Von Iwan Timofejew
In Russland verbreitet sich zunehmend die Ansicht, dass das Ziel der USA – und des von ihnen geführten kollektiven Westens – darin besteht, eine "Endlösung der russischen Frage" zu erreichen. Es wird angenommen, dass diese "Endlösung" darin besteht, Russland zu besiegen, sein militärisches Potenzial zu zerstören, seine Staatlichkeit umzustrukturieren, seine Identität neu zu gestalten und Russland möglicherweise als Staat in seiner jetzigen Form zu beseitigen.
Diese Sichtweise wurde lange Zeit am Rande der außenpolitischen Denkfabriken gepflegt. Allerdings hat sich in den letzten anderthalb Jahren sehr viel verändert. Heute ist diese Wahrnehmung der Ziele des Westens in Russland zum Mainstream geworden. In der Tat erscheint diese Wahrnehmung ziemlich rational, wenn man sie in den richtigen Kontext stellt. Inzwischen verfolgt Russland selbst eine ähnliche Politik gegenüber dem ukrainischen Staat, dessen Existenz in seiner früheren Form und in seinen früheren Grenzen von Moskau als zentrale Sicherheitsherausforderung betrachtet wird.
Die historische Erfahrung des vergangenen Jahrhunderts zeigt, dass es in der außenpolitischen Praxis eher die Regel als die Ausnahme ist, einem Feind eine völlige Niederlage zuzufügen und anschließend seine Staatlichkeit wiederherzustellen. Somit besteht ein eklatanter Unterschied zu den Konflikten des 18. und 19. Jahrhunderts, in denen die militärische Niederlage des Feindes als eine Möglichkeit betrachtet wurde, ihm Zugeständnisse aufzuzwingen, nicht aber als eine Möglichkeit, ihn in seinen Grundfesten wiederherzustellen.
Die Erfahrungen des 20. und 21. Jahrhunderts verlaufen nicht immer linear, Wiederholungen sind jedoch offensichtlich. Die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg führte zu einer tiefgreifenden Umgestaltung der deutschen Staatlichkeit, was eher von inneren Widersprüchen bestimmt wurde, die wiederum aus der militärischen Niederlage erwuchsen.
Die Kapitulation Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg hatte weitaus radikalere Folgen: Das Land wurde geteilt, seiner außenpolitischen Autonomie beraubt und fast vollständig neu konstituiert. Die militärische Niederlage und die anschließende Besatzung führten auch zur Neugestaltung der beiden anderen Großmächte Japan und Italien. Die Sowjetunion war als siegreiches Land ein zentraler Akteur bei der Lösung der "deutschen Frage". Die UdSSR war auch aktiv an der Errichtung sozialistischer Regierungen in den von der Nazi-Besatzung befreiten Ländern beteiligt.
Der anschließende Kalte Krieg erschwerte diese Neugestaltung. Jeder Versuch stieß im Westen auf Widerstand. Manchmal endete das Tauziehen unentschieden, wie in Korea. Manchmal gewann die Sowjetunion die Oberhand. Sie trug beispielsweise dazu bei, den USA in Vietnam eine schmerzhafte Niederlage zuzufügen. In anderen Situationen waren die USA erfolgreich, beispielsweise bei der Unterstützung antisowjetischer Kräfte in Afghanistan.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion gab Washington freie Hand. Trotz der Rhetorik Moskaus, der Kalte Krieg habe für beide Seiten mit einem Sieg geendet, sah die Realität anders aus. Viele der ehemals sozialistischen Länder wurden mit aktiver Hilfe neuer lokaler Eliten und breiter öffentlicher Unterstützung rasch in euroatlantische Strukturen integriert. Russland selbst verkündete lautstark den Wunsch, in die "zivilisierte Welt" zurückzukehren. Dem von den USA geführten kollektiven Westen wurde gleichzeitig ein Freibrief für die Umgestaltung eines riesigen Gebiets gegeben, was sie nicht ohne Grund als Ergebnis eines unblutigen Sieges über die Sowjetunion betrachteten.
In Ermangelung eines Gegengewichts führten die USA mehrere militärische Interventionen durch, die ebenfalls eine völlige Umstrukturierung der angegriffenen Staaten zur Folge hatten. Jugoslawien zerfiel. Der Irak wurde besetzt, sein Staatsoberhaupt hingerichtet und das Regierungssystem umgestaltet. Es gab aber auch Misserfolge. In Afghanistan verwandelte sich ein schneller Sieg in einen hartnäckigen Guerillakrieg und einen anschließenden demütigenden Rückzug.
