Beim ersten G-20-Gipfel in Südasien, der am Samstag und Sonntag in der indischen Hauptstadt Delhi stattfindet, will der Premier Narendra Modi sich als Stimme des Globalen Südens präsentiert. Der Konflikt zwischen dem Westen, Russland und China überschattet aber die Tagesordnung auf dem Gipfel. Die westlichen Medien haben sich in letzter Zeit der Frage gewidmet, ob Indien mit Russland brechen wird.
Als die russische Armee im Rahmen der Sonderoperation im Februar 2022 in die Ukraine einrückte, gerieten Länder im Globalen Süden unter Druck, sich zwischen dem vom Westen unterstützten Kiew auf der einen und Moskau auf der anderen Seite zu entscheiden. Mehr als 18 Monate lang hat Neu-Delhi trotz des US-Drucks die Gratwanderung zwischen den beiden Seiten vollzogen und eine direkte Verurteilung des alten Freundes Russland wegen des Ukraine-Kriegs vermieden. Doch wenn die Staats- und Regierungschefs der Gruppe der 20 (G20) am Freitag zu ihrem jährlichen Gipfeltreffen in der indischen Hauptstadt eintreffen, könnte der indische Premierminister Modi dazu gedrängt werden, den Ukraine-Krieg zu verurteilen.
Indien hat Russlands Sonderoperation nicht verurteilt und hat sich bei entsprechenden UN-Resolutionen seiner Stimme enthalten. Der bilaterale Handel mit Russland hat sogar im Zuge des Ukraine-Kriegs noch zugenommen. Indien hat seit Kriegsbeginn so viel russisches Rohöl importiert wie nie zuvor. Indien hängt militärisch rund zur Hälfte von russischen Waffen ab. Russland ist auch ein verlässlicher Partner des zivilen indischen Kernenergieprogramms und hat Neu-Delhi beim Bau des Kernkraftwerks Kudankulam – dem größten des Landes – im südlichen Bundesstaat Tamil Nadu unterstützt.
Beim G-20-Gipfel auf Bali vor einem Jahr hatte Indien noch dabei geholfen, eine gemeinsame Sprachregelung zum Krieg in der Ukraine zu finden. Die "Mehrheit der Länder" verurteile den Krieg aufs Schärfste, war in dem Abschlussdokument zu lesen, das auch Russland und China unterzeichnet hatten. Mit ihrer Blockadehaltung haben sie schon in diesem Jahr bei diversen Treffen der G20 auf Ministerebene gemeinsame Erklärungen verhindert. Neu-Delhi gibt dem Westen daran eine Mitschuld, da es den Finanz- und Wirtschaftsgipfel mit strategischen Fragen belastet.
Einige westliche Experten behaupten, dass die Freundschaft mit Russland zu einer Belastung für die geopolitischen Ambitionen Neu-Delhis geworden sei. In den letzten Jahren hat Indien seine Rüstungseinkäufe bei den Russen zurückgefahren und sich stattdessen der USA, Frankreich und Israel zugewandt.
Happymon Jacob, ein außenpolitischer Analyst und Professor für Abrüstungsstudien an der Jawaharlal Nehru-Universität in Neu-Delhi, beschrieb Indiens Hunger nach russischem Rohöl als "eine opportunistische Aktion". Indische Interessen würden nun geopolitisch in die indopazifische Region verlagert, wo das Land Peking als seinen Hauptkonkurrenten ansehe. Dort arbeite Indien mit Ländern wie Australien, Frankreich, Japan und den USA zusammen. "In diesem Sinne ist Russland kein natürlicher Partner mehr für Indien. Es ist nicht so, dass zwischen den beiden böses Blut herrscht, aber jetzt gibt es andere Realitäten", sagte Jacob weiter.
Die USA umwerben Indien, da sie auch dieses Land als strategisches Bollwerk gegen die Volksrepublik China als aufstrebende Weltmacht im Pazifik einbinden wollen. Ein wichtiger schwelender Streitpunkt zwischen den USA und Indien bleiben zudem Indiens weiterhin enge Beziehungen zu Russland.
"Unsere Beziehungen zu den USA und anderen westlichen Ländern haben einen Wandel durchgemacht. Sie sind enger und strategischer geworden, aber nicht auf Kosten einer Verwässerung unserer Beziehungen zu Russland", sagte Ashok Kantha, ein ehemaliger Sekretär im indischen Außenministerium. "Dies ist Teil der strategischen Autonomie Indiens, das eine Politik verfolgt, die seinen nationalen Interessen entspricht und nicht als Gefolgsmann eines anderen Landes", so Kantha. Und selbst wenn die USA und Frankreich Indiens militärische Abhängigkeit von Russland allmählich verringern, werde sich Neu-Delhi nicht als "Verbündeter" des Westens bezeichnen, so Hari Seshasayee, Gastwissenschaftler bei der Observer Research Foundation, einer Denkfabrik in Neu-Delhi. Denn "Indien kann es sich nicht leisten, Partei zu ergreifen" und wolle nicht von seinen innenpolitischen Prioritäten abgelenkt werden.
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