Eine Analyse von Björn Kawecki
Die westlichen Unterstützer Kiews, allen voran die Staaten der G-7 und die Europäische Union (EU), sorgen seit Ausbruch des Krieges im Februar 2022 mit riesigen Mitteln dafür, dass die Ukraine kampf- und wirtschaftlich überlebensfähig bleibt. Die finanzielle und militärische Unterstützung der USA betrug im Februar rund 71 Milliarden Euro, die der EU und ihrer Mitgliedsstaaten im Mai rund 53 Milliarden Euro. Deutschland hatte hieran einen Anteil von knapp 17 Milliarden Euro. Diese enormen Summen könnten aber erst der Anfang sein. Denn bei den bisherigen Milliarden aus den Staatshaushalten des Westens handelt es sich noch um reine Sicherheitshilfe, die weitgehend bedingungslos gezahlt wird.
Die Kosten für den Wiederaufbau der Ukraine hingegen werden sich laut Schätzungen der Weltbank für die nächsten zehn Jahre auf 383 Milliarden Euro belaufen. Besonders kostenintensiv sollen die Bereiche Transport, Wohngebäude und Lebensunterhalt ausfallen. Danach kommen die Kosten für die Räumung von Munition und Sprengstoff.
Achim Steiner, seit 2017 Leiter des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP), bestätigte jüngst die Zahlen der Weltbank. Weiter geht Steiner davon aus, dass die Gelder aus dem Westen aus einer Mischung aus öffentlicher Entwicklungsfinanzierung und Zuschüssen bestehen werden; mit anderen Worten aus US-amerikanischen und europäischen Steuergeldern. Hinzu kämen verbilligte Kredite von der Weltbank, der Europäischen Investitionsbank und Europäischen Bank für Wiederaufbau und, ganz wichtig, private Investoren und Unternehmen.
Hohes Investitionspotenzial
Ob es bei den veranschlagten Summen tatsächlich um den Wiederaufbau der Ukraine gehen soll, sei dahingestellt. Immerhin beschränken sich die aktiven Kampfhandlungen bislang vor allem auf den Osten des Landes. Welches Investitionspotenzial in der Ukraine steckt, verdeutlicht allerdings ein Blick auf den Bausektor. Im Zeitraum 2016 bis 2018 verzeichnete die ukrainische Bauindustrie nämlich ein jährliches Wachstum von 17,5 Prozent. Im selben Zeitraum stieg der Produktionswert der Branche von 10,2 Milliarden US-Dollar auf 14 Milliarden US-Dollar. Eine Prognose vor dem Krieg rechnete mit einer weiteren Steigerung bis 2023.
2018 genehmigte die ukrainische Regierung außerdem das Programm Drive Ukraine 2030, das den Ausbau der Straßen-, Schienen-, Flughafen- und Hafeninfrastruktur im ganzen Land vorsieht. Investitionsvolumen: 60 Milliarden US-Dollar über das Lieblingsmodell von Neoliberalen: die öffentlich-private Partnerschaft. Die geplanten Bauprojekte in der Ukraine zusammengenommen beliefen sich vor dem Krieg auf 57,4 Milliarden US-Dollar. Kurz gesagt: Wenn der ukrainische Staat Aufträge an Unternehmen erteilt, geht es um eine Menge Holz.
Kampfansage an die Korruption
Was die privaten Investitionen aus dem Ausland jedoch erschwert – und um die und eine möglichst hohe Rendite geht es vermutlich beim sogenannten "Wiederaufbau": Die Ukraine ist notorisch korrupt. Beispielsweise gingen bei staatliche finanzierten Bauprojekten vor dem Krieg im Durchschnitt 30 Prozent für Korruption drauf, von denen zehn Prozent als "Rückvergütung" in die Taschen von Beamten flossen.
Josh Rudolph, leitender Wissenschaftler bei der Allianz für Demokratiesicherung des German Marshall Fund, und Norman Eisen, leitender Wissenschaftler für Regierungsstudien am Brookings-Institut, sehen das Problem der Korruption als so drängend an, dass sie sogar eine "zweite Gegenoffensive" gegen diesen "anderen langjährigen Feind des ukrainischen Volkes" ausrufen.
Lobende Worte finden die Autoren hingegen für die Einrichtung eines Registers für wirtschaftliches Eigentum, eines digitalen Systems für das öffentliche Beschaffungswesen, einer Datenbank für politisch exponierte Personen sowie eines Systems zur Vermögenserklärung. Mit diesen Reformen habe Kiew einen "neuen internationalen Goldstandard" geschaffen. Ebenso habe Kiew bereits ganze Bereiche des Staates und der Wirtschaft umstrukturiert, die vorher Oligarchen gehörten (Energie, Gesundheit, Bildung, Land) oder für Korruption anfällig waren (Zoll und Finanzen).
Das ukrainische Regierungssystem, räumen die Autoren ein, neige jedoch weiterhin dazu, "mächtige Interessengruppen" zu begünstigen. Die falschen mächtigen Interessengruppen müsste man hinzufügen.
Krieg: Chance für "neue" Banditen
Die Schablone, auf die sich die Autoren beziehen, stammt aus der Feder des US-amerikanischen Ökonomen Mancur Olson. In "Aufstieg und Niedergang der Nationen" wies Olson auf das Paradoxon hin, dass in reifen Volkswirtschaften Interessengruppen entstehen, die versuchen, sich auf Kosten der breiteren Gesellschaft Vorteile zu verschaffen. Diese Gruppen verhielten sich rentenorientiert und nutzten ihren politischen Einfluss, um Privilegien und Schutzmaßnahmen zu erlangen, die letztlich den wirtschaftlichen Fortschritt behindern.