Zu einer militärischen Intervention im Iran kam es nicht, obwohl eine solche geplant war. Nordkorea wurde zur Atommacht, was die Wahrscheinlichkeit einer Invasion drastisch verringerte. Erfolgreiche US-Interventionen riefen den Unmut Moskaus hervor, der sich jedoch erst ab einem bestimmten Zeitpunkt in konkrete Maßnahmen umsetzte. In Russland wurden bis Ende der 2010er-Jahre umfangreiche westliche Investitionen, eine enge humanitäre Zusammenarbeit und das Interesse der russischen Gesellschaft am Westen gefördert oder zumindest nicht unterbunden.
Gleichzeitig führten zwei Trends zu anhaltender und wachsender Verärgerung der russischen Staatsmacht. Der erste Trend waren die zunehmend sichtbaren Versuche westlicher Länder, den russischen Staat zu umgehen und in einen direkten Dialog mit der russischen Öffentlichkeit zu treten. Dieses Paradigma stellte eine "gute Zivilgesellschaft" einer "schlechten Regierung" gegenüber. Moskaus wachsendes und verständliches Misstrauen wurde durch die Vorstellung ausgelöst, dass Russland ein "Regime" habe.
Damit wurde angedeutet oder sogar direkt festgestellt, dass der Westen die Zivilgesellschaft irgendwie der legalen russischen Regierung gegenüberstellte und diese nicht als Teil derselben politischen Gemeinschaft betrachtete. Je bewusster und demonstrativer dieser Ansatz westlicher Staaten wurde, desto stärker stieß er im Kreml auf Widerstand. Der Westen führte diesen Widerstand auf Mängel in der Demokratie in Russland zurück, was die Irritationen nur noch verstärkte.
Die russische Regierung wollte sich offensichtlich nicht auf externe Einschätzungen des russischen Staatsaufbaus verlassen. Dies umso weniger, als solche Einschätzungen zunehmend nicht nur von den gestandenen Demokratien im Westen, sondern auch von den osteuropäischen und baltischen Ländern, mit ihrem Füllhorn an historischen Missständen und angestauten Komplexen, verkündet wurde. Die Erfahrung der "Farbrevolutionen" im postsowjetischen Raum verstärkte die Befürchtungen Moskaus zusätzlich. In Georgien, Kirgistan und der Ukraine erhielten öffentliche Proteste volle moralische, politische und sogar materielle Unterstützung aus westlichen Ländern, während gleichzeitig die rechtmäßigen Behörden dämonisiert wurden.
Revolutionäre Machtwechsel, auch im Interesse der Demokratisierung und Entwicklung, wurden in Moskau zu Recht als Herausforderung wahrgenommen. Innerhalb der russischen politischen Elite herrschte ein starker Konsens, dass der Staatsaufbau nur aus eigener Kraft erfolgen kann. Jegliche Form der Beteiligung von außen galt als inakzeptabel. Dieser Konsens begann Mitte der 1990er-Jahre Gestalt anzunehmen, am Ende der ersten Amtszeit von Wladimir Putin, und ist mittlerweile zu einem klaren politischen Grundsatz geworden.
Der zweite Trend, der einen erheblichen Einfluss auf die veränderte Haltung Russlands hatte, bezog sich auf die Politik der USA und der EU im postsowjetischen Raum. Russland hat die Integration der mittel- und osteuropäischen Länder in westliche Strukturen geduldet, wahrscheinlich weil man davon ausging, dass diese Länder Gift für den Westen selbst sind. Entgegen dem im Westen verbreiteten Stereotyp, das Putin den Wunsch zuschreibt, die UdSSR wiederherzustellen, waren die wahren Ziele Moskaus weit von imperialen Ambitionen entfernt.
Russland war nicht daran interessiert, eine weitere große imperiale Last auf sich zu nehmen, lokale Eliten zu unterhalten und die Loyalität der Bevölkerung zu erkaufen. Man war mit der Neutralität der ehemaligen Sowjetrepubliken und sogar mit der Zusammenarbeit mit den USA im postsowjetischen Raum durchaus zufrieden, solange diese Zusammenarbeit auf Augenhöhe erfolgte.
