Aus dem "Bachmut-Fleischwolf": Wie Russland die Ukraine zum Rückzug aus Artjomowsk zwang

Neun Monate währte der Kampf um einen symbolträchtigen Ort, mit dem Kiew versuchte, die Kontrolle über die Region zurückzugewinnen. Nun endete er mit einem Sieg für Moskaus Streitkräfte. Ein vor Ort ansässiger Journalist rekapituliert den langen Weg zur Befreiung der Stadt.

Von Wladislaw Ugolny

Die Schlacht um die (von den Ukrainern Bachmut genannte) Stadt Artjomowsk begann im August 2022 und entwickelte sich nach und nach zu einem Epizentrum der Kämpfe zwischen Russland und der Ukraine. Während andere Teile der Front seitdem relativ stabil blieben, brachten beide Seiten aktiv immer mehr Truppen in diese kleine Stadt. Für die Kiewer, die im Mai 2022 eine Niederlage im Asowstal-Komplex erlitten, die ihrem Image schadete, wurde Artjomowsk nun das neue Mariupol. Die ukrainische Propaganda bezeichnete die Stadt als "Festung Bachmut" und versuchte, den dort kämpfenden Soldaten die Aura von Heldentum zu verleihen. 

Obwohl die Stadt eigentlich keine strategische Bedeutung für den Vormarsch nach Westen hat, nahmen die russischen Truppen die Herausforderung der ukrainischen Propaganda an. Was hat Moskau also mit dem neunmonatigen "Bachmut-Fleischwolf" gewonnen?

Von einer Provinzstadt zu einer militärischen Festung

Im neunzehnten Jahrhundert war Artjomowsk eine Provinzstadt im Russischen Reich und das Verwaltungszentrum der sich entwickelnden Donbass-Region. Als andere Städte wuchsen, verlor die Stadt jedoch an Bedeutung. Zu Beginn der russischen Offensive im Februar 2022 hatte die Stadt etwa 70.000 Einwohner. Sie beherbergte mehrere Industrieanlagen, darunter eine Sektfabrik, in der Anfang 2023 die Gefechte tobten. Nach Angaben der ukrainischen Behörden waren zu diesem Zeitpunkt aber bereits 60 Prozent der Stadt zerstört.

Die Bedeutung der Stadt nahm nach dem Beginn der russischen Militäroperation im Februar 2022 enorm zu. Als die russischen Truppen die erste Befestigungslinie im Gebiet von Popasnaja, Solotoje und der Agglomeration Lissitschansk-Sewerodonezk durchbrachen, war Artjomowsk zunächst ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Es hielt die ukrainische Frontlinie mit dem Rest des Landes verbunden.

Nachdem es den Russen gelungen war, diese Verteidigungslinie zu durchbrechen und die Kiewer Streitkräfte vollständig aus dem Gebiet der Lugansker Volksrepublik (LVR) zu verdrängen, wurde Artjomowsk von einem Verkehrsknotenpunkt zur zweiten Verteidigungslinie der Ukraine um den Fluss Bachmutka. Dieser Streifen erstreckte sich von den ukrainischen Stellungen gegenüber Gorlowka – das bereits seit 2014 von der Volksrepublik Donezk (DVR) kontrolliert wird – im Süden bis nach Sewersk im Norden, dort mündet die Bachmutka direkt in den Sewerski Donez, den Hauptfluss im Donbass.

Artjomowsk hätte nicht eingenommen werden können, wenn diese Verteidigungslinie nicht durchbrochen worden wäre. Seit Juli 2022 haben sich die "Wagner"-Kämpfer genau darauf konzentriert und den Boden für eine erfolgreiche Einkreisung der Stadt bereitet.

