Eine Analyse von Andrei Restschikow
Das Beispiel der BRD, die zum Mitglied der NATO im Jahr 1955 wurde, könnte für die von Selenskijs Regierung kontrollierten ukrainischen Gebiete angewandt werden. Wie die US-amerikanische Zeitung The New York Times berichtet, ziehen einige europäische Länder dies in Erwägung. "Das westdeutsche Modell gewinnt in einigen europäischen Hauptstädten an Popularität als ein Mittel, der Ukraine reale Sicherheit zu verschaffen, selbst wenn sie ihr Territorium nicht sofort wiedererlangt", schreibt die Zeitung.
Dennoch habe sich Westdeutschland bei seinem Beitritt zur NATO nicht im Krieg mit der DDR befunden, und beide Staaten waren im Jahr 1949 international anerkannt, so der Artikel weiter. Dabei wolle im Westen kaum jemand einen endlosen Krieg aus Furcht vor schwindender Unterstützung der Bevölkerung und Defiziten bei der Produktion von Panzern, Luftabwehrmitteln und Munition, die die Ukraine benötigt.
Zuvor rief Estlands Ministerpräsidentin Kaja Kallas, die als eine wahrscheinliche Kandidatin für den Posten des NATO-Generalsekretärs gilt, die Allianz dazu auf, einen konkreteren Strategieplan für den Beitritt der Ukraine auszuarbeiten. Ihr zufolge wäre ein Beitritt der Ukraine zur NATO viel günstiger als ihre Verwandlung in einen "militarisierten Igel" im Verlauf der kommenden 50 Jahre.
Wie der Artikel von The New York Times anmerkt, werde im Fall der Ukraine vieles von der Frontlage nach der erwarteten ukrainischen Offensive abhängen sowie davon, ob diese Offensive zu einem längeren Waffenstillstand, relativ stabilen Grenzen oder sogar Friedensverhandlungen führen könnte.
Mitte vergangener Woche behauptete NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, dass ein Beitritt der Ukraine zur Allianz vor dem Ende des militärischen Konflikts außer Frage stehe und unmöglich sei. Wie Bundeskanzler Olaf Scholz anmerkte, erfülle die Ukraine zahlreiche Kriterien, die zum Beitritt zur NATO nötig sind, nicht. Dennoch suchen mit dem nahenden Gipfeltreffen in Vilnius die Allianzmitglieder nach Wegen, ihre Grenzen auf Kosten der Ukraine auszuweiten.
"Die Krise hat eine Stufe erreicht, bei der alle im Westen verstehen, dass man irgendetwas tun sollte, aber niemand weiß, wie die Ziele erreicht werden sollen. Deswegen können wir die verworrensten und merkwürdigsten Vorschläge erwarten, darunter die Erweiterung der Allianz auf Umwegen", erklärte Stanislaw Tkatschenko, Professor des Lehrstuhls für europäische Forschungen der Fakultät für internationale Beziehungen der Staatlichen Universität Sankt Petersburg und Experte des Waldai-Clubs.
"Dennoch klingt die Idee eines westdeutschen Modells zum NATO-Beitritt der Ukraine absolut wild zumindest in dem Sinne, dass dieser Vorschlag die territoriale Integrität der Ukraine verneint. Dabei stellt gerade dieses Detail für den Westen die Vorbedingung für Verhandlungen dar, zumindest in der Öffentlichkeit", bemerkte der Politologe.
Der Experte vermutete, dass die neue Initiative von Staaten mit mangelnder Verantwortung, wie den baltischen Staaten oder Polen, vorgeschlagen werden könnte. "Aber ich bin mir nicht sicher, ob sogar die polnischen Eliten diese Idee unterstützen, denn Polen möchte im schlimmsten Szenario den westlichen Teil der Ukraine annektieren, allerdings nicht auf solche Weise", fügte der hinzu.
"Solange die Kämpfe weitergehen, wird sich niemand, selbst nicht die größten Hitzköpfe im Baltikum und Polen, für einen Beitritt der vom ukrainischen Militär kontrollierten Territorien zur NATO einsetzen. Nach dem Ende der Kampfhandlungen könnten aber nicht nur Polen und die baltischen Länder dieses Szenario vorschlagen, sondern auch etwa Kroatien. Die Niederlande, Dänemark und Portugal scheinen keine größeren Einwände zu haben. Die restlichen europäischen Staaten verspüren dagegen keinen starken Wunsch danach", erklärte Wadim Truchatschew, Dozent des Lehrstuhls für ausländische Regionalkunde und Außenpolitik der Russischen Geisteswissenschaftlichen Universität.
Der Experte äußerte die Meinung, dass beim kommenden NATO-Gipfel im Juni der Beitritt Schwedens zur Allianz und die militärische Hilfe an die Ukraine auf der Tagesordnung stehen werden. "Ein Teil der Ukraine wird nicht in die NATO aufgenommen. Sie würden eher Moldawien und Georgien aufnehmen, obwohl auch sie territoriale Probleme haben", vermutete Truchatschew.
Tkatschenko versicherte, dass in der Ukraine solche Szenarien schlecht aufgenommen werden. "Dies würde bedeuten, dass die gegenwärtige Regierung entsorgt wird und jemand benötigt wird, um dieses Projekt zu realisieren. Faktisch würde ein solcher Schritt für die EU und die USA das Eingeständnis einer militärischen Niederlage bedeuten. Dies würde wiederum den Sturz der politischen Elite in der Ukraine verursachen", erklärte der Experte.