Anfang der 2000er-Jahre hatte Moskau keine Einwände gegen die US-Militärpräsenz in Zentralasien und half sogar über einen längeren Zeitraum bei der Versorgung der westlichen Truppen in Afghanistan. Aber Moskau war mit der Aussicht auf westliche Projekte ohne russische Beteiligung kategorisch nicht einverstanden. Vor dem Hintergrund der aktiven Diplomatie Putins zum Aufbau konstruktiver Beziehungen zu den USA und der EU an allen Fronten blieb die Hoffnung bestehen, dass das Gebiet der ehemaligen UdSSR ein neutrales Feld der Zusammenarbeit bleiben würde.
Doch nach und nach wurde klar, dass die Inklusion Russlands zunehmend beschnitten wurde. Die oben erwähnten "Farbrevolutionen" waren somit ein weiterer Weckruf. Die wachsenden Bedenken der russischen Führung wurden zwar angesprochen und diskutiert, jedoch von den westlichen Partnern jedes Mal höflich abgetan. Offenbar sah der Westen einfach nicht die Notwendigkeit, die Interessen Russlands zu berücksichtigen.
Nach dem Zusammenbruch der Wirtschaft in den 1990er-Jahren, einer massiven Abwanderung von Fachkräften, einer Reihe interner Konflikte, grassierender Kriminalität, Korruption und Kapitalflucht erlangte Russland den Status eines reinen Energielieferanten – was bereits unter KPdSU-Generalsekretär Leonid Breschnew seinen Anfang genommen hatte –, gepaart mit einer sinkenden Geburtenrate, grassierendem Alkoholismus und einer übermäßig hohen Sterblichkeitsrate, wodurch Russland kaum mehr als ernst zu nehmender Konkurrent wahrgenommen wurde. Auch die lokalen Interessen einiger postsowjetischer Eliten spielten eine Rolle, die aus dem Beschwören der "russischen Bedrohung" des Westens politisches Kapital schlugen.
Es war eine große Fehleinschätzung, den Willen der russischen Staatsführung zu unterschätzen, die Eigenstaatlichkeit wiederherzustellen und ein Nullsummenspiel im postsowjetischen Raum zu vermeiden. Bei jeder neuen Krise versäumte der Westen, die reale Möglichkeit von Worst-Case-Szenarien in Betracht zu ziehen, in denen Russland seine Interessen mit Gewalt durchsetzen würde, als Gegenoffensive zur Neuformatierung des postsowjetischen Raums.
Die erste schwere Krise war der fünftägige Krieg mit Georgien, in dem die russische Seite nicht nur gewaltsam auf einen Angriff auf seine Friedenstruppen in Südossetien reagierte, sondern auch die Unabhängigkeit dieser Region und der Region Abchasiens anerkannte. Der Westen hatte damals die Weitsicht, die gravierenden Fehler der georgischen Führung anzuerkennen und die Krise mit Russland zu entschärfen.
Moskau reagierte rasch auf eine weitere ukrainische Farbrevolution im Jahr 2014 und antwortete mit dem "Frühling der Krim" und anschließend mit der Unterstützung des Widerstands im Donbass. Die Minsker Vereinbarungen eröffneten die Möglichkeit einer relativ einfachen Lösung des Konflikts. Allerdings hatte Russlands harte und entschlossene Linie im Westen bereits Besorgnis erregt.
Infolgedessen wählte die von den USA geführte Allianz einen Weg der Eindämmung und des Widerstands gegen Moskau. Die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland im postsowjetischen Raum – und insbesondere in der Ukraine – entwickelten sich schließlich zu einer regelrechten Rivalität, während die Minsker Vereinbarungen später von ehemaligen westlichen Staatsoberhäuptern – namentlich François Hollande und Angela Merkel – unverblümt als eine Hinhaltetaktik zur Zeitgewinnung und zur Vorbereitung eines neuen Krieges bezeichnet wurden. Die russische Unterstützung der syrischen Regierung hat gezeigt, dass Moskau bereit ist, "gesellschaftliche Anpassungen" auch außerhalb des postsowjetischen Raums zu unterbinden.
