Von Jewgeni Krutikow
Heute sind sowohl Kleschtschijewka als auch Andrejewka de facto Schrödingers Dörfer. Weder Andrejewka noch Kleschtschijewka existiert noch physisch.
Irgendwann in der Vergangenheit gab es in Andrejewka zwei winzige Straßen mit typischen Lehmziegelhäusern. Kleschtschijewka war etwas größer und hatte eine längere und eine kürzere Straße. Heute ist es eine Mondlandschaft. Kein Stein steht auf dem anderen, in dem Maße, dass sich Sturmgruppen nicht einmal vorübergehend dort befestigen können. Eine strategische Bedeutung hatten diese Dörfer nie und haben nicht einmal eine taktische Bedeutung für die Lage an den Flanken von Artjomowsk.
Neben allem anderen ist es eine Transportsackgasse. Für eine Versorgung der Stadt und der Flanken sind die Dörfer nicht wichtig, doch die Versorgung ihrer eigenen Verteidigung ist sehr schwierig, ebenso wie eine Rotation von Sturmgruppen.
Um die Dörfer herum erstrecken sich ehemalige Kolchosfelder. Als eine akzeptable Verteidigungslinie gilt die Eisenbahnstrecke Gorlowka – Artjomowsk, die einige Kilometer weiter östlich liegt.
Gegenwärtig kontrollieren die russischen Verbände den nördlichen Teil von Kleschtschijewka mit der zerstörten Eisenbahnstation sowie den östlichen Teil. Die übrigen Reste des Dorfes befinden sich in der sogenannten grauen Zone. Andrejewka gehört gänzlich zur grauen Zone. Die ukrainische Seite hielt es für propagandistisch wertvoll, sich mit der eigenen Flagge vor dem Hintergrund der Ruinen ablichten zu lassen. Dazu kann man sie nur "beglückwünschen", denn es brachte Wladimir Selenskij nichts als Blamage.
Warum werden diese zwei winzigen Dörfer überhaupt seit nunmehr mehreren Wochen in den Frontberichten erwähnt? Im Grunde sind es doch nur noch Koordinaten auf den Karten, und die Dorfnamen werden nur der Verständlichkeit halber verwendet, um anzudeuten, wo genau die Frontlinie verläuft.
Der Grund liegt in einem Zufall. Als die russischen Verbände, insbesondere die Fallschirmjäger, im Rahmen der Operation zur Befreiung von Artjomowsk nach Westen vorrückten, hielten sie an diesem Abschnitt an der Linie Kleschtschijewka – Andrejewka – Kurdjumowka an und rückten nicht weiter vor.
Es wäre notwendig gewesen, von Artjomowsk aus weiter nach Tschassow Jar im Westen vorzurücken, doch kraft objektiver Umstände – der Notwendigkeit, die Sturmverbände zu rotieren, des Munitionsmangels und der Notwendigkeit, die Offensive neu zu planen – blieb die Frontlinie einfach dort stehen, bis wohin die Truppen zu Fuß marschiert waren. Die Frontlinie an diesem Abschnitt war zufällig fast gerade, was für den Aufbau einer festen Verteidigung günstig erschien.
Somit wurden die unglücklichen Kleschtschijewka und Andrejewka zur Kontaktlinie und erscheinen deswegen ständig in Berichten, besonders jenen des ukrainischen Militärs. Dabei ignoriert Kiews Propaganda fast vollständig die Ereignisse bei Kupjansk, die viel bedeutsamer sein könnten.
Mehr noch, das Gebiet südlich von Artjomowsk ist auch für eine russische Offensive wenig geeignet. Im Westen liegt dort das gleiche offene Feld ohne irgendwelche Straßen, was eine Versorgung der Sturmgruppen erschwert. Eine russische Offensive an diesem Abschnitt ist nur im Rahmen eines hypothetischen allgemeinen Vorrückens von Artjomowsk nach Westen möglich, um die Konfiguration der Frontlinie zu erhalten.
