Von Geworg Mirsajan
Das Thema Nuklearwaffen – das war wohl das Herausragendste am Auftritt, den Russlands Präsident Wladimir Putin beim Diskussionsklub Waldai hinlegte. Diesen Beitrag – und insbesondere den Teil zum besagten Thema – wird man wohl noch viele Monate lang zitieren, wenn nicht gar Jahre. Bezogen auf die Frage des Politologen Sergei Karaganow zu einer möglichen Änderung der russischen Nukleardoktrin gab Putin zu verstehen, keine Änderung vornehmen zu wollen. Aus dem zusammen mit den USA signierten Vertrag zum Verbot von Nuklearwaffentests in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser dafür – ja, aus dem kann Russland auch ruhig aussteigen. Russlands Staatschef erklärte dies wie folgt:
"Die Vereinigten Staaten unterzeichneten einen entsprechenden Völkerrechtsakt, ein Völkerrechtsdokument – den Vertrag Vertrag zum Verbot von Nuklearwaffentests, und auch Russland unterzeichnete ihn. Russland hat ihn unterzeichnet und verabschiedet, aber die Vereinigten Staaten haben ihn unterzeichnet, jedoch nicht ratifiziert."
Putin machte darauf aufmerksam, dass Russland eine ganze Reihe neuer Trägerraketen entwickelt hat, und dies dränge eigentlich auf Zündungstests:
"In der Regel sagen Spezialisten, dies seien neue Waffen, und man müsse sichergehen, dass der Sondersprengkopf ohne Versagen funktionieren werde – und somit Erprobungen durchführen. Ich bin jetzt nicht bereit zu sagen: Müssen wir wirklich Erprobungen durchführen oder nicht? Doch uns in den Beziehungen mit den USA spiegelbildlich verhalten können wir."
"Können wir" scheint sich nun nach allem, was man sieht, in "werden wir" zu verwandeln. Die Russische Staatsduma bereitet einen Beschluss zum Ausstieg aus dem Testverbotsvertrag vor, denn deren Sprecher und Vorsitzendem Wjatscheslaw Wolodin zufolge "entspricht dies den Nationalinteressen unseres Staates". Im Außenministerium bemerkt man, dass der Ausstieg an sich nicht zwingend sogleich zur Wiederaufnahme von Kernwaffentests führen werde – obwohl Russland durchaus etwas zu erproben hat, seien es die Sarmat-Raketen oder der nuklear angetriebene Marschflugkörper Burewestnik ("Sturmvogel"). Sergei Rjabkow, der stellvertretende Außenminister, präzisierte:
"Wir rufen die Ratifikation zurück – sprich, bringen unseren Status auf dieselbe Art zum Ausgleich, wie die USA dies über viele Jahrzehnte praktizieren."
Das selbst auferlegte Moratorium für Kernwaffentests halte Russland bislang aufrecht, so Sergei Lawrows Vize. Doch die Lage kann sich ändern – und so warnt der Diplomat:
"Wir müssen gewährleisten, dass die Gesamtheit unserer Erprobungsgelände für die Wiederaufnahme der Erprobungsaktivitäten bereit ist."
Julia Schdanowa, Russlands Delegierte bei den Verhandlungen in Wien zu Fragen der militärischen Sicherheit und Rüstungskontrolle, gab zu verstehen, dass Kernwaffenerprobungen "ausschließlich in Reaktion auf analoge Schritte Washingtons" durchgeführt werden können. Und das harmoniert mit Putins Worten – allerdings nicht mit denen beim Waldai-Klub, sondern mit denen, die er in seiner Ansprache an Russlands Föderalversammlung im Februar 2023 ausgesprochen hatte:
"Als Erste werden wir das selbstverständlich nicht tun. Doch falls die USA Erprobungen durchführen, führen auch wir sie durch. Niemand darf sich dem gefährlichen Wahn hingeben, dass das globale strategische Gleichgewicht zerstört werden dürfe."
Putins Aussage beim Waldai-Klub derweil wurde als eine zeitlich angemessene Verhärtung der russischen Position aufgenommen, als Moskaus Bereitschaft zu einer Eskalation. Zu einer Eskalation, die die Welt vor einem Atomkrieg retten soll.
Tatsache ist, dass im Westen aktuell eine ernsthafte Diskussion darüber läuft, wie man dort die eigene Strategie bezüglich der Ukraine ändern soll und einen aus eigener Sicht erfolgreichen Ausgang dieses Konflikts erwirken kann – oder wenigstens ein Unentschieden. Und als ein mögliches Szenario wird Eskalation genannt. Sie soll die Bereitschaft des Westens demonstrieren, und die Vorschläge reichen von Lieferungen von Flugzeugen und abermals neuer Raketen fast bis hin zum Vorhaben, über und in der Ukraine den nuklearen Schirm aufzuspannen. Demonstrieren soll das alles die eigene Bereitschaft, weiter Krieg zu führen – und das Ziel ist eine diplomatische Pokerpartie mit Moskau, bei der die USA und EU mit ihrem Luschenblatt bluffen wollen, damit Moskau die eigenen Karten aufdeckt.