Trotz der Erwartung einer neuen Krise wurde das Szenario einer umfassenden Militäroperation gegen die Ukraine von vielen, auch in Russland selbst, als unwahrscheinlich angesehen, schließlich war Russland tief in die westlich orientierte Weltwirtschaft eingebettet. Die Abhängigkeit vom Handel mit der EU war hoch, während es in Russland keine Ablehnung westlicher Werte gab, obwohl bestimmte gesellschaftliche Phänomene und Bewegungen als Affront gegen traditionelle Werte kritisiert wurden.
Für den Kreml blieb die Sicherheit von Russlands Westgrenzen das zentrale Thema. Offenbar ging die russische Regierung davon aus, dass eine allmähliche Militarisierung sowohl der Ukraine als auch der Ostflanke der NATO unvermeidlich geworden ist, gefolgt von einer militärischen Krise zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Der Neonazismus war in der Ukraine noch nicht weit verbreitet und genoss keine breite Unterstützung in der Bevölkerung, doch die Toleranz der Kiewer Behörden gegenüber radikalen Bewegungen stieß in Russland auf heftigen Unmut.
Die Entscheidung, eine präventive Militäroperation zu lancieren, war ein Wendepunkt, der die Rivalität zwischen dem Westen und Russland radikal verschärfte. Der darauffolgende militärische Konflikt hat das Erbe der postsowjetischen Zeit weitgehend zunichte gemacht.
Eine Rückkehr zur Realität von 2021 wird es somit nicht geben. Es ist klar, dass Russland alles tun wird, um den neuen territorialen Status quo zu bewahren und das militärische Potenzial der Ukraine so weit wie möglich zu zerstören. Klar ist auch, dass der Westen alles tun wird, um Russland zu schwächen, und – falls diese Umstände eintreten sollten – auch etwaige interne Probleme zu seinem Vorteil nutzen wird. Es bleibt also die Frage, wie die aktuelle Krise enden wird.
Eine politische Lösung des russisch-ukrainischen Konflikts ist derzeit nicht in Sicht. Die Nachhaltigkeit eines Friedensabkommens, selbst wenn es zustande käme, wäre höchst fraglich. Der Westen befürchtet eine abrupte militärische Eskalation und einen Krieg mit Russland, der schnell in einen nuklearen Schlagabtausch münden könnte. Allerdings kann eine schrittweise direkte militärische Verwicklung der NATO in den Konflikt nicht ausgeschlossen werden.
Die Möglichkeit innerstaatlicher Unruhen in Russland wird in westlichen Medien ausführlich debattiert und analysiert. Bisher haben sich solche Ansichten aber nicht in offiziellen Stellungnahmen niedergeschlagen. Doch der Übergang vom Orakeln in der Gemeinschaft der Analysten und populistischen Äußerungen einzelner Politiker hin zu einer offiziellen Position dürfte nur eine Frage der Zeit sein.
Unruhen in einer großen Atommacht bergen große Risiken. Im Westen werden sie jedoch möglicherweise als weniger schwerwiegend wahrgenommen als eine direkte militärische Konfrontation. In der Zwischenzeit könnte eine interne politische Explosion Russland für lange Zeit aus dem Verkehr ziehen und es dazu zwingen, zu versuchen, sein gesamtes System neu aufzustellen. Bei einer solchen Entwicklung wird die Wahrung der Staatlichkeit und der Souveränität Russlands erneut zum Hauptthema eines jeden Konflikts werden.
Auch die Staatlichkeit der Ukraine steht auf dem Spiel. Es ist sehr wahrscheinlich, dass das Land aus der aktuellen Krise mit verringerten Kapazitäten, kürzeren Landesgrenzen und in völliger Abhängigkeit von externen Mächten hervorgehen wird.
Die USA sind in einer besseren Position. Es ist ihnen gelungen, ihre Verbündeten vor dem Hintergrund dieser Krise zu disziplinieren, und dennoch birgt dies Risiken für den eigenen Status. Allerdings sind die USA auch bereits in eine Rivalität mit China geraten und befinden sich in einer Situation der doppelten Abschreckung. Ein russischer Sieg in der Ukraine und eine Stärkung der Beziehungen zwischen Moskau und Peking wären eine große strategische Herausforderung für die USA.
Übersetzt aus dem Englischen.
Iwan Timofejew ist Programmdirektor des Waldai-Klubs und einer der führenden Außenpolitikexperten Russlands.
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