Von Alexander Dugin
Was auf dem 15. BRICS-Gipfel in Johannesburg geschah, ist wirklich historisch. Auch wenn der Präsident Russlands, der Begründer der BRICS, nicht daran teilgenommen hat, so ist das Gipfeltreffen doch ein Wendepunkt in der modernen Geschichte. Die Weltordnung verändert sich vor unseren Augen. Versuchen wir einmal, die sich vollziehenden tektonischen Veränderungen zu verstehen.
BRIC war ursprünglich ein Akronym von vier Ländernamen – Brasilien, Russland, Indien, China –, vorgeschlagen von dem Wirtschaftswissenschaftler Jim O'Neill 2001, um die Merkmale von Ländern mit sich aktiv entwickelnden Volkswirtschaften zusammenzufassen, die versuchten, den entwickelten Westen in einer Reihe von grundlegenden Parametern einzuholen. In diesem Sinne sind die BRIC-Länder zu dem geworden, was Immanuel Wallerstein als "Semi-Peripherie-Länder" bezeichnete. In Wallersteins Weltsystemkonzept wurde die Welt in drei Zonen eingeteilt:
- das Zentrum (der reiche Westen),
- die Halb-Peripherie (die BRIC-Staaten) und
- die Peripherie (der arme Süden).
Wallerstein selbst sagte im Geiste der trotzkistischen Ideologie den Zusammenbruch der Länder der Halb-Peripherie voraus. Deren Eliten sollten sich nach seiner Meinung in das westliche System integrieren – typische Beispiele wären die russische Oligarchie sowie die Finanzmagnaten Indiens und teilweise Chinas. Und die von diesen Eliten unterdrückten und ruinierten Massen würden gezwungen sein, sich dem weltweiten Proletariat anzuschließen, also sich der Peripherie anzugleichen. In diesem Konzept ist die weltweite Migration die Haupttriebkraft für eine solche Aufteilung der Halb-Peripherie in eine koloniale Elite, die danach strebt, ein Teil des Zentrums zu werden – das heißt, sich dem Westen anzuschließen –, und eine internationale Unterschicht, in der sich die Arbeitsmigranten mit der verarmten einheimischen Bevölkerung gleichschalten und vermischen werden.
Eine andere Definition der BRIC-Länder ist der Begriff "zweite Welt". Auch hier gilt die "erste Welt" als der reiche Westen und die "dritte Welt" als die hoffnungslos rückständigen Länder. Die "zweite Welt" liegt genau dazwischen – sie lebt viel besser als die "dritte Welt", bleibt aber deutlich hinter der "ersten Welt" zurück.
Die BRIC-Staaten zeigten Anzeichen von Selbstbewusstsein und beschlossen 2006 auf Initiative des russischen Präsidenten Wladimir Putin, einen Club der Länder der "zweiten Welt" oder der "Halb-Peripherie" zu gründen.
Es zeigte sich, dass vier Zivilisationen die Grundlage der BRIC bildeten: Brasilien, das eine eigenständige lateinamerikanische Zivilisation ist, Russland-Eurasien (weil Slawophile und Eurasier Russland als eigenständige Zivilisation, als einen Weltstaat verstanden) sowie Indien und China, deren zivilisatorische Identität und uralte Geschichte absolut keine Zweifel aufwerfen.
Somit stellte sich heraus, dass die Länder dieser Semi-Peripherie oder zweiten Welt nicht einfach nur ein bestimmtes wirtschaftliches Entwicklungsniveau oder eine Etappe auf dem Weg zur Modernisierung nach westlichem Vorbild darstellen, sondern uralte und ganz besondere Zivilisationen sind. So wurde die Gründung der BRIC als multipolarer Club von vielen als Bestätigung für Samuel Huntingtons These gesehen, der für die Zukunft eine Rückkehr zu den Zivilisationen und ein multipolares System vorhersagte. Dieses System würde die bipolare Aufteilung der Welt anstelle der von Liberalen und Globalisten proklamierten unipolaren Welt (gemäß dem "Ende der Geschichte" von Francis Fukuyama – also Huntingtons Hauptwidersacher) ablösen.