Einkreisung von Artjomowsk

Günstige Bedingungen für die Einkreisung von Artjomowsk stellten sich im Mai letzten Jahres ein, nach dem russischen Sieg in Popasnaja. Ende des Monats wurde Swetlodarsk eingenommen – eine Satellitenstadt des Wärmekraftwerks Uglegorsk, die von den ukrainischen Streitkräften zu einem Verteidigungszentrum ausgebaut wurde. Die Einnahme der Stadt dauerte zwei Monate, und das Kraftwerk erlitt dabei keine größeren Schäden.

Auch nördlich von Gorlowka gingen die Kämpfe weiter. Neben dem Hauptziel, auf Artjomowsk vorzurücken, war es wichtig, die ukrainischen Truppen weiter von der Stadt abzudrängen, um die Sicherheit der Bewohner zu gewährleisten. Seit Beginn der Offensive sind in Gorlowka bereits mehr als 100 Menschen ums Leben gekommen, 360 weitere wurden verletzt. Während der Kämpfe um die Siedlungen Semigorje, Kodema, um zwei Dörfer namens Saizewo, Majorsk, Kurdjumowka und Osarjanowka, die den ganzen Sommer und Herbst 2022 andauerten, wurde dieses Vorhaben teilweise erfüllt. Die Sicherheit von Gorlowka wurde vom Norden und Nordosten aus gewährleistet, während die Bedrohung nur noch vom Westen und Nordwesten ausging.

Die ukrainischen Befestigungen sollten eine russische Offensive aus Richtung Gorlowka und aus dem Süden abhalten. Durch eine weitere Offensive von Osten her wurde der taktische Wert dieser Befestigungen jedoch verringert, und sie wurden im Vergleich zu anderen Frontabschnitten schnell gestürmt.

Im Dezember hatten die russischen Truppen den südlichen Stadtrand von Artjomowsk erreicht und blockierten ihn. Während sich im Oktober die Präsenz der russischen Armee am südlichen Stadtrand auf die um Opytnoje kämpfenden fortgeschrittenen Einheiten beschränkte, waren im Dezember die "Vorarbeiten" auf den Feldern vor der Stadt vollständig abgeschlossen.

Zu diesem Zeitpunkt war der Feind bereits voll in die Schlacht um Artjomowsk verwickelt, die von den Medien zu einem Symbol der ukrainischen Armee stilisiert wurde, ähnlich wie einst die Schlachten um Mariupol und Asowstal. Die Ukrainer erfanden eine Legende über die "Festung Bachmut" und waren nicht bereit, diese "Festung" aufzugeben. Vielmehr schickten sie ständig Verstärkung in die Stadt. Dementsprechend waren die nächsten Ziele der Russen Kleschtschijewka, ein wichtiges befestigtes Gebiet südwestlich von Artjomowsk, und Opytnoje, das die südlichen Bezirke der Stadt umfasste.

Diese taktischen Ziele konnten nur bis Ende Januar erreicht werden. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Lage für die ukrainischen Streitkräfte bereits erheblich verschlechtert. Der Vormarsch der Russen im Süden gefährdete die Straße zwischen Konstantinowka und Artjomowsk, und im Norden bedeutete der Fall von Soledar, dass die Stadt bald eingekesselt sein würde. Als sich die Ereignisse im Januar überschlugen, konnte die ukrainische Armee noch sicher aus der Stadt fliehen, da die sechsmonatige Verteidigung zu ihren Gunsten ausfiel. Die USA schlugen Berichten zufolge eine ähnliche Strategie vor, doch der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij zog es offenbar vor, bis zum Ende zu kämpfen.

Die Gefechte in der Stadt

Den ganzen Februar hindurch versuchten die Ukrainer, die russische Offensive auf der Straße Konstantinowka-Artjomowsk aufzuhalten, indem sie die Gruppe Wagner daran hinderten, nach Tschassow Jar vorzudringen und den wichtigsten befestigten Bereich im Dorf Krasnoje einzunehmen. Die Ukraine verlegte Reserven in dieses Gebiet, so dass diese Stellungen gehalten werden konnten und die Russen gezwungen waren, von Norden her vorzurücken.

