Von Gert Ewen Ungar
Zur Einschätzung über Erfolg und Misserfolg des Krieges in der Ukraine ist es notwendig, sich die Zielsetzungen zu vergegenwärtigen. Für die russische Seite ist das relativ einfach: Nachdem der Versuch Russlands gescheitert war, seine Sicherheitsinteressen auf diplomatischem Wege durchzusetzen, griff das Land am 24. Februar 2022 zum Mittel des Krieges als der Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln und marschierte in die Ukraine ein. Die Zahl der Soldaten war begrenzt, das militärische Gerät ebenfalls. Das belegt, dass die Einnahme der gesamten Ukraine entgegen der Behauptungen westlicher Medien und Politik nicht das Ziel war. Russland rechnete zunächst mit einem kurzen Konflikt.
Die Hoffnung auf schnelle Verhandlungen und ein zügiges Ende der Spezialoperation waren groß und schienen sich zunächst auch zu erfüllen. Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland begannen bereits wenige Tage nach dem Beginn der militärischen Spezialoperation – eine Bezeichnung, die unter den damaligen Bedingungen ihre Berechtigung hatte.
Die Verhandlungen, die zunächst in Weißrussland, dann in der Türkei geführt wurden, wurden schließlich abgebrochen. Präsident Wladimir Putin zeigte kürzlich beim Treffen mit Vertretern Afrikas, die sich für Friedensverhandlungen einsetzen, den unterschriebenen Entwurf für eine Vereinbarung. Er belegte damit, dass Russland bereit zum Frieden und zum Kompromiss war. Der Krieg könnte schon längst wieder vorbei sein. Russland hätte sich zurückgezogen, die Ukraine wäre zu ihrem neutralen Status zurückgekehrt. Russland hätte einige seiner Ziele erreicht und hätte auf die Erreichung anderer im erzielten Kompromiss verzichtet.
Schwieriger zu beantworten ist die Frage nach den Zielen des Westens und der NATO. Um den Schutz der Souveränität und der territorialen Integrität der Ukraine kann es nicht gehen, denn dann hätte man die Ukraine zur Umsetzung der Minsker Vereinbarung gedrängt. Auch ist angesichts der antidemokratischen innenpolitischen Entwicklung in der Ukraine ausgeschlossen, dass es dem westlichen Bündnis tatsächlich um Demokratie geht. Die Ukraine war noch nie so weit von Demokratie und den viel beschworen "westlichen Werten" entfernt wie in ihrem aktuellen Zustand. Das mag man den Medienkonsumenten verheimlichen können, die sich ausschließlich aus westlichen Medien informieren. Die Verantwortlichen in den Ministerien und Regierungen wissen jedoch, wie es um die Ukraine steht.
Um Frieden geht es dem westlichen Bündnis ebenfalls nicht. Noch während der Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine sagte die EU die Lieferung von Waffen zu und machte damit deutlich, dass der Westen kein Interesse an einem kurzen Konflikt hat, der zudem in einem Kompromiss endet, bei dem zumindest ein Teil der russischen Forderungen umgesetzt wird. Es wurde deutlich: Der Westen will einen langen Krieg, und er will ihn auf Kosten der Ukraine. Er liefert seitdem in immer größerem Ausmaß Waffen und Munition. Die Ukraine trägt die Hauptlast eines Konflikts, der längst nicht mehr ihrer ist. Das Ziel ist ganz offenkundig, die Kräfte Russlands in einem langen Krieg zu binden. Die Ukraine ist dabei lediglich Mittel zum Zweck.
Allerdings gibt es in der westlichen Koalition keine einheitliche Vorstellung darüber, was als Erfolg zu werten ist, wie mittel- und langfristig mit der zerstörten Ukraine umzugehen ist und wie sich aus der Logik des Militärischen und der Eskalation wieder aussteigen lässt. Die Interessenlagen innerhalb des westlichen Bündnisses sind zu unterschiedlich. Eine Verständigung darüber fand bisher zudem nicht statt. Das droht nun für die NATO zu einer massiven Belastungsprobe zu werden. Darauf wird im Blog Lost in Europe in einem aktuellen Beitrag aufmerksam gemacht.
So wird im Blog darauf hingewiesen, dass es selbst zwischen Deutschland und Frankreich ganz unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, welche Perspektive der Ukraine für einen NATO-Beitritt geboten werden soll. Frankreich drängt wie Polen und die Länder des Baltikums auf eine schnelle Aufnahme der Ukraine ins Bündnis. Deutschland stellt sich an die Seite der USA, die ein verkürztes Verfahren zur Aufnahme ablehnen. US-Präsident Joe Biden hatte deutlich gemacht, dass der Krieg in der Ukraine vor Aufnahme des Landes beendet sein müsse.
Damit geht der Riss auch durch die EU, stellt Lost in Europe fest. Hinzu kommt, dass die Länder des Baltikums und Polen ganz andere Vorstellungen von den Kriegszielen haben. Sie wollen der Ukraine zu einem militärischen Sieg über Russland verhelfen. Dieses Ziel birgt die Gefahr einer massiven weiteren Eskalation des Konflikts bis hin zur nuklearen Auseinandersetzung zwischen der NATO und Russland. Die USA und Deutschland sind dagegen tunlichst darauf bedacht, dass ihr Engagement nicht als direkte Kriegsbeteiligung ausgelegt werden kann.
