Der russische Präsident Wladimir Putin gab dem chinesischen Fernsehen ein ausführliches Interview ‒ das letzte liegt bereits zwei Jahre zurück. Da dieses Interview im Vorlauf zum geplanten Besuch Putins in China stattfindet, waren die Beziehungen zwischen Russland und China das zentrale Thema. Umso mehr, als Putin die Bedeutung betonte, die diese Beziehungen inzwischen gewonnen hätten: Die Beziehungen zwischen beiden Ländern seien ein entscheidender Faktor für Stabilität auf der Welt.
"Die russisch-chinesischen Beziehungen wurden 20 Jahre lang sorgfältig und ruhig entwickelt. Bei jedem Schritt ließen sich die russische und die chinesische Seite von ihren eigenen nationalen Interessen leiten, wie sie sie verstanden."
Dabei war der Anfang dieses Prozesses nicht einfach. Schließlich lag der Bruch zwischen der Sowjetunion und der Volksrepublik China Anfang der 1960er Jahre, und zwischenzeitig war es sogar zu bewaffneten Grenzkonflikten gekommen.
"Unsere Beziehungen wurden stets von gutem Willen geleitet. Das half uns, Grenzfragen zu lösen, die 40 Jahre lang bestanden hatten."
Der entscheidende Faktor sei die Bereitschaft gewesen, Kompromisse zu finden. Auf dieser Grundlage habe sich dann die wirtschaftliche Zusammenarbeit entwickelt. Auch dabei sei der wechselseitige Respekt für die nationalen Interessen zentral gewesen:
"Wir hatten zu unterschiedlichen Zeitpunkten ein unterschiedliches Verhältnis zwischen Exporten und Importen. Wir haben versucht, die Bedürfnisse der chinesischen Ökonomie zu decken, und unsere chinesischen Freunde haben nie unsere Ansichten bezüglich einiger Ungleichgewichte ignoriert, besonders was den Handel mit Fertigwaren betraf. Wir haben langsam, Schritt für Schritt und Jahr für Jahr diese Handelsbilanz erweitert und verbessert."
Interessant sind diese Aussagen, weil die Entwicklung dieser russisch-chinesischen Zusammenarbeit dem Beginn der chinesischen Initiative für die Neue Seidenstraße um zehn Jahre vorausging. Putin erwähnt, der chinesische Präsident Xi Jinping habe die Grundzüge dieses Projekts das erste Mal bei seinem Besuch in Moskau 2013 öffentlich vorgestellt. Was nahelegt, dass die Annäherung in den Jahren zuvor nicht nur die Möglichkeit für derart umspannende Projekte eröffnete, sondern auch eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der Grundsätze spielte, die heute das Seidenstraßenprojekt und BRICS leiten.
"Es scheint mir, dass der Hauptvorteil des Konzepts der Zusammenarbeit, das die chinesische Seite vorschlägt, ist, dass im Rahmen dieser Tätigkeit niemand jemandem etwas aufzwingt. Alles geschieht unter der Maßregel, nicht nur akzeptable Lösungen zu finden, sondern solche Projekte und solche Wege, ein gemeinsames Ziel zu erreichen, dass sie für alle akzeptabel sind. […] Wenn es Schwierigkeiten gibt, werden Kompromisse gesucht und immer gefunden. Das unterscheidet in meinen Augen die Seidenstraßeninitiative, die der chinesische Präsident vorschlägt, von vielen anderen, die Länder mit einem ausgeprägten kolonialen Erbe versuchen, in der Welt durchzusetzen."
Das nächste Ziel sei es, die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) mit dem Seidenstraßenprojekt zu verbinden. Bereits jetzt hätten die Länder der EAWU in Form von Investitionen in Höhe von 24 Milliarden Dollar davon profitiert. Für die Zukunft seien weitere gemeinsame Projekte geplant, die im Verlauf des nächsten Jahrzehnts umgesetzt werden sollen.
Die "regelbasierte Weltordnung", die der sich entwickelnden Multipolarität entgegengesetzt werde, sei ein Ausfluss kolonialen Denkens. "Wenn niemand diese Regeln gesehen hat, bedeutet das nur, dass diejenigen, die davon reden, sie selbst von Zeit zu Zeit erfinden, zu ihrem eigenen Vorteil." Schließlich seien die Länder, die Kolonialismus betrieben, stets davon überzeugt gewesen, dass sie Menschen erster Klasse seien.
"Es ist keine Überraschung, dass die heutige politische Elite, etwa in den Vereinigten Staaten, von ihrem Exzeptionalismus spricht. Das ist die Fortsetzung des kolonialen Denkens, denn wenn sie sich in den Vereinigten Staaten für außergewöhnlich halten, dann heißt das, dass andere Völker, tatsächlich alle Völker, nur irgendwelche Menschen zweiter Klasse sind. Wie sonst kann man das verstehen?"
Die multipolare Welt müsse sich schrittweise entwickeln. Denn die Grundvoraussetzung sei die Gleichheit aller Menschen und Völker.