Die übertriebene Aufmerksamkeit Kiews für die beiden Dörfer hängt mit der Aufrechterhaltung des Bildes der "Gegenoffensive" zusammen. Man habe schließlich irgendetwas "befreit". Erfahrenere Propagandisten verstehen eine gewisse Fragwürdigkeit dieser Behauptungen und bauen sie in eine größere Kette ein – angeblich beginne die russische Front, allmählich zusammenzubrechen. Konkrete Tatsachen sind hierbei irrelevant, wichtig ist die Aufrechterhaltung des nötigen Informationshintergrunds.
Es ist anzumerken, dass an den Rändern von Kleschtschijewka einige Höhen liegen, die zu einem gewissen Grad als taktisch wichtig betrachtet werden können. Im Grunde drehen sich die Versuche der ukrainischen Offensive ausgerechnet um sie. Gegenwärtig hält das ukrainische Militär eine Höhe westlich von Kleschtschijewka, während die russischen Streitkräfte die übrigen Höhen im Osten, Süden und Norden halten. Hinter diesen liegt die Eisenbahnlinie mit einer Aufschüttung. Und wenn diese Position für die Verteidigung von Artjomowsk wichtig sein soll, so gab es für die Ukraine immer noch keinen Sieg.
Die Lage um Kleschtschijewka und Andrejewka ist im Kontext der ukrainischen Gegenoffensive bezeichnend. Auf Kosten riesiger Verluste an Menschen und Technik besetzte das ukrainische Militär eine "graue Zone" aus Dörfern, die zu Pulver geschossen wurden. Diese Zone wurde ihrerseits zu einer Feuerfalle für Kiews Truppen, die mehrmals pro Woche versuchen, Verbände, die dort Verluste erleiden, zu rotieren.
Hierbei sollte eine weitere Besonderheit berücksichtigt werden, nämlich der Unterschied zwischen offen zugänglichen elektronischen Landkarten wie Yandex oder Google und den herkömmlichen Papierkarten. Auf Papierkarten werden Senken und Höhen verzeichnet. Dies ist unter anderem die Antwort auf die Frage, warum russische Offiziere gewohnheitsmäßig "veraltete" Papierkarten und ihre elektronischen Projektionen nutzen.
An der Planung der ukrainischen Gegenoffensive nahmen indessen britische Offiziere teil. Und sie taten es, indem sie die besagten elektronischen Landkarten auf riesigen Bildschirmen betrachteten, was durch Fotos und Videoaufnahmen belegt ist. Auch wenn es wie ein Scherz klingt, ist es doch die Wahrheit.
Anscheinend waren es gerade die Briten, die den Erdriss beim benachbarten Dorf Werbowoje und die Höhen bei Kleschtschijewka und Rabotino nicht bemerkten. Und gerade auf den Höhen bei Rabotino steht die russische Artillerie, was den Reichweitenvorsprung der vom ukrainischen Militär eingesetzten M777-Haubitzen aus US-Produktion ausgleicht.
Das Erscheinen der besagten "grauen Zone" hängt nicht etwa mit taktischen Erfolgen der ukrainischen Offensive zusammen, sondern mit der zahlenmäßigen Truppenstärke der eingesetzten Verbände. Unter diesen Umständen kann das ukrainische Militär unendlich lange Verbände aus der strategischen Reserve an diesen Frontabschnitt werfen, ohne die russische Verteidigung zu durchbrechen.
Mehr noch, in den vergangenen Tagen gingen die russischen Verbände bei Rabotino mehrmals zu Gegenangriffen auf die ukrainische Flanken über und warfen die neuen ukrainischen Sturmtrupps in die "graue Zone" zurück. Nach einiger Zeit werden die ukrainischen Angriffsversuche von selbst aufhören, weil Kiews Militär die für die Gegenoffensive notwendigen Ressourcen schlicht erschöpfen wird.
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei Wsgljad.
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