Wie viele Menschenleben forderten die US-Kriege nach dem 11. September 2001? Eine neue Studie vom Projekt "Kosten des Krieges" ("Costs of War") an der Brown University versucht, diese Frage zu klären.
Dabei geht es vor allem darum, zu ermitteln, wie viele indirekte Opfer diese Kriege forderten ‒ Menschen, die nicht infolge von Kampfhandlungen umkamen, sondern durch fehlende medizinische Versorgung, zerstörte Infrastruktur oder schlicht Hunger.
Es gebe bisher keine allzu großen Erfahrungen darin, solche Zahlen zu ermitteln, so die Autorin Stephanie Savell, und auch das Verhältnis, in dem direkte und indirekte Opfer stehen, sei erst ansatzweise ermittelt. Außerdem habe der Wohlstand des Landes einen gewaltigen Einfluss darauf.
"In einer neuen Studie über die Sterblichkeit in einer Region mit schweren Konflikten in der Zentralafrikanischen Republik, einem der ärmsten Länder der Welt, wurde belegt, dass gewaltsamer Tod zu 13 Prozent zur Sterblichkeit beitrug, weil die Menschen in großen Zahlen von Krankheiten wie Malaria und Durchfall und an Geburtskomplikationen bei Müttern und Neugeborenen starben. Im Gegensatz dazu legen die Belege nahe, dass in dem Krieg in den 1990ern im wohlhabenderen Bosnien die Mehrheit, etwa 67 Prozent, der mit dem Krieg verbundenen Todesfälle das Ergebnis von Gewalt waren."
Die Ursachen für solche indirekten Todesfälle sind vielgestaltig. Im Irak verursachten im Jahr 2011 der schlechte Zustand der Straßen und die Zerstörung der Ampeln, Fußgängerübergänge etc. mehr Todesfälle im Straßenverkehr, als durch terroristische Angriffe ums Leben kamen. Dieser Punkt, so Savell, wird oft unterschätzt, obwohl im Irak zwischen 2010 und 2013 jeder vierte Todesfall entweder direkte Kriegsfolge oder Folge eines Verkehrs- oder sonstigen Unfalls war.
Bekannter als die langfristige Folge sind Blindgänger oder auch die toxischen Hinterlassenschaften von Munition.
"Im Gefolge des US-Bombardements von Fallujah in 2004 dokumentierten Studien steigende Kindersterblichkeit, Leukämie- und Krebsraten, und einige legten nahe, dass diese Zunahmen mit den Wirkungen von Uran und anderen Schwermetallen zu tun hatten, die in Munition verwendet wurden. Eine Studie zeigte, dass die Bleibelastung von Kindern in Basra im Irak 50 Mal höher lag als in Nachbarländern, die nicht im Krieg waren."
Die US-Stützpunkte haben im Irak, in Afghanistan und andernorts ebenfalls giftige Spuren hinterlassen, vor allem durch ihre Angewohnheit, Waffen, Batterien, Computer und andere Arten des Abfalls in offenen Feuergruben zu verbrennen. Allein bei der US-Veteranenbehörde wurden 200.000 US-Soldaten gemeldet, die dadurch gesundheitliche Probleme hatten. Die umliegende Bevölkerung hat sie ebenso, bis hin zu Kindern, die mit ernsten Schädigungen geboren werden.
Auch die Zerstörung von chemischen Fabriken oder Öllagern verursacht langfristige Schäden. Auf der anderen Seite werden oft Wasserver- und -entsorgung ebenso beschädigt. Das führt dann zur Verbreitung durch Wasser übertragener Krankheiten, wie Durchfall, Hepatitis, Typhus und Cholera.
"2017 schätzte die Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass etwa 15 Millionen Jemenis keinen Zugang zu trinkbarem Wasser und Kanalisation hatten. Das trug massiv zur Cholera-Epidemie von 2016 bis 2018 bei, bei der sich 14 Millionen von einer Bevölkerung von 25 Millionen infizierten und über 2.000 starben."
Die Zerstörung von Infrastruktur betrifft ebenso die medizinische Versorgung. Oftmals werden Krankenhäuser, im Gegensatz zur Genfer Konvention, geradezu zu besonders beliebten Zielen. In manchen Fällen, wie in Afghanistan, für alle beteiligten Seiten. Zu den Kriegsschäden kommen dann oft noch Sanktionen.
"Nach dem US-Rückzug aus Afghanistan blieb alle ausländische Finanzierung für die Gesundheitsversorgung plötzlich aus, und einen Monat später waren Berichten zufolge über 80 Prozent der Gesundheitseinrichtungen außer Betrieb."
Allein zwischen Januar und März 2022 starb dort eines von zehn Neugeborenen. In Libyen ging infolge des Krieges die Lebenserwartung um neun Jahre für Männer und sechs Jahre für Frauen zurück. Hier hatte die US-Bombenkampagne besonders viele Kliniken beschädigt.
