In dieser Woche gab die Türkei überraschend ihre Blockade zum NATO-Beitritt Schwedens auf. Vielfach wurde spekuliert, was den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zur Aufgabe seiner Blockade bewogen hat bzw. was Erdoğan im Gegenzug bekam. Nun legte der US-Investigativjournalist Seymour Hersh einen neuen Enthüllungsbericht vor, der nahelegt, dass es eine entsprechende Vereinbarung zwischen US-Präsident Joe Biden und Erdoğan gab.
In seinem auf Substack veröffentlichten Artikel beschreibt der Investigativjournalist zunächst, dass bei den Demokraten Panik vor den US-Präsidentschaftswahlen im Jahr 2024 herrsche. Laut einer Quelle Hershs, die über ausgezeichnete Referenzen in der Partei verfügen soll, gebe es sogar (von Hersh als albern bezeichnete) Befürchtungen, dass Trump der Kandidat der Republikaner werden könnte und er Robert F. Kennedy Jr. zu seinem Vizepräsidenten machen wird. Dieses Duo könnte dann einen großen Sieg über einen strauchelnden Joe Biden erringen und auch viele demokratische Kandidaten für das Repräsentantenhaus und den Senat zu Fall bringen.
Angesichts der Panik der Demokraten hatte Biden in dieser Woche mit dem möglichen NATO-Beitritt Schwedens immerhin dafür gesorgt, dass sich die Lage etwas beruhigte. Offiziell ging es um einen möglichen EU-Beitritt der Türkei als Bedingung für Schwedens NATO-Mitgliedschaft und auch um den Verkauf von US-amerikanischen F16-Kampfflugzeugen an die Türkei. Hersh zufolge habe Erdoğans Kehrtwende jedoch vollkommen andere Gründe: Eine mit der Angelegenheit vertraute Quelle berichtete Hersh, dass Biden demnach versprach, dass der Internationale Währungsfonds der Türkei eine dringend benötigte Kreditlinie in Höhe von 11 bis 13 Milliarden Dollar gewähren würde. Ein Beamter, der direkt mit der Transaktion vertraut ist, sagte zu Hersh:
"Biden musste einen Sieg erringen, und die Türkei ist in akuter finanzieller Bedrängnis."
Neben den finanziellen Problemen hatte die Türkei bei dem Erdbeben im Februar 100.000 Menschen verloren und muss vier Millionen Gebäude wiederaufbauen. Somit versuchte man gegenüber Erdoğan zu suggerieren, dass er mit der NATO und Westeuropa "besser dran sei". Auch laut einem Bericht der New York Times wurde Reportern mitgeteilt, dass Biden Erdoğan angerufen habe, als er am Sonntag nach Europa flog. Bidens Coup, so die Times, würde es ihm ermöglichen zu sagen, dass der russische Präsident Wladimir Putin "genau das bekommen hat, was er nicht wollte: ein erweitertes, direkteres NATO-Bündnis". Im Bericht der Times war jedoch nicht von einer möglichen "Bestechung" die Rede.
Bereits im Juni hieß es in einer Analyse von Brad W. Setser vom Council on Foreign Relations mit dem Titel "Turkey's Increasing Balance Sheet Risks" ("Die zunehmenden Bilanzrisiken der Türkei"), dass Erdoğan die Wahl gewonnen habe und "nun einen Weg finden müsse, um eine drohende Finanzkrise zu vermeiden". Kritisch sei demnach die Tatsache, dass die Türkei "kurz davorsteht, wirklich keine brauchbaren Devisenreserven mehr zu haben ‒ und vor der Wahl steht, entweder ihr Gold zu verkaufen, einen vermeidbaren Zahlungsausfall zu riskieren oder die bittere Pille einer kompletten Kehrtwende und möglicherweise eines IWF-Programms zu schlucken".
Ein weiteres Schlüsselelement der komplizierten wirtschaftlichen Probleme, mit denen sich die Türkei konfrontiert sieht, ist die Tatsache, dass die türkischen Banken der Zentralbank des Landes so viel Geld geliehen haben, dass "sie ihre inländischen Dollar-Einlagen nicht einlösen können, falls die Türken jemals die Gelder zurückfordern sollten". Laut Setser herrscht im Kreml Gerüchten zufolge auch deshalb Empörung über Erdoğans Entscheidung, da Putin russisches Gas auf Kredit und zu günstigen Bedingungen an Erdoğan geliefert habe.
Hersh geht im Artikel weiterhin darauf ein, dass es in der Biden-Administration hinter der Fassade kriseln soll und einiges in Bewegung sei. Zudem soll Bidens Ukraine-Politik insbesondere in Geheimdienstkreisen mehr als kritisch gesehen werden, zumal die Offensive der Ukraine deutlich hinter den Erwartungen des Westens zurückbleibt. Dies merke man auch daran, dass entsprechende Berichte über die Offensive in der Washington Post und der New York Times in den letzten Wochen größtenteils von den Titelseiten verschwunden sind. Jake Sullivan, Bidens nationaler Sicherheitsberater, behauptete letzte Woche in Bezug auf Prigoschins Meuterei, dass diese Angelegenheit "die Schwäche des russischen Staatschefs bei der Führung und Kontrolle seines Militärs gezeigt habe".
Laut Hersh gebe es dafür jedoch keine Beweise, im Gegenteil: Laut Personen, die Zugang zu aktuellen Geheimdienstinformationen haben, geht man in Geheimdienstkreisen davon aus, dass Putin nach der "Implosion" von Prigoschin, die zur Aufnahme vieler seiner Söldner in die russische Armee führte, stärker denn je ist.
Man gehe ferner davon aus, dass ein nennenswerter Erfolg in der Ukraine zum jetzigen Zeitpunkt unmöglich sei:
"Bidens Hauptproblem in diesem Krieg ist, dass er am Ar*** ist."
Auch die Lieferung von Streubomben werde demnach nicht als sinnvoll erachtet, so der Beamte:
"Wir haben der Ukraine zu Beginn des Krieges keine Streubomben gegeben, aber jetzt geben wir ihnen Streubomben, weil das alles ist, was wir noch im Schrank haben. Sind das nicht die Bomben, die überall auf der Welt verboten sind, weil sie Kinder töten? Aber die Ukrainer sagen uns, dass sie nicht vorhaben, sie auf Zivilisten abzuwerfen. Und dann behauptet die Regierung, die Russen hätten sie zuerst im Krieg eingesetzt, was einfach eine Lüge ist."
Streubomben hätten außerdem keinerlei Chance, den Verlauf des Krieges zu ändern. Die eigentliche Sorge werde erst später in diesem Sommer, vielleicht schon im August, aufkommen, wenn die Russen, die den Angriff auf die Ukraine problemlos überstanden hätten, mit einer Großoffensive zurückschlagen würden.
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