Von Irina Taran, Jelisaweta Komarowa, Wladimir Dujun
Die Botschaft der USA in der Ukraine hat berichtet, dass Washington an Kiew eine Liste von vorrangigen Reformen übergeben hat, die die Grundlage für Verhandlungen mit der ukrainischen Regierung und den westlichen Partnern im Rahmen der Europa-Integration der Ukraine bilden soll. Die entsprechende Meldung der Botschaft lautete:
"Im Rahmen des sich fortsetzenden Dialogs mit der Ukraine und den Parteien, die an einem künftigen Erfolg interessiert sind, haben die USA die empfohlene Liste von vorrangigen Reformen zur Besprechung und Rückmeldung auf der multilateralen Koordinationsplattform der Spender für die Ukraine in Brüssel vorgelegt. Diese Liste dient als Grundlage für Verhandlungen mit der Regierung der Ukraine und den Schlüsselpartnern im Rahmen unserer unveränderten Unterstützung der Ukraine und ihrer Bemühungen zur Integration in Europa – ein Ziel, das die USA entschieden unterstützen."
Besondere Beachtung solle dabei die "Setzung von Prioritäten" und Konsolidierung von Schritten zur Reformierung der Ukraine mit Kiew und den wichtigsten Interessenten finden.
Darüber hinaus zitierte die Botschaft den US-Präsidenten Joe Biden mit den Worten, dass die USA mit ihrer Unterstützung der Reformen Bedingungen für Investitionen westlicher Unternehmen in die Ukraine schaffen wollen.
"Genauso wie wir bestrebt sind, dem ukrainischen Volk gegenwärtig bei seiner Verteidigung zu helfen, sind wir bestrebt, ihm mit Blick auf die Zukunft beim Wiederaufbau zu helfen. Unter anderem durch Unterstützung von Reformen zur Bekämpfung der Korruption und zur Schaffung von Bedingungen, unter denen der Handel blühen und amerikanische und europäische Unternehmen investieren wollen werden", sagte Biden gegenüber Selenskij bei ihrem Treffen im Weißen Haus.
Indes liegt die eigentliche Liste der Reformen der Meldung der US-Botschaft nicht bei. Sehr wohl ist sie aber im schriftlichen Entwurf des stellvertretenden Beraters des Weißen Hauses zur nationalen Sicherheit in Angelegenheiten der internationalen Wirtschaft, Mike Pyle, enthalten. Das Dokument richtet sich dabei an Kiew und die Koordinationsplattform der Spender. Zuvor hatte die Zeitung Ukrainskaja Prawda das Schreiben veröffentlicht. Es behandelt unter anderem die Forderung der USA an Kiew, die Preise für Gas und Strom zu liberalisieren. Laut Washington werde dies "die finanzielle Stabilität von Unternehmen und Betreibern" gewährleisten. Eine weitere Bedingung ist die Erweiterung des Aufsichtsrats der Unternehmen des ukrainischen Stromnetzbetreibers Ukrenergo und des staatlichen Ölkonzerns Naftogas. Freilich wird nicht präzisiert, durch Bürger welcher Staaten diese Aufsichtsräte erweitert werden sollen.
Die USA rufen die Ukraine in dem Schreiben außerdem dazu auf, das Nationale Antikorruptionsbüro zu stärken, indem diesem das Recht auf Anhörung und "außerordentliche Vollmachten bei der Ermittlung von großen Korruptionsfällen" eingeräumt werden. Es wird auch vorgeschlagen, den Sicherheitsdienst der Ukraine zu reformieren und seine Funktionen auf Gegenaufklärung sowie Bekämpfung des Terrorismus und der Cyberkriminalität zu beschränken. Washington besteht zudem auf einer Reform der Prozeduren für staatliche Waffeneinkäufe im Einklang mit den NATO-Standards. Wie die Journalisten der Zeitung anmerkten, sei das Schreiben ein vorläufiger Arbeitsentwurf und könne weiter geprüft werden.
Das Blatt erinnerte daran, dass die Koordinationsplattform der Spender seit Januar 2023 tätig ist. Sie wurde zur Unterstützung des Wiederaufbaus der Ukraine im Rahmen des sogenannten Ramstein-Finanztreffens eingerichtet. An der ersten Sitzung dieser Plattform beteiligten sich via Videokonferenz hochrangige Beamte aus der Ukraine, der EU, den G7-Staaten sowie der Europäischen Investitionsbank, der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, des IWF und der Weltbank.