Da es den Russen nicht gelang, Krasnoje einzunehmen, zogen sie an den westlichen Stadtrand von Artjomowsk, in das Gebiet einer ehemaligen Artillerieeinheit, die für ihr Denkmal mit einem sowjetischen Flugzeug bekannt ist – ein beliebtes Fotomotiv für ukrainische Journalisten, Freiwillige und Militärs. Das Denkmal wurde während der Kämpfe allerdings zerstört. Einigen Gerüchten zufolge wurde es von den Ukrainern in die Luft gesprengt, um zu verhindern, dass das russische Militär an diesem Ort Fotos von ihrem Sieg machen kann.

Im März, als dieser Frontabschnitt noch mehr ukrainische Reserven benötigte, wurden Einheiten der 92. mechanisierten Brigade, die zuvor in der Nähe von Kupjansk stationiert war, herangezogen. Zu diesem Zeitpunkt war die Gruppe Wagner jedoch bereits tiefer in die südwestlichen Außenbezirke von Artjomowsk vorgedrungen. Sie besetzte den Stadtteil Kwadraty und rückte weiter in Richtung Tschaikowskistraße vor, um diesen Teil der Stadt zu blockieren. Gleichzeitig stießen die russischen Truppen in den südlichen Teil der Stadt vor und übernahmen am 29. März die Kontrolle über die Bezirke Budjonowka und Sobatschewka.

Den ganzen April hindurch wehrten die Ukrainer die russischen Angriffe entlang der Linie Krasnoje Selo – Tschaikowski-Straße ab. Erst am 28. April gelang es den Russen, den Komplex der Industriehochschule unter ihre Kontrolle zu bringen und die Kreuzung der Tschaikowski- und der Jubileinaja-Straße zu erreichen. Die ukrainische Verteidigung von Bachmut zerfiel daraufhin praktisch in zwei Teile von Artjomowsk. Die ukrainischen Streitkräfte begannen mit der Sprengung von Hochhäusern in der Nähe des Flugzeugdenkmals, da sie befürchteten, dass diese als Beobachtungsposten zur Überwachung der von den ukrainischen Truppen für Nachschub und Evakuierung genutzten Dorfstraßen genutzt würden.

Im Dezember 2022 hatten sich die russischen Truppen neben der Eroberung von Kleschtschijewka und Opytnoje auf den Vormarsch nach Osten in den Industrieteil der Stadt konzentriert. Die Gruppe Wagner kontrollierte bis dahin nur die Außenbezirke der Stadt, doch im Dezember übernahmen sie die fast vollständige Kontrolle über das Industriegebiet und das Waldgebiet im Norden. Dies ermöglichte den Vorstoß in die Stadtteile Mjasokombinat und Sabachmutka von Artjomowsk und trug auch zur Einnahme von Soledar im Januar bei.

Der Sieg in Soledar ermöglichte es Russland, den Druck auf Artjomowsk zu verdoppeln. Um zu verhindern, dass die Russen die Front durchbrechen konnten, brachten die Ukrainer mehr Reserven in das Gebiet. Dies half jedoch nur teilweise. Die Russen überquerten die Bachmutka an mehreren Stellen und sicherten ihre Flanke gegen Sewersk durch die Einnahme von Krasnopol, Sacco und Vanzetti sowie Nikolajewka. Anschließend errichteten sie in der Nähe des Dorfes Schelesnjanskoje eine Barriere gegen Slawjansk.

Danach wandten sich die Russen nach Südwesten und eroberten die letzten großen Festungsanlagen in Krasnaja Gora und Paraskowijewka. Zu Sowjetzeiten befanden sich auf dem Gelände des Salzbergwerks in Paraskowijewka große Militärarsenale. Die Ukrainer konnten diese Infrastruktur nutzen, um eine Verteidigungslinie zu errichten, was es ihnen jedoch nicht ermöglichte, die Front zu stabilisieren.