Mit in diesen Zusammenhang gehört die Abwanderung von medizinischem Personal. Beispiel Irak: "In den fünf Jahren nach der US-Invasion 2003 flohen geschätzt 18.000 Ärzte aus dem Land – mehr als die Hälfte derer, die zu diesem Zeitpunkt noch vorhanden waren. Im Dezember 2011, als sich die US-Soldaten offiziell zurückzogen, wurden Ärzte in Bagdad mit einer Quote von 47,6 pro Tausend monatlich getötet, und beinahe 5.400 Mediziner wanderten jährlich aus."
Eine zerstörte Wasserversorgung betrifft, gerade in Staaten des Nahen Ostens, auch die Landwirtschaft und damit die Nahrungsversorgung. Häfen, die für den Import von Nahrungsmitteln benötigt werden, sind oft zerstört, wie beispielsweise der Hafen Hodeidah im Jemen.
Armut und Hunger sind die sichtbarste Ursache der indirekten Kriegstoten. Wenn die Verbindungswege unterbrochen sind und damit oft die Nahrungsmittelversorgung, dann folgen Armut und Unterernährung auf dem Fuß, und die Unterernährung wiederum führt zu weit verheerenderen Folgen von Infektionskrankheiten.
"Während der Zeit der US-Besatzung war Unterernährung in Afghanistan allgegenwärtig, aber seit dem US-Rückzug im August 2021 schoss sie in den Himmel. Die afghanische Wirtschaft ist zusammengebrochen und mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt jetzt in extremer Armut, von weniger als 1,90 US-Dollar am Tag. 95 Prozent der Afghanen bekommen nicht genug zu essen."
Dabei trägt das Handeln des Westens, das schon für den Krieg selbst gesorgt hat, auch hier noch weiter dazu bei, die Lage zu verschlimmern. In Somalia wurden 2009 US-Hilfen eingestellt, weil nicht nachgewiesen werden konnte, dass Al-Shabaab keinen Zugang dazu bekäme. 2010 zog sich auch der Welternährungsfonds zurück. Im Juli 2011 erklärte die UN dieses Gebiet zum Hungergebiet, aber die mobilisierte Hilfe war nicht ausreichend, was letztlich zum Tod von mindestens 258.000 Menschen führte.
"Nicht nur in den Kriegen nach 9/11, sondern in den meisten größeren Konflikten seit Ende der 1980er waren Unterernährung und Krankheiten die Haupttodesursachen."
In Afghanistan, Jemen und Somalia liegt der Anteil der Kinder unter fünf Jahren, die an Auszehrung leiden, über 40, in Somalia sogar bei fast 60 Prozent. Unterentwickelt sind in Afghanistan und im Jemen über 30 Prozent ‒ lediglich Somalia liegt knapp darunter, aber nur, weil eben so viele bereits ausgezehrt sind.
Eine weitere Ursache für indirekte Opfer ist die Vertreibung, wobei das, so die Autorin, durchaus widersprüchlich sein kann, weil manchmal Flüchtlinge besser durch Hilfe zu erreichen sind. Aber insbesondere für Binnenflüchtlinge ist die Lage meist problematisch, und das gedrängte Zusammenleben und die fehlenden sanitären Einrichtungen fördern auch hier Infektionskrankheiten.
Womöglich am schwersten zu bemessen sind die Opfer von Gewaltakten, die die Folgen von Traumatisierungen sind, oder von Depressionen. Dennoch müssen sie als Opfer des Krieges wahrgenommen werden ‒ selbst wenn sich diese Folgen über Generationen hinziehen können.
Die Vielfalt, in der Kriege weiterwirken – der Titel der Studie lautet übersetzt: Wie der Tod den Krieg überlebt –, führt dazu, dass die Gesamtzahl der Opfer deutlich steigt. Während die untersuchten Kriege in Afghanistan, Irak, Syrien, Jemen und Somalia direkt bis zu 937.000 Opfern forderten, liegt die Zahl der indirekten Kriegstoten bei bis zu 3,7 Millionen. Die behandelten Interventionskriege der Vereinigten Staaten von Amerika forderten also insgesamt etwa 4,5 bis 4,6 Millionen Menschenleben.
Es seien noch weit mehr Forschungen nötig, um all diese Fragen genauer zu beleuchten und diese fortgesetzten Kriegsfolgen besser bestimmen zu können, so Savell.
"Solche Informationen können helfen, globale, regionale und lokale Interventionen zu informieren, um den Verlust weiterer Leben zu verhindern. Sie können auch Menschen und Organisationen helfen, ihre Regierungen, einschließlich jener der Vereinigten Staaten, aufzurufen, das menschliche Leid zu lindern, das aus den Kriegen nach 9/11 resultiert. Diese Kriege gehen für Millionen rund um die Welt weiter, die mit den Folgen leben und durch sie sterben. Reparationen sind erforderlich, auch wenn sie weder einfach noch billig sind."
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