Frage der EU-Mitgliedschaft
Wie die Nachrichtenagentur Bloomberg am 22. September unter Verweis auf Quellen berichtete, könnte die EU-Kommission im Oktober die Empfehlung abgeben, einen "langjährigen Beitrittsprozess" der Ukraine zur EU einzuleiten. Die Initiative soll demnach durch die EU-Staatschefs bewilligt und voraussichtlich im Dezember verhandelt werden. Anschließend sei geplant, dass Kiew eine "langwierige Prozedur der Vollendung von Reformen" einleite. Die Agentur schrieb:
"Ein Beginn von Beitrittsverhandlungen kann die Position Wladimir Selenskijs vor dem Hintergrund des langsamen Tempos der Gegenoffensive gegen Russland stärken. Zuvor hatte Bloomberg am Freitag berichtet, Selenskij hege den Verdacht, dass Joe Biden inzwischen in Bezug auf ein Festhalten an Waffenlieferungen und Finanzhilfe schwanke und dass sich andere internationale Oberhäupter in dieser Frage wahrscheinlich an der USA orientieren."
Später behauptete der EU-Chefdiplomat Josep Borrell, dass ein Beitritt der Ukraine zur EU das Ende der "Siesta" im Hinblick auf Erweiterung der Union einleiten werde.
"Für viele Jahre existierte eine Art Pattsituation, während der nichts geschah. Die Ukraine hat für eine neue Dynamik gesorgt", sagte Borrell in einem Interview für The Guardian.
Er verwies darauf, dass kein Land der EU seit 2013 beigetreten sei, obwohl acht Staaten einen Beitritt erhofften.
"Liberale Schablonen und Klischees"
Wie der Leiter des Instituts für strategische Studien und Prognosen der Russischen Universität der Völkerfreundschaft und Mitglied der Gesellschaftlichen Kammer Russlands, Nikita Danjuk, bemerkte, bezeugt die Tatsache, dass die USA der Ukraine eine Liste von konkreten Reformen vorlegen, dass sich Kiew in einer direkten Abhängigkeit von Washington befindet.
"Das ist ein weiterer Beweis dafür, dass die Ukraine kein Subjekt ist, sondern von Washington aus verwaltet wird. Reformen sind nicht durchführbar unter den Bedingungen, bei denen alle verstehen, dass von Korruptionsfreiheit und maximaler Transparenz in der Ukraine keine Rede sein kann. Das Einzige, was halbwegs gelingen kann, ist die Liberalisierung der Strompreise, denn sie betrifft allein die Bevölkerung der Ukraine, auf die niemand Rücksicht nehmen wird", erklärte Danjuk in einem Kommentar gegenüber RT.
Dem Experten zufolge wollen die USA "ein weiteres liberales Experiment unter dem Namen Ukraine" durchführen.
"Liberale Schablonen und Klischees werden demonstrativ durchgesetzt werden, und niemand wird sich darum kümmern, wie es das Leben der einfachen Menschen beeinträchtigen wird. Kiew wird Washingtons Initiativen zustimmen, denn Selenskij hat keine Wahl – er erfüllt den Willen der US-Regierung", führte Danjuk weiter aus.
Der leitende wissenschaftliche Mitarbeiter des Zentrums für europäische Studien des Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der russischen Akademie der Wissenschaften, Wladimir Olentschenko, vertritt eine ähnliche Meinung. Er ist überzeugt, dass die USA versuchen werden, ukrainische Verwaltungsstrukturen und Staatsbetriebe im eigenen Interesse umzugestalten.
"Es ist durchaus offensichtlich, dass die USA in der Ukraine ihre eigenen Standards der staatlichen und geschäftlichen Verwaltung einrichten und umsetzen möchten. Beispielsweise werden die Aufsichtsräte von Ukrenergo und Naftogas mit Sicherheit um Personen erweitert, die mit den USA affiliiert sind und die für das Weiße Haus ungünstige Beschlüsse blockieren werden. Washingtons Ziel ist es, die ukrainische Bevölkerung zu zwingen, für die Hilfe der USA zu zahlen", erklärte Olentschenko gegenüber RT.
Seiner Meinung nach sollte die Meldung der US-Botschaft wie eine "Ankündigung ohne Details" bewertet werden, die Washington nutzt, um die Reaktion der ukrainischen Öffentlichkeit und der internationalen Gemeinschaft auszuloten.
"Der Plan baut wohl darauf auf, dass die gegenwärtige politische Führung der Ukraine, insbesondere Selenskij, vollständig von der Unterstützung der USA abhängt. Von Selbstständigkeit kann überhaupt keine Rede sein. Das Schema der USA ist ziemlich offensichtlich: aus der Ukraine Gelder und Ressourcen herauszupressen, und wenn nichts mehr übrigbleibt, sie in die Obhut der EU zu übergeben", sagte der Experte.
Danjuk vermutete, dass die EU Washingtons Pläne durchschaue und deswegen trotz "ritueller Beteuerungen" keine Eile zeige, die Ukraine aufzunehmen.
"Es wird keine EU-Integration geben, zumindest nicht in den nächsten Jahren. Alle in der EU verstehen das und speisen Kiew mit Versprechungen ab. Doch in der Ukraine gibt es immer noch Aktiva, die den westlichen Eliten Profite bringen können, etwa durch die Kontrolle strategisch wichtiger Wirtschaftsbranchen und die Eintreibung von Abgaben der Bevölkerung. Genau das wollen die USA tun", schlussfolgerte er.
Übersetzt aus dem Russischen.
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