Am Vortag des Gipfels der BRICS-Staaten in Johannesburg, Südafrika, hat sich der russische Außenminister, Sergei Lawrow, in der südafrikanischen Zeitschrift Ubuntu zu den Aussichten für die künftige Zusammenarbeit der Fünfer-Gruppe und die Vision einer gerechteren, multipolaren Weltordnung geäußert. Dabei sprach er über den Wandel der heutigen Welt, die Rolle Russlands für den afrikanischen Kontinent und über die Bedeutung und die Ziele von BRICS.
Den Ausgangspunkt von Lawrows Überlegungen stellt das sich wandelnde, globale Gleichgewicht dar. Die Möglichkeit des Westens, die Welt zu dominieren, schwinde, so Lawrow. Das Modell der "goldenen Milliarde", die Bevölkerung der Staaten des Westens mit den USA als Führungsmacht, das auf der Ausbeutung der Ressourcen der Weltbevölkerung beruhe, sei hoffnungslos überholt.
Demgegenüber entstehe eine gerechtere, multipolare Weltordnung mit neuen Zentren wirtschaftlichen Wachstums und politischer Relevanz in Asien, Lateinamerika und Afrika, die nicht zum Westen gehören und ihre "eigenen Interessen und ihre nationale Souveränität in den Mittelpunkt ihrer Prioritäten" stellen – mit beeindruckenden Erfolgen, wie Lawrow betont.
Die Abkehr vom westlichen Modell von gestern
Es sei nicht nur Russland, das seine Abhängigkeit vom US-Dollar aktuell verringere und auf alternative Zahlungssysteme und Abrechnungen in der Landeswährung umstelle. Der kollektive Westen versuche zwar, diesen Trend umzukehren, um seine globale Vorherrschaft zu bewahren, verstärke ihn am Ende damit aber nur, so Lawrow. Denn:
"Die Weltgemeinschaft ist der Erpressung und des Drucks der westlichen Eliten und ihrer kolonialen und rassistischen Tendenzen überdrüssig."
Bei dieser Entwicklung der Abkehr der Weltgemeinschaft vom Westen werde Russland als Zivilisationsstaat und größte eurasische und europazifische Macht seine Rolle spielen, zum Beispiel bei der Demokratisierung der internationalen Zusammenarbeit. Diese müsse "auf den Werten gleicher und unteilbarer Sicherheit, kultureller und zivilisatorischer Vielfalt" beruhen und allen Mitgliedern der Weltgemeinschaft gleiche Entwicklungschancen bieten – ohne nach Art des Westens in "zivilisierte" und "nicht-zivilisierte" Länder zu unterscheiden.
Eine solche Weltgemeinschaft entspreche Lawrow zufolge der Philosophie von Ubuntu, einer in den afrikanischen Subsahara-Ländern verbreiteten Vorstellung menschlicher Verbundenheit (Ubuntu ist ein Begriff aus den Bantusprachen und bedeutet so viel wie "Nächstenliebe, Menschlichkeit, Gemeinsinn"; Anm. der Redaktion). Russland habe sich stets für eine Stärkung der Position Afrikas innerhalb der multipolaren Weltordnung eingesetzt und werde dies auch in Zukunft tun, versprach Lawrow. So beispielsweise bei einem möglichen Prozess der Reform des UN-Sicherheitsrates, im Zuge derer die Interessen der Entwicklungsländer gewährleistet werden müssten.
Die Bedeutung der BRICS heute
Die Aktivitäten eines Zusammenschlusses wie BRICS stünden bereits für echte Multipolarität, stellte Lawrow fest, ebenso wie für ehrliche zwischenstaatliche Kommunikation. Trotz unterschiedlicher politischer Systeme, Wertegrundlagen und unabhängiger Außenpolitiken arbeite man in verschiedenen Bereichen effektiv zusammen. Ohne Übertreibung könne man BRICS daher als kooperatives Netz bezeichnen, das die herkömmlichen Nord-Süd- und West-Ost-Linien überwunden hat.
Durch die Schaffung einer Kultur des Dialogs auf den Grundsätzen der Gleichheit, des Respekts und der Rücksichtnahme sowie durch objektive Faktoren wie Territorium, Bevölkerung und Wirtschaftsleistung habe BRICS schon heute die Fähigkeit, die globale Agenda zu beeinflussen – und gewinne weiter an Schwung.
Als Beispiele nennt Lawrow die Strategie für die Wirtschaftspartnerschaft bis 2025; die auf russische Initiative hin ins Leben gerufene, funktionsfähige BRICS-Energieforschungsplattform; das BRICS-Zentrum für Impfstoff-Forschung und -Entwicklung; Initiativen gegen Korruption und für mehr Handel; Investitionen und Zusammenarbeit im Bereich der Lieferketten; und schließlich die BRICS-Strategie für Ernährungssicherheit.
Zu den unbedingten Prioritäten gehöre laut Lawrow aber die Entwicklung der Zusammenarbeit im Bereich der Finanzinstitutionen, etwa im Zuge der Stärkung der Neuen Entwicklungsbank und der Vereinbarung zur Gründung einer Organisation, die einen Reservefonds der BRICS-Staaten verwaltet. Diese und weitere Themen zum Zahlungsverkehr und der Stärkung nationaler Währungen würden daher im Mittelpunkt des BRICS-Gipfels in Johannesburg stehen.
Die Ziele der BRICS für morgen
Die Pläne der BRICS-Staaten seien zwar ambitioniert und global. Lawrow warnte jedoch davor, ihre Ziele misszuverstehen. Denn sie würden gerade nicht darauf abzielen, ein "neuer kollektiver Hegemon" zu werden. Vielmehr seien die BRICS bestrebt, "integrative Lösungen" auf der Grundlage eines kollektiven Ansatzes anzubieten:
"Die Mitglieder der Fünfer-Gruppe haben sich stets für die Schaffung von Bedingungen für die Entwicklung aller Staaten eingesetzt, was die Blocklogik des Kalten Krieges und geopolitische Nullsummenspiele ausschließt."
In diesem Sinne arbeite man konsequent daran, die Beziehungen des Verbandes mit den Staaten der Weltmehrheit auszubauen. Mit Verweis auf den zweiten Russland-Afrika-Gipfel am 27. und 28. Juli 2023 in Sankt Petersburg sei man bereit, in Afrika zum Wirtschaftswachstum und zur Stärkung der Sicherheit beizutragen, vor allem auch in den Bereichen Nahrungsmittel und Energie.
In diesem Zusammenhang sei es laut Lawrow nur natürlich, dass BRICS viele Gleichgesinnte in der ganzen Welt habe und als eine positive Kraft gesehen werde, "die die Solidarität der Länder des globalen Südens und Ostens stärken und zu einer der Säulen einer neuen, gerechteren polyzentrischen Weltordnung werden kann."
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