der Führung genehmigt wurde."
Die benannte Institutskaja-Straße führt, einen Hügel aufsteigend, direkt in das Regierungsviertel, wo sich wenige hundert Meter weiter sowohl der Präsidentensitz (in der ebenfalls benannten Bankowaja-Straße), als auch der Sitz des Ministerrats und mehrere Ministerien befanden.
Der Rückzug der Ordnungshüter vom eigentlichen Maidan reichte den "Aktivisten" jedoch nicht. Siegestrunken begannen sie die flüchtenden Polizisten zu verfolgen:
"Unter Ausnutzung dieser panischen Aktionen der Ordnungskräfte gingen die Aktivisten auch spontan und massenhaft über ihre Barrikaden hinaus und begannen, Molotowcocktails zu verwenden, um die Ordnungskräfte und ihre Wasserwerfer zu verfolgen und anzugreifen, die sich als letzte zurückzogen. Auf diese Weise bewegten sich die Aktivisten, darunter auch einige bewaffnete Personen, die Institutskaja-Straße hinauf, übernahmen die Kontrolle über den Haupteingang des Hotels 'Ukraina', durchschnitten die Stellungen der Ordnungskräfte an der Kreuzung der Straßen Institutskaja und Kreschtschatik in der Nähe des Gebäudes Nr. 7/11 und zwangen einen Teil von ihnen, die Treppe zum Oktoberpalast hinaufzugehen, während der andere Teil in Richtung Europaplatz flüchtete."
Der Oktoberpalast, dessen Fassade auf die Institutskaja Straße und auf das gegenüberliegende Hotel "Ukraine" blickt, wurde für einige der angegriffenen Polizisten zur Falle. Sie sahen sich von allen Seiten von den "Aktivisten" umstellt und in äußerster Not. Schon in den Wochen davor waren die Maidan-Anhänger nicht gerade zimperlich und human mit gefangenen Polizisten umgegangen, Videos von Ordnungshütern mit ausgestochenen Augen machten die Runde:
"In der Folge übernahmen die Aktivisten auch die Kontrolle über den Eingang zum Oktoberpalast, der näher an der Kreschtschatik-Straße liegt, und näherten sich dem Haupteingang des Gebäudes. Zur gleichen Zeit erhielten die Einheiten des Innenministeriums, die sich im Gebäude des Oktoberpalastes befanden, verspätet den Befehl, ihre Positionen zu verlassen und die Institutskaja-Straße in Richtung des Regierungsviertels hinaufzugehen. Ab ca. 09:03 Uhr war es möglich, das Gebäude ungehindert nur durch den rechten Ausgang (in Richtung Regierungsviertel) zu verlassen, was auch tatsächlich geschah."
Ein in einem anderen Verfahren angeklagter höherrangiger Polizeibeamter, nachfolgend als "Person_23" bezeichnet, versuchte den Rückzug seiner Männer zu koordinieren und zu befehligen und musste für ihre Sicherheit Sorge tragen. Das Urteil stellt dazu fest:
"Zwischen den Gebäuden des Hotels 'Ukraina' und dem Oktoberpalast begann der stellvertretende Kommandeur PERSON_23 als einziger Vertreter des Führungsstabs des Regiments persönlich den Abzug der Ordnungskräfte und ihrer Spezialfahrzeuge (Wasserwerfer, Lautsprecher, andere Spezialfahrzeuge) sowie der Krankenwagen, Feuerwehrfahrzeuge usw. die Institutskaja-Straße hinauf in Richtung Regierungsviertel zu koordinieren. Um ca. 09:05 Uhr beschloss PERSON_23, nachdem sie das Auftauchen von Aktivisten in der Nähe des Oktoberpalastes als Bedrohung für die Evakuierung der Ordnungskräfte aus dem Gebäude eingeschätzt hatte, die nur durch den rechten Ausgang (in Richtung des Regierungsviertels) möglich war, den Bereich um die gesamte Vorderseite des Oktoberpalastes von Aktivisten zu säubern, um die Evakuierung der Ordnungskräfte durch alle Eingänge und Ausgänge sicherzustellen. Unter den gegebenen Umständen rechtfertigte die Erreichung dieses legitimen Ziels den Einsatz aller den Beamten und Soldaten des Innenministeriums zur Verfügung stehenden Spezialmittel, das Zeigen von nackten Schusswaffen und im Extremfall deren Einsatz als Warnung sowie die Anwendung von psychologischem Druck (Abfeuern von Platzpatronen usw.)."
So weit der uns interessierende Teil der Tatsachenfeststellungen. Das Urteil fährt damit fort zu erklären, warum es den Einsatz scharfer Schusswaffen gegen die angreifenden "Aktivisten" für übermäßig und den entsprechenden Befehl der "Person_23" für verbrecherisch und damit für die Angeklagten nicht entlastend hält. Seine Argumentation in diesem Punkt ist mehr als fragwürdig.
Viele Fragen bleiben weiter offen. Dem Schusswaffeneinsatz durch die vier in diesem Verfahren angeklagten Polizisten konnte das Gericht vier Todesfälle und einige Verletzte auf Seiten der Maidan-Anhänger konkret zuordnen. In einer anderen Passage rechnet es sehr fragwürdig alle 48 Toten unter den Maidan-Aktivisten dem Agieren der Polizei insgesamt zu, ohne dies rechtsmedizinisch belegen zu können. Wir erinnern uns: Im Raum steht nach wie vor die Hypothese, dass zumindest ein Teil der Aktivisten durch "friendly fire" aus dem inzwischen von Maidan-Anhängern besetzten Hotel "Ukraina" getötet wurde. Nicht umsonst hat die nach dem Sieg des Maidan in die Hände der rechtsradikalen "Swoboda"-Partei gefallene Generalstaatsanwaltschaft Bäume in der inzwischen nach der "Himmlischen Hundertschaft" benannten Institutskaja-Straße fällen lassen, auf denen Einschüsse vorhanden waren, die wiederum zur Feststellung der Schussrichtung hätten herangezogen werden können.
Nein, es ist kein Akt der Gerechtigkeit, was am 18. Oktober 2023 das Geschworenengericht in Kiew gesprochen hat. Man muss immer im Hinterkopf behalten, dass es "Rechtsprechung" durch Maidan-Anhänger ist, Rachejustiz. In einem echten Rechtsstaat wären die vier Polizisten nicht verurteilt worden, denn die Feststellungen, die das Gericht getroffen hat, mussten zum Freispruch führen. Man kann für die Männer, die ihre Pflicht erfüllten und sich an jenem Wintermorgen selbst in echter Lebensgefahr befanden, nur hoffen, dass das letzte Wort in ihrem Verfahren noch nicht gesprochen ist.
Eine vollständige Aufklärung jener tragischen und blutigen Tage, die nicht minder tragisch und weitaus blutiger bis heute nachwirken, lässt weiter auf sich warten. Eines steht aber dank des Urteils vom 18. Oktober bereits jetzt fest: Es gab kein angeordnetes Massaker an "friedlichen Demonstranten". Die seit neun Jahren ergebnislose Suche nach "Janukowitschs Schießbefehl" kann eingestellt werden.
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