Das Prinzip der BRIC-Vereinigung bestand darin, sich außerhalb der Zone des dominanten Einflusses der westlichen Hegemonie zu positionieren. Jede dieser Zivilisationen hatte ihre eigenen grundlegenden Begründungen für ihre Souveränität: China – Wirtschaft, Finanzsystem und Demografie; Indien – ebenfalls Wirtschaft, Demografie und Hochtechnologie; Russland – Ressourcen, Atomwaffen und eine politische Geschichte der hartnäckigen Behauptung der Souveränität gegenüber dem Westen; Brasilien – Wirtschaft, Industrie und Demografie.
Die BRIC waren anfangs sehr vorsichtig und friedlich, hatten sich aber zum Rückgrat einer Alternative zur Unipolarität erklärt und lehnten die starre Hegemonie des kollektiven Westens (der NATO und anderer streng unipolarer, von den USA dominierter Organisationen) ab. Während sich die westliche Zivilisation selbst als die einzig wahre Zivilisation bezeichnete, was die Essenz des Globalismus und der Unipolarität darstellt, vertraten die BRIC-Länder souveräne und unabhängige Zivilisationen, die sich vom Westen unterscheiden und über eine lange Geschichte und ein völlig eigenständiges System traditioneller Werte verfügen. Schließlich brachte der multipolare Club auch seine Entschlossenheit zum Ausdruck, diesen Zustand in Zukunft zu verteidigen.
Dabei stellt jedes der BRIC-Länder mehr als nur ein Land dar. Brasilien, die größte Macht Südamerikas, repräsentierte den gesamten lateinamerikanischen Subkontinent. Russland, China und Indien sind jedes für sich genommen groß genug, um als Zivilisationen betrachtet zu werden. Aber sie sind auch mehr als nur Nationalstaaten. Russland ist die Vorhut Eurasiens, des eurasischen "Großraums". China ist für ein bedeutendes Gebiet der benachbarten Mächte Indochinas verantwortlich. Das Projekt "One Belt and One Road" umreißt genau die sich ausweitende Einflusszone dieses chinesischen Pols. Auch Indien dehnt seinen Einfluss über seine Grenzen hinaus aus – zumindest auf Bangladesch und Nepal.
Als sich im Jahre 2011 Südafrika (das S am Ende des späteren Akronyms BRICS) den BRIC-Ländern anschloss, war nun auch noch Afrika symbolisch durch ein großes Land dieses Kontinents vertreten.
Das wichtigste Ereignis in der Geschichte der BRICS fand jedoch jetzt auf dem 15. Gipfeltreffen statt, das vom 22. bis zum 24. August 2023 in Johannesburg abgehalten wurde. Hier wurde der historische Beschluss gefasst, sechs weitere Länder in die Organisation aufzunehmen: Argentinien, Ägypten, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Jedes dieser Länder bringt mit seinem Beitritt zum multipolaren Club mehr als nur einen weiteren Antrag auf Teilnahme an internationalen Vereinigungen mit sich, von denen es heute – auch ohne die BRICS – genug gibt.
Der Beitritt von vier islamischen Mächten – darunter Iran als schiitisch sowie sunnitisch Saudi-Arabien, Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate – erfolgte aus grundsätzlichen Erwägungen. Iran stellt den schiitischen Pol dar. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate sind die Länder auf der arabischen Halbinsel, die die Heiligkeit des Islams bewahren und das Zentrum des Sunnitentums bilden, und zugleich wichtige Rohstoff- und Finanzzentren. Ägypten ist eine unabhängige und einflussreiche Mittelmeermacht mit erheblichem Machtpotenzial und politischem Gewicht. Auf diese Weise wurde die unmittelbare Beteiligung der gesamten islamischen Zivilisation, vertreten durch beide Richtungen Sunnitentum und Schiitentum, an der multipolaren Welt gefestigt.
Darüber hinaus trat neben dem portugiesischsprachigen Brasilien nun mit dem spanischsprachigen Argentinien eine weitere starke und unabhängige lateinamerikanische Macht den BRICS bei. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts betrachteten Theoretiker südamerikanischer Vereinigungen die Region als einen Großraum, der sich konsolidieren sollte. Insbesondere der argentinische General Juan Perón und der brasilianische Präsident Getúlio Vargas sahen die Annäherung von Brasilien und Argentinien als den entscheidenden Akkord dieses Prozesses. Wenn dies gelingt, werde der Prozess der Integration der lateinamerikanischen Ökumene (Alberto Buela) unumkehrbar sein. Genau dies geschieht jetzt im Zusammenhang mit dem Beitritt der beiden südamerikanischen Mächte Brasilien und Argentinien zum multipolaren Club. Es ist kein Zufall, dass die Globalisten über den Beitritt Argentiniens zu den BRICS derartig wütend sind und alle ihre Einflussagenten in der argentinischen Politik mobilisiert haben, um das zu verhindern.
