Nach langem Schweigen und öffentlicher Abwesenheit, die seit Anfang Mai des laufenden Jahres Anlass zu Spekulationen über seinen Gesundheitszustand gegeben haben, hat der oberste General der ukrainischen Streitkräfte, Waleri Saluschny, der US-amerikanischen Tageszeitung Washington Post (WP) nun offenbar ein umfassendes Interview gegeben. Da die WP kein Video mitliefert und nur ein Foto ohne jeden Bezug zum Datum oder zu aktuellen Ereignissen, müssen wir uns auf das Wort dieser Zeitung verlassen und eine Spur an Zweifel beibehalten. Beachtenswert ist das Interview dennoch.
Wie immer dreht sich alles um Waffen, mehr Waffen und noch mehr Waffen, die die Ukraine vom Westen erwartet und nach denen sie auch sonst pausenlos quengelt. Damit die ukrainische Gegenoffensive schneller vorankommt, brauche es mehr davon, von "jeder Waffe", so der untote General. Das sage er jedem, der ihm zuhört, einschließlich seines amerikanischen Amtskollegen, General Mark Milley, betont Saluschny laut WP.
Der ranghöchste unter den ukrainischen Generälen bringt in dem Interview seine Frustration über das Verhalten der "westlichen Partner" zum Ausdruck: Diese würden selbst niemals eine Offensive ohne Luftüberlegenheit starten, machten aber Druck auf ihn und die ukrainischen Streitkräfte, schneller voranzuschreiten, obwohl die Ukraine immer noch keine modernen Kampfjets erhalten hat. Die vor kurzem versprochenen amerikanischen F-16-Kampfflugzeuge werden wahrscheinlich erst im Herbst eintreffen.
Saluschny sagt, dass er sich ärgere, wenn er höre, dass die lang erwartete Gegenoffensive der Ukraine im Osten und Süden des Landes langsamer als erwartet angelaufen sei:
"Es ist keine Show, bei der die ganze Welt zuschaut und Wetten abschließt oder so. Jeder Tag, jeder Meter wird mit Blut gefüllt."
Nach Angaben ukrainischer Offizieller wurden seit Beginn der Großoffensive Anfang Juni insgesamt etwa 50 Quadratmeilen durch die ukrainische Armee zurückerobert.
Saluschny sagt, dass er mit Milley, den er "inzwischen sehr bewundert und als Freund betrachtet", mehrmals pro Woche in stundenlangen Gesprächen seine Sorgen teile. In diesen Gesprächen rede er auch offen über die Konsequenzen:
"Wir haben eine Vereinbarung: Rund um die Uhr sind wir in Kontakt. Manchmal kann ich also anrufen und sagen: 'Wenn ich in einer Woche nicht 100.000 Granaten bekomme, werden 1.000 Menschen sterben. Springen Sie in meine Schuhe.'"
Aber "es ist nicht Milley, der entscheidet, ob wir Flugzeuge bekommen oder nicht", betont der General.
Während die F-16 nach der Entscheidung des US-Präsidenten Joe Biden im Mai, einen internationalen Plan zur Ausbildung ukrainischer Piloten und zur Entsendung der Flugzeuge zu unterstützen, letztendlich irgendwann eintreffen werden, stellen laut Washington Post die "angespannten Munitionsvorräte der Ukraine" eine andere Herausforderung dar.
Im Februar habe NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg gewarnt, dass die "derzeitige Rate der ukrainischen Munitionsausgaben um ein Vielfaches höher ist als unsere derzeitige Produktionsrate". Das bedeutet, dass die Munition, die Saluschny nach eigenen Angaben benötigt, noch knapper werden könnte, je länger der Krieg dauert.
Im Vorfeld der seit langem geplanten Gegenoffensive erhielt die Ukraine erstmals westliche Kampfpanzer, darunter Leoparden und Schützenpanzer aus deutscher Produktion. Diese Panzer und Kampffahrzeuge waren zu Beginn der Gegenoffensive Anfang des Monats erstmals auf dem Schlachtfeld zu sehen. Einige sind bereits zerstört worden, räumt Saluschny ein und fügt hinzu:
"Wir haben die Leoparden nicht geholt, um auf Paraden zu fahren oder um Politiker oder Prominente mit ihnen zu fotografieren. Sie sind für den Krieg hierher gekommen. Und ein Leopard auf dem Schlachtfeld ist kein Leopard, sondern eine Zielscheibe."
Nochmals macht der ukrainische Kommandierende Druck wegen der Lieferung von Kampfflugzeugen:
"Sagen wir einfach, die Zahl der Flugzeuge (der NATO ‒ Anmerkung der Redaktion), die in der Nähe unserer westlichen Grenzen im Einsatz sind, ist doppelt so hoch wie die Zahl der russischen Flugzeuge, die unsere Stellungen verwüsten. Warum können wir nicht wenigstens ein Drittel davon von dort hierher verlegen?"
Da Russlands modernere Su-35-Flotte über ein weitaus besseres Radar und eine größere Raketenreichweite verfügt, können die älteren ukrainischen Jets nicht mithalten. Die Truppen am Boden sind daher leicht angreifbar, räumt Saluschny ein.
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