Eine andere Ansicht vertritt Truchatschew. Sollten die NATO-Staaten beschließen, die Ukraine partiell aufzunehmen, werde sich niemand für Kiews Meinung interessieren, erklärte er. "Ja, die ukrainische Regierung wird einen Hysterieanfall haben, doch wird ihre Position in einer solchen Lage niemanden interessieren. Für uns wäre eine solche Variante allerdings sicher nicht hinnehmbar. Wozu brauchen wir Charkow in der NATO?", fügte er rhetorisch hinzu.
Dass die Ukraine unweigerlich verschwinden werde, schrieb jüngst auf seinem Telegramkanal der stellvertretende Vorsitzende des russischen Sicherheitsrats, Dmitri Medwedew. Ihm zufolge seien nach einem Zerfall des Landes mehrere weitere Szenarien wahrscheinlich. Bei einem davon würden die westlichen Gebiete der Ukraine "unter die Kontrolle einer Reihe von EU-Staaten mit darauffolgendem 'Anschluss' durch die Empfängerstaaten" übergehen.
"Dabei bleibt ein gewisses ukrainisches Territorium als eine Art 'Niemandsland' erhalten, das zwischen Russland und den Gebieten, die unter die Souveränität der europäischen Staaten übergingen, eingequetscht ist. Das verbliebene herrenlose Territorium erklärt seine Nachfolge von der ehemaligen Ukraine, internationale Rechtssubjektivität und die Absicht, die verlorenen Gebiete mit allen Mitteln zurückzuerlangen. Natürlich wären damit nur jene Gebiete gemeint, die Russland beitraten", vermutete Medwedew.
Seiner Meinung nach würde gleichzeitig die "neue" Ukraine ihre Absicht verkünden, der EU und der NATO beizutreten, was mittelfristig auch geschehen werde. "Ein bewaffneter Konflikt beginnt in Kürze von Neuem und verwandelt sich in einen permanenten, allerdings mit dem Risiko seines schnellen Übergangs in einen vollwertigen Dritten Weltkrieg", erklärte der Politiker.
Die zweite Variante wäre ein Verschwinden der Ukraine nach der militärischen Spezialoperation wegen ihrer Aufteilung zwischen Russland und einer Reihe von EU-Staaten, wobei eine ukrainische Exilregierung gebildet werden würde: "Dann endet der Konflikt mit akzeptablen Garantien seiner Nicht-Wiederaufnahme in nächster Zukunft, allerdings bleiben terroristische Aktivitäten ukrainischer Nazis, die über das Gebiet der europäischen Staaten verstreut werden, erhalten. In diesem Fall kann das Risiko der Erneuerung eines vollwertigen Konflikts oder seines Übergangs in einen Weltkrieg als gemäßigt angesehen werden."
Im dritten Fall würden die Ereignisse des ersten Falls "unter umgekehrten Vorzeichen" stattfinden. "Westliche Gebiete der Ukraine treten einer Reihe von EU-Staaten bei. Das Volk der zentralen und einiger weiterer herrenloser Gebiete der Ukraine erklärt im Rahmen des Artikels 1 der UNO-Satzung seine Selbstbestimmung durch einen Beitritt zur Russischen Föderation. Seine Bitte wird gewährt, und der Konflikt endet mit hinreichenden Garantien seines Nicht-Wiederbeginns in langfristiger Perspektive", fügte der Politiker hinzu.
"Andere Varianten gibt es schlicht nicht. Dies ist schon allen klar, selbst wenn einige im Westen es ungern zugeben würden. Für uns wäre die zweite Variante vorerst akzeptabel, doch wir benötigen die dritte", schlussfolgerte Medwedew.
Der Westen sei zu solchen Varianten allerdings sicher nicht bereit, weil die USA "eine ewige Fortsetzung des Konflikts" wollen, erklärte Tkatschenko. "Für sie ist es ein universelles Mittel, Russland zu schwächen und China indirekt zu beeinflussen. Falls in der Ukraine eine Anarchie eintreten und das Machtzentrum verschwinden sollte, sind natürlich unterschiedlichste Varianten denkbar", sagte der Politologe.
Nach Truchatschews Meinung spielte Medwedew zwar auf historische Parallelen an, doch in Wirklichkeit brauche etwa Polen "keine Millionen Bandera-Anhänger" aus der Westukraine. "Die NATO würde gern ihre Militärbasen in der Ukraine stationieren, doch nicht mehr als das. Möglicherweise könnte Rumänien einen Teil des Gebiets Tschernowzy und Ungarn einen Teil von Transkarpatien einverleiben. Insgesamt wird die Westukraine aber wahrscheinlich eine formelle Souveränität behalten", vermutete er.
Für Russland bestehe indes die prinzipielle Frage darin, dass die Gebiete Neurusslands und des Dnjepr-Beckens nicht unter die Kontrolle der NATO geraten. "Zum Teil der Allianz können jene Regionen werden, die westlich der Stadt Chmelnizki liegen, denn dort lebt tatsächlich eine gegenüber Russland feindselige Bevölkerung", schlussfolgerte Truchatschew.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei Wsgljad.
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