Die Aufnahme Äthiopiens hat auch eine hohe symbolische Bedeutung. Es ist das einzige afrikanische Land, das während der gesamten Kolonialzeit unabhängig blieb und seine Souveränität, seine Unabhängigkeit und seine einzigartige Kultur (die Äthiopier sind das älteste christliche Volk) verteidigte. Zusammen mit Südafrika stärkt Äthiopien die Präsenz des afrikanischen Kontinents im multipolaren Club.
In der Tat haben wir mit der neuen Zusammensetzung der BRICS ein umfassendes Modell der Vereinigung aller Pole und Zivilisationen sowie großer Räume, die auf dem Planeten existieren. Mit Ausnahme des Westens, der immer noch verzweifelt versucht, seine Hegemonie und unipolare Stellung zu bewahren. Nun steht er jedoch nicht mehr unterschiedlichen und gespaltenen Ländern voller innerer und äußerer Widersprüche gegenüber, sondern einer geeinten Kraft der Mehrheit der Menschheit, die entschlossen ist, eine multipolare Welt aufzubauen.
Diese multipolare Welt setzt sich aus den folgenden Zivilisationen zusammen:
- Der Westen (USA und EU sowie deren Vasallen, zu denen leider auch das einst stolze und unverwechselbare Japan gehört);
- China (plus Taiwan) mit seinen Satelliten;
- Russland (als Koordinator des gesamten eurasischen Raums);
- Indien und dessen Einflusszone;
- Lateinamerika (mit Brasilien und Argentinien in seinem Kern);
- Afrika (Südafrika und Äthiopien, außerdem werden auch erkennbar Mali, Burkina Faso, Niger und so weiter, die aus der französischen Kolonialherrschaft hervorgegangen sind, davon angezogen);
- Islamische Welt (mit ihren beiden Glaubensrichtungen, dem Schiitentum Irans und das Sunnitentum in Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Ägypten).
Wir haben also die Struktur einer sogenannten heptapolaren Welt, die aus sieben eigenständigen Zivilisationen besteht, von denen einige bereits voll entwickelt sind (wie der Westen, China, Russland und Indien) und andere (die islamische Welt, Afrika und Lateinamerika) auf dem Weg dorthin sind. Gleichzeitig beansprucht im Rahmen dieser heptapolaren Welt, einer Art entstehender Heptarchie, eine der Zivilisationen – nämlich die westliche – die Hegemonie, während die anderen sechs ihr dieses Recht absprechen, sondern vielmehr nur noch ein multipolares System akzeptieren und den Westen nur als eine der Zivilisationen neben anderen anerkennen.
Die Richtigkeit von Samuel Huntingtons These, der die Zukunft in der Rückkehr der Zivilisationen sah, hat sich also jetzt in der politischen Praxis bestätigt. Gleichzeitig zeigt sich, dass Francis Fukuyamas These, dass mit der globalen Hegemonie des liberalen Westens das Ende der Geschichte bereits erreicht sei, offensichtlich ein Irrtum war. Daher bleibt Fukuyama nur noch, Lektionen für die ukrainischen Neonazis zu lesen, denn diese Nazis stellen die letzte Hoffnung der Globalisten dar, den Beginn dieser Multipolarität aufzuhalten, für die Russland heute in der Ukraine kämpft.
Der August des Jahres 2023 kann als geschichtlicher Moment der Geburt einer multipolaren (und noch genauer: einer heptapolaren) Welt betrachtet werden.
Die Heptarchie ist erkennbar. Es ist höchste Zeit, sich genauer anzusehen, wie die zivilisatorischen Pole selbst die Situation, in der sie sich befinden, interpretieren.
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen auf RIA Nowosti am 29. August 2023.
Alexander Dugin ist ein russischer Philosoph.
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