Der Rückzug der ukrainischen Armee

Zu diesem Zeitpunkt wurde deutlich, dass die südliche Flanke der Umzingelung von Artjomowsk auf die ukrainische Verteidigung von Krasnoje gestoßen war. Und zugleich hatte die Gruppe Wagner in dieser Phase einen Mangel an Granaten zu beklagen, was die Artillerie einschränkte. Sobald das Problem gelöst war, zogen die Kämpfer weiter nach Berchowka, zu einer der letzten Routen aus Artjomowsk heraus.

Die Einnahme von Berchowka am 24. Februar und der Erreichung des Berchowski-Stausees zwangen die Ukrainer zum Rückzug aus Stupki, dem nördlichen Stadtteil von Artjomowsk, und öffneten den Weg nach Südwesten zum Dorf Artjomowskoje (Chromowe), dem letzten relativ sicheren Weg aus der Stadt.

Am Tag nach der Befreiung von Berchowka zogen sich die Ukrainer aus Jagodnoje zurück. Anschließend sprengten sie den Staudamm von Sewerny Stawka in die Luft, was ihre eigenen Möglichkeiten für einen Gegenangriff vom nordwestlichen Stadtrand von Artjomowsk aus einschränkte. Der Februar endete für die ukrainischen Streitkräfte schlecht – die Russen erlangten eine relativ stabile Feuerkontrolle über die beiden verbleibenden Straßen aus der Stadt, während das warme Wetter die Chancen der Ukrainer auf eine Flucht über die Felder erschwerte.

In der Zwischenzeit rückten die Russen von Osten und Süden her immer weiter nach Artjomowsk vor. Die Kämpfe in den Städten banden auf beiden Seiten beträchtliche Kräfte, aber die überlegene Artillerie und die Angriffstaktik der Russen ermöglichten es ihnen, sich durchzusetzen. Während dieser Kämpfe betonte Jewgeni Prigoschin, der Leiter der Gruppe Wagner, immer wieder, dass die Hauptaufgabe darin bestehe, die gegnerischen Truppen festzusetzen und zu vernichten.

Am 2. März drehte ein ukrainischer Kommandeur einer Einheit mit dem militärischen Rufzeichen "Madyar" ein Video, in dem er die Lage in Artjomowsk negativ bewertete und verlangte, dass die Ukrainer von dort abziehen sollten. Außerdem beschuldigte er die ukrainische Jugend, kampfunwillig zu sein. Einer seiner Untergebenen versprach, dass er nach dem Krieg alle verprügeln werde, die sich der Wehrpflicht entzogen hatten. Am 3. März flohen "Madyar" und ihre Kämpfer unter dem Vorwand eines Befehls des Kommandeurs aus Artjomowsk.

Am selben Tag nahm Prigoschin eine Videobotschaft für Selenskij auf, in der er erklärte, dass die ukrainische Garnison nur noch einen Ausweg habe. Er zeigte dabei auch drei ukrainische Gefangene, unter denen sich keine Berufssoldaten befanden – nur ein alter Mann und zwei Jugendliche.

Am 8. März war der gesamte Ostteil der Stadt unter russischer Kontrolle, und die Ukrainer waren auf das westliche Ufer der Bachmutka zurückgedrängt worden. Als die Wagner-Gruppe vorrückte, änderte sich die Darstellung in den westlichen Medien rasch – während Artjomowsk früher als strategisch wichtiger Punkt bezeichnet worden war, verkündete der Chef des Pentagon am 6. März, dass die Stadt eher symbolischen als strategischen Wert habe.

Kämpfe im Frühjahr

Trotzdem weigerte sich die ukrainische Armee, ihren Griff zu lockern, und verlegte zusätzliche Reserven in die Stadt – darunter die 67. mechanisierte Brigade, die für ihre neonazistische und ukrainisch-nationalistische Ideologie bekannt ist und aus Einheiten des extremistischen Rechten Sektors besteht. Prigoschin zufolge sollten diese Einheiten die russischen Flanken umzingeln und angreifen.