"Wir können diesen Prozess beschleunigen, oder jemand kann versuchen, ihn zu verlangsamen und vielleicht sogar eine Verringerung im Fortschritt beim Aufbau einer multipolaren Welt erreichen. Auf jeden Fall ist ihre Schaffung unabwendbar."
Vor zehn Jahren habe Xi Jinping davon gesprochen, wie eine globale Welt entstehe und wie die Schicksale aller Länder miteinander verbunden seien. Nun werde das, worüber er theoretisch gesprochen habe, zur praktischen Wirklichkeit. Voraussetzung dafür seien langfristige politische Ziele, die nicht auf der Situation des Augenblicks beruhten, sondern auf einer Analyse und einem Ausblick in die Zukunft.
"Das ist es, was einen Staatsmann von Weltformat von Leuten unterscheidet, die wir 'Zeitarbeiter' nennen, die 'für fünf Minuten' auf der internationalen Bühne angeben und leise wieder verschwinden."
Als der Interviewer fragt, welche Auswirkungen die Zusammenarbeit der beiden Länder etwa bei erneuerbaren Energien oder der UN-Klimaagenda auf die Welt habe, verweist Putin darauf, dass es insgesamt 17 Ziele der UN für nachhaltige Entwicklung gebe, und eines davon sei auch die Bekämpfung der Armut.
"Wie kann man den Menschen in afrikanischen Ländern sagen: Ihr bekommt kein Öl, keine Ölprodukte, ihr werdet euch allein auf erneuerbare Energien verlassen müssen – auf Wind- und Sonnenenergie beispielsweise, und so weiter. Die sind für Entwicklungsländer weitgehend außer Reichweite. Sollen die Leute also verhungern, oder was? Es muss da ein Gleichgewicht geben ‒ alle Entscheidungen müssen ausbalanciert sein."
Befragt, auf welchen Feldern sich die Zusammenarbeit zwischen Russland und China weiterentwickeln solle, spricht Putin nicht nur von wirtschaftlichen Beziehungen, Automobilimporten, Flugzeugbau, Elektronik oder einem schnellen Neutronenreaktor, sondern auch vom akademischen Austausch und vom Sport ‒ ein Thema, das ihm sehr am Herzen zu liegen scheint.
"Wissen Sie, was wichtig ist? Dass unsere Zusammenarbeit beim Sport von politischen und ökonomischen Konstellationen frei ist. Unglücklicherweise versinkt der internationale Sport immer tiefer im Kommerz. In unseren Sportbeziehungen ist nichts Derartiges, und ich hoffe, das wird auch nie der Fall sein."
Dann wird das Interview persönlich.
"Ich weiß nicht, wie sich mein Leben entwickelt hätte, hätte ich mich nicht für Sport interessiert."
Beim Judo habe er Selbstbestätigung gefunden und die Jugendwelt der Hinterhöfe hinter sich gelassen.
"Sofort tauchten bestimmte Ansichten über Beziehungen zu anderen Menschen auf: wie man diese Beziehungen entwickelt, wie man mit Partnern respektvoll umgeht, wie man alles vermeidet, das diese Beziehungen zwischen Menschen untergraben könnte und so weiter. Sport ist sehr lehrreich, und das ist sehr wichtig."
Zuletzt wurde er noch nach seiner Meinung zum chinesischen Vorschlag zur Beendigung des Ukraine-Konflikts befragt.
"Wir sind unseren chinesischen Freunden sehr dankbar, dass sie versuchen, über Wege zur Beendigung dieser Krise nachzudenken."
Aber es gebe zwei grundsätzliche Probleme: Zum einen hätten die Vereinigten Staaten nicht nur die Ukraine gezielt in Richtung der NATO gedrängt, sondern sich sogar gepriesen, fünf Milliarden in den Putsch 2014 investiert zu haben. Zudem hätten sie jede Vereinbarung, erst bezüglich der NATO-Osterweiterung, dann selbst noch die Minsker Vereinbarungen, ignoriert und zuletzt die Friedensverhandlungen in Istanbul sabotiert.
"Sehen sie, es ist sehr schwierig, mit solchen Leuten ein Gespräch zu führen."
Mit den Verhandlungen über das Atomprogramm Irans sei das Gleiche passiert.
"Die Verhandlungen zum iranischen Nuklearprogramm dauerten sehr, sehr lang. Es gab eine Übereinkunft, ein Kompromiss wurde gefunden und Dokumente wurden unterzeichnet. Dann kam eine neue [US-]Regierung und warf alles in den Müll, als hätte es diese Arrangements nie gegeben."
Das zweite Problem sei die Tatsache, dass die ukrainische Regierung sich selbst jede Verhandlung mit Russland verboten habe.
Die Vorschläge Chinas seien absolut realistisch und könnten die Grundlage für ein Friedensabkommen sein.
"Unglücklicherweise will die Gegenseite in keine Verhandlungen eintreten."
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