Derlei Bluff ist indes überaus gefährlich. Bedenkt man, dass Moskau nicht klein beigeben wird, ebenso wie Washington zum Zurückrudern unfähig ist, weil Joe Biden wegen des US-Wahlkampfes und die USA wegen der weltweiten Lage keine Schwäche zeigen dürfen, wird klar: Ein Bluff des Westens in dieser Lage kann leicht zu echter Eskalation und zum Atomkrieg führen.
Vorbeugend empfiehlt etwa der viel beredte Karaganow in seinem langen, umfassenden Artikel erneut, Russland solle sich mit vorbeugend-kontrolliertem nuklearem Abbrennen beschäftigen. Sprich, den USA im Voraus maximal unmissverständlich zeigen, dass Moskau zur Eskalation bereit wäre und nicht kneifen würde – damit die USA von ihrem Szenario der Poker-Eskalation zugunsten anderer Szenarien absehen.
Für bare Münze genommen erwecken die Erklärungen der russischen Diplomaten den Eindruck, dass Moskau seinen Ausstieg aus dem Nukleartestverbot ausschließlich "auf dem Papier" vollzieht, statt ein nukleares vorbeugend-kontrolliertes Abbrennen vorzubereiten. Denn auch Washington will ja keine Nuklearwaffentests durchführen. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg etwa erklärte:
"Die NATO-Verbündeten hielten sich 25 Jahre an die Bestimmungen in Bezug auf Nukleartests, wir haben keine Pläne für eine Wiederaufnahme von Erpobungen."
Doch für eine solche Lösung, und zwar, gerade wie jetzt, zunächst auf dem Papier, hat Russland drei Gründe. Einer davon ist der politische Wille. Der zweite hat mit Russlands internationalen Beziehungen zu tun. Der dritte hat mit der gesamten Weltordnung zu tun.
Russlands setzt sich das Ziel, nicht etwa um der bloßen Eskalation willen zu eskalieren, ja nicht einmal nur Nuklearwaffentests durchzuführen. Sondern dieses Ziel ist, den eigenen politischen Willen zu nuklearen Schritten zu zeigen. Und mit diesem ersten Schritt seines demonstrativen Ausstiegs aus dem Atomwaffentestverbot, einem der letzten verbleibenden Verträge zwischen Russland und den USA im Bereich der nuklearen Stabilität, zeigt Moskau: Ja, dieser Wille ist da.
International gesehen darf besagter Wille vorerst eben nur auf dem Papier demonstriert werden: Einseitig, also nicht in Reaktion auf entsprechende Schritte Washingtons, durch Russland begonnene Atomwaffentests könnten von einer ganze Reihe seiner Partner im Globalen Süden äußerst negativ aufgenommen werden. Von denjenigen, die gänzlich gegen das Nuklearwettrüsten als solches sind. Nicht zuletzt auch von denjenigen, die sich im Vorfeld der anstehenden Übersichtskonferenz zur Einhaltung des Kernwaffensperrvertrags nicht ganz sicher sind, ob sie den eigenen bisherigen Verzicht auf die Entwicklung von Nuklearwaffen aufrechterhalten sollen.
Aus globaler Sicht liegt ein weiterer Grund – dafür, dass Russland sich überhaupt des Vertrags zum Verbot von Nuklearwaffentests entledigt – darin, dass schon bald neue Spielregeln geschrieben werden, die für die ganze Welt gelten werden. Und in diese Zeit muss Russland nicht nur maximal mächtig und handlungsbereit eintreten, sondern auch maximal frei: befreit von einseitigen Verpflichtungen aller Art, die Russlands Möglichkeiten einschränken und gleichzeitig andere Staaten bevorteilen.
All diese Vorgaben erfüllt der Ausstieg aus dem Vertrag zum Verbot von Nuklearwaffentests – und so, wie Russland den Ausstieg gestaltet, wird er nicht etwa entkernt, sondern vielmehr mit Wissen und Können umgesetzt.
Übersetzt aus dem Russischen.
Geworg Mirsajan ist außerordentlicher Professor an der Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation, Politikwissenschaftler und eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Geboren wurde er 1984 in Taschkent. Er machte seinen Abschluss an der Staatlichen Universität in Kuban und promovierte in Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt USA. Er war von 2005 bis 2016 Forscher am Institut für die Vereinigten Staaten und Kanada an der Russischen Akademie der Wissenschaften.
Mehr zum Thema – Die Gefahr ist real: Stationierung von Atomwaffen in der Ukraine seit 2015 gesetzlich möglich