Der Präsident Weißrusslands, Alexander Lukaschenko, hat am Donnerstag der oppositionellen ukrainischen Journalistin Diana Pantschenko ein zweistündiges Interview gegeben. Dieses enthielt viele bislang unbekannte Informationen über den Beginn, den Verlauf und die Aussichten des militärischen Konflikts auf dem Gebiet der Ukraine.
Auf die Frage, warum Russland im Februar letzten Jahres in der Ukraine intervenierte, sagte Lukaschenko, dies solle man besser den ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij fragen. Die Ukraine habe bereits auf Weißrussland gerichtete Artilleriegeschütze an der ukrainisch-weißrussischen Grenze aufgestellt. Auch einen Wirtschaftskrieg habe die Ukraine gegen Weißrussland entfacht.
Den Krieg hätte man in jedem Moment vermeiden können, auch jetzt könne man ihn jederzeit stoppen. Der weißrussische Präsident sagte, dass Wladimir Putin für sämtliche Lösungs- und Kompromissvorschläge stets aufgeschlossen gewesen sei. Abgelehnt habe sie die ukrainische Seite, erst der frühere Präsident Petro Poroschenko, dann der heutige Präsident Selenskij. Russland sei bereit gewesen, die Minsker Vereinbarungen zu erfüllen, die Ukraine habe die Erfüllung sabotiert.
Auf die Frage, ob der russische Präsident von Lukaschenko verlangt habe, die Zugehörigkeit der Krim zu Russland und die Unabhängigkeit Abchasiens anzuerkennen, sagte das weißrussische Staatsoberhaupt, eine solche Forderung habe Putin nie erhoben.
Putin sei nicht verrückt geworden, er habe auch keine imperialen Ambitionen, betonte Alexander Lukaschenko. Es sei nicht Russlands Ziel, die Ukraine zu versklaven oder sie ihrer Unabhängigkeit zu berauben. Entsprechende Spekulationen seien "Unsinn". Die Ukraine bereite aber Russland und Weißrussland bewusst und berechnend zahlreiche Probleme.
Von dem Beginn der militärischen Sonderoperation habe er aus dem Fernsehen erfahren, beantwortete Lukaschenko die entsprechende Frage Pantschenkos. Einen Tag zuvor habe Putin ihm aber gesagt:
"Falls irgendetwas passieren sollte, halte mir bitte den Rücken frei."
Diese Funktion habe Weißrussland auch zugesagt und übernommen.
Neu und sensationell sind die Angaben dazu, warum Russland im März letzten Jahres Kiew nicht eingenommen habe. Das sei keineswegs einer effektiven Verteidigung der Stadt durch die ukrainische Armee geschuldet gewesen. Vielmehr habe Putin auf die Erstürmung der Stadt verzichtet, weil viele zivile Opfer befürchtet wurden. Lukaschenko erinnerte sich "fast wörtlich" an ein Gespräch, das er mit dem russischen Präsidenten in jenen Tagen hatte:
"Ich sagte ihm: 'Krieg ist Krieg. Damit er endet, muss die Hauptstadt des Gegners eingenommen werden.' Er antwortete mir: 'Weißt du, das könnten wir tun. Unverzüglich und schnell. Aber dabei wird eine gigantische Zahl von Menschen sterben. Die Ukrainer stellen Raketenwerfer mitten auf den Stadtstraßen, zwischen den Häusern auf. Sie verstecken sich hinter Kindergärten und Krankenhäusern. Wie soll ich dagegen militärisch vorgehen? Wir können nicht so frei schießen wie sie, unterschiedslos.' Er hatte also befürchtet, dass man so kämpfen müsste, dass von den Schulen und Krankenhäusern nichts übrig bleibt, weil sie sich darin verstecken."
Die Tage Kiews seien gezählt gewesen, als Putin die russische Armee von Kiew abzog. Das sei, betonte Lukaschenko, kein Verdienst Selenskijs gewesen. Er erinnerte auch daran, wie Selenskij auf den Straßen Kiews wahllos Gewehre verteilen ließ. Der ukrainische Präsident selbst habe die ganze Zeit "im Keller" verbracht und habe nichts verteidigt. Selenskij müsse sich für den russischen Truppenabzug "bei Juden und bei Katholiken höchstwahrscheinlich bedanken, die eine Garantie gegeben hatten, dass alles in Ordnung kommen wird", wenn Putin auf die Erstürmung Kiews verzichtet.
"Mehr werde ich dazu nicht sagen. Sollen Putin und Selenskij mehr erzählen",
schloss Lukaschenko diesen Block des Interviews.
Russland habe die Stimmung in der Ukraine vor Beginn der Intervention falsch beurteilt, ergänzte er. Heute sei Putin allerdings "ein anderer Mann", er sei durch die Erfahrungen der letzten Monate und Jahre weiser und listiger geworden, besser mobilisiert, ein "Putin im Quadrat", formulierte der Präsident.
Zu den Perspektiven des Krieges sagte Lukaschenko, dass die Ukraine ihn nicht mehr lange durchhalten werde. Die russische Armee habe sich regeneriert und neu erfunden. Die ukrainische Armee hingegen das motivierteste Personal verloren. Die Verluste der russischen Armee verhalten sich zu denen der ukrainischen Streitkräfte im Verhältnis eins zu acht. Allein durch die "Gegenoffensive" habe die Ukraine 45.000 Männer verloren.
Lukaschenko warnte die Ukrainer:
"Russland hat heute die neuesten Waffen an der Front und genügend Drohnen. Es ist eine völlig andere Armee. [...] Und das Gefährlichste ist, dass sie eine 250.000 Mann starke Reserve haben, mit den modernsten Waffen ausgerüstet. Sie werden euch an der Front zermalmen und euch dann von dem Schwarzen Meer abschneiden. Und im Westen bereiten sich schon die Polen vor. [...] Und dann wird von der Ukraine bestenfalls ein kleines Stück in der Mitte bleiben. Die Ukraine, unsere Ukraine, wird es nicht mehr geben."
Wenn die Ukraine nicht jetzt an den Verhandlungstisch zurückkehrt, werde es so kommen, so das weißrussische Staatsoberhaupt. Russland habe genug Kraft und "kein Westen" werde die Ukraine davor bewahren.
Die Verhandlungen müssen, so Lukaschenko, ohne Vorbedingungen beginnen. Am Verhandlungstisch könne alles Streitige erörtert werden. Natürlich wird Russland die Krim niemals "zurückgeben". Es sei auch zweifelhaft, dass sich mit dem Status des Donbass etwas ändern werde, aber gesprochen werden könne über alles, sagte der Präsident Weißrusslands.
An den Verhandlungen müsse auch Weißrussland beteiligt werden als unmittelbarer Nachbar der Ukraine, zumal es der "Ko-Aggression" beschuldigt werde.
Alexander Lukaschenko korrigierte in dem Interview einen aufgrund einer früheren Rede entstandenen falschen Eindruck. Weißrussland wird im Falle eines Überfalls gegen sich die nunmehr auf seinem Gebiet stationierten Nuklearwaffen unverzüglich und ohne Vorwarnung einsetzen. Man werde nicht wie Russland zögern, warten und warnen. Das gelte auch für die Ukraine, falls ein Angriff auf Weißrussland von dort ausgehen sollte.
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