Dammbruch von Kachowka: Erdoğan fordert eine internationale Untersuchung

Die Ursachen und der Ablauf der Katastrophe durch die Zerstörung des Kachowka-Wasserkraftwerkes werden seit Tagen weltweit diskutiert. Die ukrainischen Behörden beschuldigen wieder einmal Russland für dessen angebliche Gräueltaten. Inzwischen haben russische Diplomaten in Moskau, Wien und New York mit detaillierten Beweisen belegt, wo die Verursacher der Katastrophe zu suchen sind. Auch die Türkei bemüht sich um eine multinational, unter UNO-Aufsicht arbeitende Kommission zur Aufklärung.

Von Maria Müller

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan telefonierte am siebten Juni mit seinen Amtskollegen in Moskau und Kiew. Er unterbreitete ihnen den Vorschlag einer internationalen Untersuchungskommission des katastrophalen Dammbruchs am Wasserkraftwerk Kachowka.

Die Ursachen sollten objektiv geklärt werden, verlangt Erdoğan. Doch eine heftige Gegenreaktion aus der Ukraine ließ nicht lange auf sich warten. Die Führung in Kiew kritisierte die Türkei für den Vorschlag einer von den Vereinten Nationen unterstützten Untersuchung des Vorfalls durch drei Parteien, denn Erdoğan befürwortet die Beteiligung von Experten aus der Ukraine, Russlands, der Türkei und der UNO.  

Der ukrainische Gesandte bei den Vereinten Nationen Sergei Kisliza behauptete, dass die Einleitung einer solchen Untersuchung "unmöglich" sei. Der ukrainische Außenminister Dmitri Kuleba sagte zudem, er habe "die Nase voll" von Aufrufen zur Untersuchung der Ereignisse während des Konflikts.

"Wir haben einfach die Nase voll von ihrem ständigen Spiel der Quasi-Gerechtigkeit. Es ist völlig klar, wer wer ist. Zu versuchen, alle glauben zu machen, dass die Ukraine da etwas in die Luft gesprengt hat? Gebt mir eine Pause, ihr Lieben. So etwas hatten wir schon. Mit den Russen ist das alles ein Verliererspiel", sagte er in der Frühstückssendung des ukrainischen Fernsehsenders 1+1.

Würde man ihn Kiew die Chance sehen, Russland damit an den Pranger zu stellen, hätte man sicherlich sofort zugestimmt. Gleichzeitig wurde ein nicht ganz neues Argument aus ukrainischen Regierungskreisen in den Vordergrund gestellt. Die Ukraine sei für absolut nichts verantwortlich, was auch immer im Rahmen des Krieges durch die eigenen Truppen verursacht wurde. Da der Angreifer Russland sei, müsse Russland auch für alles einstehen.

Laut der Genfer Konvention ist der Beschuss oder die Zerstörung von Wasserwerken oder Staudämmen ein Kriegsverbrechen, da die Wasserversorgung der Zivilbevölkerung als ein zentrales Menschenrecht gilt. Es ist übrigens hier auch daran zu erinnern, dass die Streitkräfte der Ukraine seit Beginn des Bürgerkrieges nach dem Putsch im Jahr 2014 immer wieder Wasserwerke und Wasserleitungen in den heutigen Volksrepubliken des Donbass zerstörten sowie den Kanal für die Wasserversorgung der Krimbevölkerung und deren Landwirtschaft mit Süßwasser blockierten.

HIMARS-Raketen und die gemeinsamen Kriegsverbrechen

Insofern ist der Vorschlag der Türkei positiv zu bewerten, aber für den kollektiven Westen heute besonders problematisch. Denn in den vergangenen Tagen erklärte Konstantin Gawrilow, der die russische Delegation bei den Wiener Gesprächen über militärische Sicherheit und Rüstungskontrolle leitet, dass die Zerstörungen sowohl von den USA als auch der Ukraine gemeinschaftlich ausgeführt wurden. Die Beweise resultieren aus der Technik der zahlreichen Angriffe mit HIMARS- Mehrfachraketenwerfern auf die gesamte Anlage des Staudamms und des Wasserwerkes bereits seit der Mitte des letzten Jahres.

Konstantin Gawrilow führte wörtlich aus:

"... bei HIMARS handelt es sich um einen Hochpräzisionskomplex, der über das US-amerikanische GPS-System gesteuert wird. Alle von den ukrainischen Streitkräften ausgewählten Ziele werden mit den Amerikanern auf einer der US-Militärbasen in Europa abgestimmt."

Die Koordinaten für die Angriffe werden von der US-Armee systemgerecht aufbereitet und präzisiert, und für jeden Schuss muss das ukrainische Heer sogar die Erlaubnis der US Army einholen. Nach Angaben von Gawrilow haben ukrainische Streitkräfte im Sommer und Herbst 2022 den Kachowka-Staudamm mit mehr als 300 HIMARS-Raketen angegriffen. Das russische Außenministerium hat berechnet, dass sie allein im Sommer-Herbst 2022 mindestens 28 Mal das Wasserkraftwerk Kachowka beschossen haben.

Seitdem sich HIMARS-Raketenwerfer in der Ukraine im Einsatz befinden, sind die USA für jedes angegriffene Ziel gleichermaßen verantwortlich. Der tägliche gezielte Beschuss von Wohngebieten im Donbass bei Verwendung von HIMARS-Systemen ist eine gemeinschaftliche Tat und insofern ein gemeinschaftliches Kriegsverbrechen, die Zerstörung der Wasser-Infrastruktur ebenso. Was denn sonst?