Die Türkei hat wiederum ganz eigene Vorstellungen. Das Land war an den Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine aktiv beteiligt. Die Türkei hat sich zudem maßgeblich in der Aushandlung des Getreideabkommens zwischen Russland und der Ukraine engagiert. Entgegen den anderen Ländern der NATO setzt Ankara weiterhin auf Diplomatie und bietet sich als Ort für Verhandlungen und der Suche nach Lösungen an. Die Türkei versucht zudem ganz offen, ihre Brückenfunktion nach Osten auszubauen und damit an politischem Gewicht zu gewinnen. So strebt das Land die Mitgliedschaft bei den BRICS an und ist Dialogpartner bei der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit.
Die Spreizung der Interessen innerhalb der NATO ist enorm. Der Krieg in der Ukraine hat die unterschiedliche Interessenlage innerhalb der NATO deutlich zutage treten lassen. Zwar betont das Bündnis seine Geschlossenheit, doch es ist offenkundig, dass der Ukraine-Krieg für das Bündnis eine massive Herausforderung darstellt und zu inneren Spannungen führt, denn wie all diese gegensätzlichen Haltungen diplomatisch überbrückt werden können, ist völlig unklar. Gleichzeitig setzt die NATO Einstimmigkeit als Grundlage für Beschlüsse voraus. Es scheint, die NATO hat sich mit ihrem Ukraine-Engagement überdehnt und steht an der Grenze der Handlungsfähigkeit.
Auch der Ukraine wird zunehmend deutlich, dass es um die Verlässlichkeit der NATO-Staaten schlecht bestellt ist. Ihr dämmert langsam, sie könnte vom Westen benutzt worden sein. Das macht ein Interview mit einem ukrainischen, namentlich nicht genannten Regierungsmitglied der Ukraine deutlich, das in der Wochenzeitung Die Zeit erschienen ist.
"In Kiew baut sich eine Welle schlechter Stimmung gegen die westlichen Unterstützer auf. Eine unterschwellige Panik lässt sich in den tapferen Bekundungen der Siegessicherheit vernehmen: Lasst ihr uns irgendwann doch hängen?"
Warum ist der Westen so zögerlich, warum liefert man keine Kampfjets, warum all die Hindernisse? All die Fragen, die man sich in Kiew stellt, haben eine ganz einfache Antwort: Weil der Westen sich über das Ziel, das er in der Ukraine verfolgt, selbst nicht im Klaren ist.
Für die Ukraine ist das brandgefährlich. Dass ihr das erst jetzt klar wird, ist erstaunlich und zeugt von einem unglaublichen Ausmaß an politischer Naivität innerhalb der ukrainischen Machtelite. Dass es sich bei der Unterstützung für Kiew nicht um den Kampf von Demokratie gegen Autokratie handelt, sondern die Ukraine der Austragungsort eines geopolitischen Konflikts zwischen der NATO und Russland ist, muss in der Ukraine eigentlich allen politisch Verantwortlichen klar sein.
Ebenso muss klar sein, dass der Westen und die NATO die Augen vor ukrainischen Kriegsverbrechen, vor Zensur und dem Verbot jeglicher Opposition nur so lange verschließen, solange die Ukraine dem diffusen gemeinsamen Ziel einer Eindämmung Russlands dienlich ist und der Preis für die Unterstützung in einem rationalen Verhältnis zum Ergebnis steht. Danach sieht es aber immer weniger aus, denn die militärischen Erfolge der Ukraine sind trotz der westlichen Unterstützung sehr begrenzt. Die Verbrechen der Ukraine werden daher in absehbarer Zeit auch im Westen zum Thema gemacht werden, schon um einen Rückzug aus der weiteren Unterstützung gesichtswahrend zu legitimieren. Die Ukraine sollte sich auf einen plötzlichen Stimmungsumschwung im westlichen Bündnis einstellen.
Für die NATO wird die Ukraine zunehmend zu einer Belastung. Hinzu kommt der ramponierte Ruf des Sicherheitsbündnisses. Das größte Militärbündnis der Welt mit dem höchsten Rüstungsetat weltweit streckt nach einem regional begrenzten Konflikt nach etwas mehr als einem Jahr die Segel: Es geht ihm die Munition für Artillerie aus. Gleichzeitig zeigen vom Westen gelieferte Systeme wie Leopard, Patriot und Bradley massive Schwächen. Waffen der neuesten Generation wie beispielsweise ein Pendant zur russischen Hyperschall-Rakete Kinschal hat die NATO schlicht nicht im Arsenal. Der Ansehensverlust für die NATO ist enorm.
Der Ukraine-Krieg endet für die NATO absehbar in einem Desaster. Man darf daher sehr gespannt sein, welche Antworten der NATO-Gipfel in Vilnius auf all diese offen zutage liegenden Verwerfungen liefern wird. Auch entgegen aller Bekundungen des NATO-Generalsekretärs: Die Auseinandersetzung der NATO mit Russland auf dem Gebiet der Ukraine hat die Schwächen des Bündnisses ganz deutlich gezeigt.
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