Die ukrainischen Reservisten erlitten bei Zusammenstößen mit Wagner-Kämpfern erhebliche Verluste. Einige ihrer Offiziere, darunter der bekannte Neonazi Dmitry 'Da Vinci' Kotsyubailo, der Kommandeur eines Bataillons der 67. Brigade, wurden durch russische Artillerie getötet.

Kiew verfügte jedoch noch über genügend Ressourcen, um den Abschnitt Bogdanowka-Artjomowskoje zu stabilisieren, der die in Artjomowsk stationierten Einheiten über Dorfstraßen mit den übrigen ukrainischen Truppen verband. Dies zwang die russischen Truppen, den Druck nach Norden zu verlagern, entlang der Route nach Slawjansk. Dubowo-Wassilewka und Salisnjanskoje wurden am 9. bzw. 15. März befreit. Bei diesem Vorstoß wurden auch mehrere Höhen erobert, wodurch die Nordflanke gegen eine Offensive aus Richtung Slawjansk erheblich gesichert wurde.

Der Versuch, die Stadt von Norden her zu stürmen, wurde fortgesetzt, und die Russen versuchten, das Gelände des Metallverarbeitungswerks Artjomowsk (AZOM) unter ihre Kontrolle zu bringen. Das Werk wurde am 10. März gestürmt, und am 14. März wurde das Wostokmasch-Werk, in dem Selenskij im Dezember 2022 ukrainische Soldaten ausgezeichnet hatte, eingenommen. AZOM wurde am 4. April vollständig befreit.

Zu diesem Zeitpunkt hatte die Wagner-Truppe eine groß angelegte Offensive im zentralen Teil der Stadt gestartet und sich dabei auf Stellungen im Norden und Süden gestützt. Das zerstörte Verwaltungsgebäude der Stadt war am 2. April unter die Kontrolle der russischen Truppen geraten. Die Russen gaben den Versuch auf, die Stadt vollständig einzukesseln, und konzentrierten sich nun darauf, den Feind nach Westen abzudrängen.

Trotz des Erfolgs der Truppen der Sturmbrigaden bestand ständig die Gefahr eines Entsatzangriffs durch die ukrainische Armee. Um dieser Gefahr zu entgehen, wurden zusätzliche Einheiten der regulären russischen Streitkräfte in das Gebiet verlegt. Während der längsten Zeit im April versuchten die Russen, das letzte befestigte Gebiet der Ukrainer zu erreichen – ein Hochhausviertel im Westen der Stadt sowie die Stadtteile Tscherema und Nowy.

Die Sturmtruppen waren gezwungen, eine Offensive aus dem Osten, von den Verwaltungsbezirken der Stadt und dem Norden zu starten und durchbrachen die ukrainische Verteidigung im Wohnviertel Posjolok und an der Rosenallee. Die Eisenbahnlinie in der Nähe des Bahnhofs Bachmut-2 diente als Verteidigungslinie.

Am 22. April gelang es den Russen dann, trotz des heftigen ukrainischen Widerstands und mehrerer Gegenangriffe diesen wichtigen Ort einzunehmen. Damit war der Weg zu den Hochhausvierteln von Osten her frei. Im Norden erreichten die Russen die Krainaja-Straße, unmittelbar südlich derer sich ein großer sowjetischer Militärstützpunkt befindet.

Gleichzeitig intensivierten sich die Kämpfe in der Nähe der Straße zwischen Tschassow Jar und Artjomowsk. Diese Straße wurde regelmäßig von russischen Truppen angegriffen, die jedoch darüber keine direkte Kontrolle hatten. Hier verlief ein ukrainisches Festungsgebiet, das die Straße nach Süden abdeckte und die Sichtkontrolle über die verbleibenden Fluchtwege aus Artjomowsk einschränkte.