Dokumentarmaterial über die Angriffe auf den Staudamm und das Wasserwerk

Die Zerstörungen am Wasserwerk sind in zahlreichen Fotos und Video-Filmen dokumentiert. Hier sind einige der beeindruckenden Bild-Dokumente von RT (erneut) anzusehen.

Desgleichen sei hier auf den dokumentarischen Artikel des deutsch-russischen Berichterstatters Thomas Röper verwiesen, in dem bislang kaum bekannte Fotos über die ukrainischen Einschläge und nachfolgende russische Reparaturarbeiten veröffentlicht sind. Die Fotos zeigen durch die Perspektive auf die beschädigten Gebäude des Wasserwerks, dass die Kugeln und Raketen vom westlichen Ufer des Dnjepr kamen, das vom ukrainischen Militär kontrolliert wird.

Die russische Delegation im US-Sicherheitsrat liefert beweiskräftige Daten

Wassili Nebensja, der Vertreter der russischen Delegation im UN-Sicherheitsrat der UNO in New York, weist in seiner Erklärung vom 10. Juni 2023 ebenfalls darauf hin, dass der Staudamm bereits seit 2014 vom ukrainischen Militär beschossen wurde, um zu verhindern, dass die Kämpfer der Volksrepubliken das Wasserwerk einnehmen könnten.

Des Weiteren lieferte Nebensja eine detaillierte Auflistung der Angriffe auf das Wasserwerk seit dem 11. Juni 2022, die jeden Zweifel an der Täterschaft ausräumt. (zu finden am Ende dieses Artikels). Die Liste macht unmissverständlich deutlich, dass der Damm und das Wasserwerk durch den systematischen Beschuss "zermürbt", das Mauerwerk so lange geschwächt und technische Komponenten wie die Turbinen oder Schleusen derart beschädigt werden sollten, dass sie irgendwann dem Druck der Wassermassen nicht mehr standhalten würden.

Nebensja sagte außerdem: 

"Am 14. März 2023 erklärte der Leiter des Bezirks Nowokachowski, Wladimir Leontjew, dass das Wasserkraftwerk nicht nur regelmäßig beschossen wird, sondern dass es auch regelmäßig Versuche von Sabotage- und Aufklärungseinheiten der Streitkräfte der Ukraine gibt, in sein Territorium und seinen Damm vorzudringen. Ihm zufolge gibt es auch Scharfschützenaktivitäten, die die Durchführung von Reparatur- und Wartungsarbeiten an den Wasserbauanlagen unmöglich machen."

Schwachstellen des Staudamms wurden attackiert: Schleusen und Turbinen

Der Investigativjournalist der New York Times (NYT), Christiaan Triebert, sowie die Journalisten der Washington Post und der Financial Times, Evan Hill und Christopher Miller, veröffentlichten am 6. Juni Satellitenbilder des Kachowskaja-Staudamms vom 28. Mai und 5. Juni, aus denen hervorgeht, dass eine Woche zuvor am Schleusenabschnitt des Staudamms Wasser austrat und am Tag zuvor der Abfluss des Wassers zunahm. Triebert sagte, die Bilder könnten zeigen, dass der Damm mindestens eine Woche vor der angeblichen Explosion beschädigt worden sei.

Allerdings ist auf den Satellitenfotos gut sichtbar, dass am 28. Mai die Autostraße an der Stelle der Kurve beschädigt ist, während das Foto vom 5. Juni die gleiche Stelle als meterlangen Einbruch zeigt. Das Straßenstück ist an diesem Punkt nun völlig weggebrochen.

28. Mai                                  

5. Juni

In einem Interview mit der Washington Post im vergangenen Dezember enthüllte General Andrei Kowaltschuk, der damalige Befehlshaber der ukrainischen Truppen in der Region Cherson, dass Kiew einen Testangriff mit einer von den USA gelieferten HIMARS-Rakete auf eines der Schleusentore des Staudamms durchgeführt hatte und das Metall durchlöcherte.

Die ersten Angriffe erfolgten im Juni 2022 auf Schleusen und Turbinen

Russland warnte bereits am 14. August des letzten Jahres vor den ukrainischen Angriffen und deren unkontrollierbaren Folgen. Damals veröffentlichte RT Videoaufnahmen mit dem Hinweis: "Nach Angaben der Ukraine sei die Brücke von ihren Raketen- und Artillerieeinheiten gezielt beschossen worden, um den Nachschub der russischen Truppen abzuschneiden." Damals befand sich russisches Militär auch noch auf der rechten Seite des Dnjepr-Flusses.

In dem RT-Video erläutert ein Mitarbeiter des Wasserwerks, dass die Turbinen von der ukrainischen Seite so sehr beschädigt wurden, dass drei von sechs Turbinen abgeschaltet werden mussten. "Wir arbeiten in einem sehr gefährlichen Modus", sagte der Techniker im August. "Militärische Operationen in der Nähe des Kraftwerks sind inakzeptabel."

Auf den Fotos der Zerstörungen des Staudamms sieht man übrigens den offenen Turbinenraum, der in mehrere große Fragmente zerbrochen im Wasser versinkt. Das war offenbar eine der schwächsten Stellen des Damms.

Die Chronologie des Beschusses vom Wasserkraftwerk Kachowskaja durch die Streitkräfte der Ukraine nach Angaben des russischen Außenministeriums:

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