Ein Aspekt, den Olson in diesem Zusammenhang untersucht, ist das Konzept des "stationären Banditen". Olson argumentiert, dass umherstreifende Banditen in einem Zustand der Anarchie oder des Fehlens einer starken zentralen Autorität Ressourcen und Reichtum aus der Bevölkerung herausziehen könnten, ohne in eine langfristige wirtschaftliche Entwicklung zu investieren.
Im Gegensatz dazu habe ein stationärer Bandit, wie eine stabile Regierung oder ein Herrscher, einen Anreiz, die Wirtschaft zu schützen und in sie zu investieren. Durch die Schaffung eines Systems von Eigentumsrechten, die Gewährleistung von Sicherheit und die Förderung stabiler Institutionen ermutige ein stationärer Bandit produktive Aktivitäten, Unternehmertum und Wirtschaftswachstum.
Kriege könnten diese stationären Banditenarrangements stören, da Konflikte die Institutionen schwächen, die Infrastruktur zerstören und Ressourcen von produktiven Unternehmungen ablenken. Nach dem Abklingen der Bedrohung könnten jedoch die alten Interessengruppen erneut auf Rentensuche gehen und den langfristigen wirtschaftlichen Fortschritt von Neuem behindern.
In diesem Sinne sehen Rudolph und Eisen das Kriegsrecht, das in der Ukraine seit März 2022 gilt, als eine Art Glücksfall an, da es die Macht der ukrainischen Oligarchen entscheidend geschwächt hat. Nun muss noch ihre Rückkehr nach dem Krieg verhindert werden, damit die "Wiederaufbau"-Investitionen des Westens ungehindert fließen können.
Die Bekämpfung von Korruption ist für die Autoren daher ein "strategischer Imperativ", der in einen "modernen Marshallplan" für die Ukraine integriert werden müsse. Auf der Ukraine Recovery Conference am 21. und 22. Juni in London werde man sich also vor allem darüber austauschen müssen, wie Veruntreuung von Geldern von Unternehmen und Steuerzahlern verhindert werden könne.
Überwachung der Reformen
In einer Studie für den German Marshall Fund schlagen Rudolph und andere Autoren zudem vor, die Multi-Agency Donor Coordination Platform mit der Überwachung des Reformprozesses und der Finanzierung der Ukraine langfristig zu betrauen.
Die Plattform wurde im Dezember 2020 von der G-7 ins Leben gerufen, wird von einem Sekretariat aus zwölf abgeordneten Beamten verwaltet und arbeitet von einem Brüsseler Büro aus, das von der Europäischen Kommission betrieben wird. An der ersten Sitzung im Januar 2023 nahmen bereits hochrangige Vertreter der EU, der G-7-Länder, der Europäischen Investitionsbank, der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, dem Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und der Ukraine teil.
Diese Art von konzertierter Koordinierung sei laut der Studie notwendig, um das für den Wiederaufbau der Ukraine erforderliche starke Engagement des Privatsektors zu ermöglichen. Ebenso wird in der Studie unmissverständlich klargestellt, dass das Geld für den Wiederaufbau nur dann an die Ukraine fließen soll, wenn Kiew die Reformen im Sinne des Westens umsetzt.
Die "Wiederaufbauhilfe" solle wie eine Makrofinanzhilfe, bei der der IWF und bilaterale Geber Reformbedingungen stellen, und nicht wie die bisherige Sicherheitshilfe behandelt werden, sodass die Auszahlungen an die Durchführung von Reformen geknüpft sind und bei Bedarf bis zur Umsetzung zurückgehalten werden.
Freundliche Übernahme
Vor der Öffentlichkeit wird gerne so getan, als ginge es bei diesen Finanz- und Militärhilfen darum, die Demokratie der Ukraine, Europa, oder noch besser, die Freiheit an sich zu verteidigen. Die aktuelle Diskussion US-amerikanischer Denkfabriken über den ukrainischen "Wiederaufbau" zeigt jedoch, wie konkret mit der Abhängigkeit der Ukraine vom Geld- und Rüstungsfluss aus dem Westen kalkuliert wird.
Laut dem Plan des Westens für die Ukraine liefert der Steuerzahler die finanzielle Überlebens- bzw. Starthilfe, hierauf folgen an Reformbedingungen geknüpfte Kredite, um schlussendlich US- und EU-Konzernen in der Ukraine sichere Investitionen für sichere Renditen zu garantieren. Da die ukrainische Regierung diesen Schritt nicht nur begrüßt, sondern eifrig an ihm mitarbeitet, könnte man auch von einer freundlichen Übernahme sprechen. Und solange dieser Prozess nicht abgeschlossen ist, dürfte es im Interesse des Westens sein, den Konflikt heiß zu halten.
Dass der indirekte Einfluss des Westens bis hinab auf die ukrainische Gesetzgebung reicht (und auch nicht ganz ohne Reibung vorangeht), zeigt die Anregung des German Marshall Fund, dass man sich bei der nächsten Ukraine Recovery Conference im Juni in London mit der konkreten Frage auseinandersetzen solle, wie der Gesetzentwurf 5655 zur Reform der Stadtplanung geändert werden kann.
Der Gesetzentwurf sah bislang vor, die Entscheidungsmacht von den Kommunalverwaltungen auf eine digitale Plattform eines Ministeriums in Kiew zu verlagern. Der German Marshall Fund sähe hingegen bei der Genehmigung von Bauprojekten lieber eine Dezentralisierung. Und wer zahlt, schafft schließlich an.
Während sich amerikanische und europäische Steuerzahler also darauf gefasst machen dürfen, dass das Scheckbuch ihrer Regierungen noch viele leere Seiten hat, werden die Ukrainer lernen müssen, dass es Geld und Waffen aus dem Westen eben nicht umsonst gibt.
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