Eine Analyse von Pierre Lévy
Die Rebellion von Jewgeni Prigoschin war am 24. Juni kaum angekündigt worden, als sich bereits eine Armee von Experten, zivilen und militärischen Spezialisten und brillanten Akademikern auf zahlreichen Plattformen des französischen Fernsehens befand.
Während die Kolonne der Wagner-Truppen nur wenige Stunden später ankündigte, ihren Marsch nach Moskau aufzugeben, folgten "Debatten" (zwischen Gesprächspartnern, die sich in allem vollkommen einig waren) und "Talkshows" aufeinander; dann stimmten die Kommentatoren der Printmedien in den Chor ein.
Die meisten von ihnen hatten alles verstanden, alles analysiert und alles vorausgesehen. Die Pläne und Ängste des russischen Präsidenten wurden enthüllt. Die geheimen Schränke des Präsidentenbüros im Kreml müssen an diesen Tagen randvoll mit westlichen Spionen oder Journalisten gewesen sein, so viele intime Gemütszustände und vertrauliche Informationen wurden uns offenbart...
Ein Thema hat sich sowohl in den großen Medien als auch bei den politischen Führern durchgesetzt, das in der Schlagzeile auf der ersten Seite der führenden Tageszeitung Le Monde am 26. Juni perfekt zusammengefasst ist: "Putin durch Rebellion der Wagner-Gruppe geschwächt".
Die "linke" Tageszeitung Libération ließ ihrerseits einen renommierten Historiker zu Wort kommen, der meinte: "Für Putin ist es der Anfang vom Ende". Die liberale L'Opinion veröffentlichte eine peremptorische Analyse eines ehemaligen französischen Spions, in der es u.a. hieß: "Der Schaden ist angerichtet und das mafiöse Regime auf Bewährung wird nicht überleben".
Es stimmt, dass der US-Außenminister sehr schnell den Ton angegeben hatte, indem er auf die "Risse in der Fassade" des russischen Regimes hinwies, die die Ereignisse vom 24. Juni offenbart hätten. Der Chefdiplomat der Europäischen Union, Josep Borrell, äußerte sich am 26. Juni ähnlich: "Das politische System Russlands zeigt Schwächen, und die militärische Macht bekommt Risse".
Die Außenminister der EU-27, die an diesem Tag um ihn zusammengerufen wurden, sangen den gleichen Refrain. Annalena Baerbock freute sich über die "wichtigen Risse in der russischen Propaganda". Ihre finnische Kollegin setzte noch einen drauf: "Es ist üblich für autoritäre Staaten, dass alles sehr stabil erscheint, bis eines Tages nichts mehr stabil ist. Und ich erwarte eine solche Entwicklung auch für Russland". Die gemeinsame Schlussfolgerung der EU-Staats- und Regierungschefs ist ohne erkennbare Logik, aber auch nicht überraschend: Kiew soll verstärkt mit Waffen und Munition versorgt werden. Zu diesem Zweck wurde eine neue Mittelzuweisung von 3,5 Milliarden Euro beschlossen (durch Erhöhung der finanziellen Obergrenze).
Die russische Macht wäre also erschüttert, destabilisiert, geschwächt und sogar kurz vor dem Sturz. Ist das wirklich so?
Auch wenn niemand die Ereignisse der nächsten Wochen und Monate mit Sicherheit vorhersagen kann, so können doch einige faktische Erinnerungen hilfreich sein. Zunächst die offensichtliche Tatsache, dass der Anführer der Wagner-Gruppe nur wenige Stunden, nachdem er gesagt hatte, er werde "bis zum bitteren Ende durchhalten", auf die Verfolgung seiner aufrührerischen Absichten verzichtet hat. Zweitens wurde jegliches Blutvergießen vermieden: Es gab keine Opfer unter der Bevölkerung.
Man muss kein erfahrener Experte sein, um zu denken, dass die große Mehrheit der Bevölkerung angesichts dieser beiden Tatsachen erleichtert war und dass viele russische Bürger dies dem Präsidenten zuschrieben. Im Gegensatz dazu war in den Kommentaren der Experten auf den westlichen Kanälen eine gewisse Frustration und leise Enttäuschung nicht zu übersehen.
Diese war sogar explizit, als sich ein drittes Element bestätigte: Die Wagner-Expedition und die von ihr ausgelöste Verblüffung hatten keinerlei Einfluss auf die Operationen an der Front. Es war klar, dass die Salonstrategen – und wahrscheinlich auch die echten westlichen Generalstäbe – die Hoffnung hegten, dass die ukrainischen Streitkräfte die Gelegenheit zu militärischen Durchbrüchen nutzen würden, die bis heute noch nicht stattgefunden haben.
Sollte sich also der russische Präsident angesichts der Tatsache, dass Prigoschins Operation weder militärisch noch in Bezug auf die erhoffte politische Unterstützung erfolgreich war, wirklich in einer schwachen Position fühlen?
Ja, argumentieren die "Geopolitologen", denn Wladimir Putin hatte am Morgen einen "Verrat" angeprangert, bevor er einige Stunden später seine Rede änderte und dem Anstifter eine Art Amnestie versprach. Aber ist eine solche Kehrtwende zwangsläufig ein Eingeständnis der Schwäche – oder politische Klugheit, sofern Wagners Soldaten das Angebot erhalten, ihren militärischen Einsatz in der offiziellen Armee fortzusetzen?
Natürlich ist jede Situation spezifisch und Vergleiche sind schwierig. Man kann jedoch daran erinnern, dass im Frankreich des Jahres 1961, als es in den Algerienkrieg verwickelt war, der damalige Präsident der Republik, General de Gaulle, sich einem Putsch aufrührerischer Generäle stellen musste, der den Staat ins Wanken gebracht hatte. Diese waren aufgrund mangelnder Unterstützung zum Rückzug gezwungen worden. In der Folgezeit zeigte sich, dass de Gaulle dadurch nicht geschwächt worden war, ganz im Gegenteil.
In jüngerer Zeit musste sich der türkische Präsident im Juli 2016 mit der Rebellion eines Teils der Armee auseinandersetzen. Auch hier schien die Macht für einige Stunden bedroht zu sein. Die Bevölkerung folgte jedoch nicht und Recep Tayyip Erdoğan stellte die Lage wieder her. Anschließend nutzte er den gescheiterten Putsch, um seine Macht über das Land zu stärken. Es ist schwer zu behaupten, dass er zu diesem Zeitpunkt nachhaltig destabilisiert war.
In Russland wird die nahe Zukunft zeigen, wie es weitergeht. Dann wird es an der Zeit sein, die unwiderlegbaren Behauptungen der inspirierten Strategen in Erinnerung zu rufen. Und den Anteil an Propaganda zu messen, den diese enthielten.
Aber auch wie viel Selbstüberredung. Wunschdenken war schon immer ein weit verbreiteter Fehler unter den Menschen. Dies haben in den jüngsten Tagen die Stimmen aus dem Westen wohl auf besonders karikaturistische Weise veranschaulicht.
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