Von Sergei Sawtschuk
Wladimir Putin hat in seiner Rede auf dem Eurasischen Wirtschaftsforum die Ursachen der Energiekrise in Europa, die kein Ende nehmen will, sehr einfach und prägnant umrissen:
"Wer ist schuld an dem, was passiert ist? Nord Stream 1 wurde in die Luft gesprengt, Nord Stream 2 wurde nicht eröffnet. Haben wir die Jamal-Europa-Route über Polen geschlossen? Polen hat sie geschlossen. Es gibt zwei Gaspipelinerouten durch die Ukraine – die Ukraine hat eine davon geschlossen. Wir haben das nicht getan. Übrigens nutzen wir die zweite Leitung, um Europa mit Gas zu versorgen, und die Ukraine, obwohl sie uns als Aggressor bezeichnet, kassiert erfolgreich Geld für den Transit. Wir erfüllen alle unsere Verpflichtungen in vollem Umfang."
Wie auf Bestellung erschien bloß ein paar Stunden zuvor in der Washington Post ein skandalöser Artikel, der das offene Geheimnis lüftete. Das Geheimnis liege darin, dass die angeblich so bedauernswerte Ukraine einerseits den kollektiven Westen auffordert, alle wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland abzubrechen und die Einfuhr russischer Energieressourcen gänzlich zu verweigern, um "die russische Kriegsmaschinerie" nicht zu unterstützen. Andererseits habe Kiew aber selbst nicht die Absicht, Moskau den Krieg zu erklären oder den Transit derselben Ressourcen durch das ukrainische Territorium zu stoppen, um seinen eigenen Haushalt aufzufüllen.
Das Blatt zitiert Alexei Tschernyschow, einen Topmanager des größten ukrainischen Energieunternehmens Naftogas. Der Funktionär witzelt, das Land könne es sich nicht leisten, alle wichtigen Transitrouten abzuschneiden, weil es eine Entschädigung von Russland erwarte und auch, weil einige angesehene Partner Kiews in der Europäischen Union auf den ukrainischen Transit angewiesen seien.
Es lohnt sich nicht, eine gewisse Logik in Tschernyschows Worten zu suchen. Denn diese gibt es nicht – es ist nur eine verbale Manipulation. Die Ironie der Situation besteht darin, dass der Chef von Naftogas in diesem Fall nicht uns, Russen, sondern seine angesehenen Partner im Westen belügt. In Brüssel gibt es jedoch nicht weniger abgebrühte Gauner und geschickte Wortakrobaten, so dass nur ein naiver und leichtgläubiger Bürger durch solche Erklärungen und eine bewusste Politik auf Staatsebene nur in die Irre geführt werden kann.
Wir stehen vor dem zweiten Akt des geopolitischen Balletts, in dem Piranhas und Barrakudas, die sich einst an den billigen russischen Ressourcen sattgefressen haben, sich gegenseitig umkreisen und einander einreden, man solle freiwillig seine Ration reduzieren und weniger essen. Beim Übergang zum nächsten Akt ist eine scharfe Abkühlung der ukrainisch-europäischen Freundschaft zu erwarten, denn Brüssel findet sich in dieser Situation, wie sich herausstellt hat, in der Position eines naiven Narren wieder. Der getäuscht wurde und weiterhin bewusst von allen belogen wird – von Washington und auch von Kiew, das auf historische Gemeinsamkeiten mit Europa schwört.
Zur Erinnerung: Ende des Jahres 2021, das nun in weiter Ferne zu liegen scheint, lieferte Russland 203 Milliarden Kubikmeter Erdgas an die Europäische Union, was 40 Prozent ihrer gesamten Einfuhren entsprach. Rohöl und raffinierte Produkte wurden in einer Menge von 540 Millionen Tonnen geliefert. Hinzu kamen weitere 53 Millionen Tonnen Kohle, wobei die Einfuhren des verhassten festen fossilen Brennstoffs immer mehr an Volumen gewannen und im Vergleich zum Jahr 2020 gleich um zehn Prozent stiegen. Die US-Amerikaner, die akribisch jeden Cent und jede Gallone zählen, berechneten, dass die Länder der Eurozone bis Ende 2021 für die Lieferung dieser drei grundlegenden Energieressourcen 147,8 Milliarden US-Dollar an russische Lieferanten gezahlt haben. Im Vergleich dazu betrug der europäische Anteil an den Investitionen für den Bau von Nord Stream 2 nur sechs Milliarden. Wie man so schön sagt: Spüren Sie den Unterschied!
Bis Ende 2022 musste Berlin als Schaltzentrale der wichtigsten Wirtschaftslokomotive der EU zugeben, dass das Land durch die Verweigerung russischer Energieressourcen enorme Verluste erleidet. Wirtschaftsminister Robert Habeck, der seine Mitbürger zunächst fröhlich aufforderte, nicht länger als zwei oder drei Minuten am Stück kühl zu duschen, verlangt nun, dass die Stromerzeuger die Endkundenpreise nicht erhöhen, und droht mit zusätzlichen Steuern auf die von den Betreibern bereits erzielten Übergewinne.
Paris hat aufgrund von Systemproblemen in der Atomindustrie zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte aufgehört, Strom zu exportieren, und ist dazu übergegangen, Strom von seinen Nachbarn zu kaufen.
Warschau hat zugegeben, dass es allein beim Kauf von Rohöl von Drittanbietern einen Nettoverlust von 28 Millionen US-Dollar macht. Und das jeden Tag.
Die britischen Medien veröffentlichen alarmistische Artikel und erschaudern bei dem schrecklichen Gedanken, dass Russland als Vergeltung für die Explosion der Nord-Stream-Pipelines Kabel auf dem Grund des Ärmelkanals kappen könnte, was garantiert zu einem Zusammenbruch der Energieversorgung und der Wirtschaft des Landes führen würde.
Und dann tritt die Ukraine mit einem tragischen Gesichtsausdruck eines professionellen Opfers auf den Plan, das mit der einen Hand um eine weitere Tranche Geld, Panzer und Flugzeuge bettelt und mit der anderen Hand langsam den Hahn der Gas- und Ölpipeline im Norden des Landes aufdreht. Um ein paar Milliarden US-Dollar mehr zu verdienen, denn jeder weiß: Der Gas- und Öltransit wird vom Käufer, also von Europa, bezahlt. Es bleibt abzuwarten, wo die Schwelle der Finanz- und Wirtschaftskraft der Alten Welt liegt und wie schnell sich die Herrschaften wieder auf ihre gewohnten Geschäftsmethoden zurückbesinnen werden – nämlich ihre Nachbarn auszurauben.
Geopolitik, gekoppelt mit dem großen Geld, ist eine höchst unterhaltsame Sache, die vor allem an ein Glas voller Spinnen erinnert. Es ist interessant, sie zu beobachten, vor allem, wenn man sich auf der anderen Seite des Glases befindet.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei RIA Nowosti am 25.05.2023.
Sergei Sawtschuk ist ein russischer Kolumnist und Blogger.
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