Die Einnahme dieses über 2,5 Quadratkilometer großen befestigten Gebiets war das letzte Kapitel in der langen Schlacht um Artjomowsk. Anfang Mai gab Prigoschin bekannt, dass das Offensivpotenzial seiner Truppen aufgrund von Munitionsmangel und Schwierigkeiten bei der Rekrutierung neuer Soldaten nahezu erschöpft sei. Er warnte vor der bevorstehenden ukrainischen Gegenoffensive und betonte erneut, dass seine Männer Munition benötigten und die Stellungen nördlich und südlich der Stadt von russischen Truppen gedeckt werden müssten. Zu diesem Zeitpunkt betrug der Vormarsch der Wagner-Truppen im Durchschnitt 150 bis 200 Meter pro Tag, und das Einzige, was die ukrainische Garnison noch retten konnte, war ein Versuch, die Belagerung von außen zu durchbrechen.

Ein letzter Vorstoß

Am 10. Mai starteten die ukrainischen Truppen tatsächlich eine Offensive von Tschassow Jar aus in zwei Richtungen – nach Süden in Richtung Kleschtschijewka und nach Norden in Richtung des Berchowskoje-Stausees. Dagegen hatten bereits das 9. motorisierte Schützenregiment, die 4., die 72. und die 200. Brigade der russischen Streitkräfte sowie die 106. Luftlandedivision, die zur Verstärkung der Flanken um Artjomowsk entsandt worden war, in diesen Gebieten Verteidigungspositionen bezogen.

Zu diesem Zeitpunkt galten die russischen Vorstoßpositionen nordwestlich und südwestlich von Artjomowsk, einschließlich der Stellungen am Westufer des Sewerski-Donez-Donbass-Kanals, als verwundbar. Die ukrainische Verteidigung von Krasnoje hinderte die russischen Truppen daran, die Einkreisung zu vollenden, so dass die beiden russischen Vorposten zum Ziel der ukrainischen Offensive wurden.

Um eine wirksame Verteidigung zu gewährleisten, wandelten die russischen Truppen ihre vorgeschobenen Stellungen in eine vordere Verteidigungslinie um. Nach Beginn der ukrainischen Gegenoffensive zogen sich die Russen zurück und beschossen den anrückenden Feind mit Artillerie und zwangen ihn zu Scharmützeln. Diese Strategie hatte eine Reihe von Schwächen: Vor allem wurden einige hochgelegene Stellungen westlich von Artjomowsk aufgegeben, die für die Einkreisung der Stadt entscheidend waren.

Die ukrainische Garnison war kurz davor, aufzuatmen und sich neu zu formieren, doch genau zu diesem Zeitpunkt starteten die Wagner-Einheiten ihre letzte Offensive gegen die drei verbleibenden befestigten Gebiete im Westen der Stadt: Gnesdo, Konstruktor und Domino. Nach erbitterten Kämpfen gelang es ihnen, alle drei unter ihre Kontrolle zu bringen, wobei Domino am 18. Mai als letztes Gebiet fiel. Von da an hatten die Ukrainer nur noch die Kontrolle über das Wohngebiet mit Flachbauten und eine Handvoll Hochhäuser in der Festung Samoljot an der Straße nach Krasnoje. Die Russen gewannen den Wettlauf mit der Zeit und erlangten die Kontrolle über Artjomowsk, bevor die Ukrainer die russischen Flanken durchbrechen konnten.

Am 20. Mai verloren die ukrainischen Truppen ihre letzten befestigten Stellungen in der Stadt. Wagner-Soldaten vertrieben sie aus der Festung Samoljot, feierten den Sieg und verkündeten das Ende des "Bachmut-Fleischwolfs".

Schlussfolgerungen

Prigoschin zufolge liegt die Bedeutung der Schlacht um Artjomowsk darin, dass sie es Russland ermöglichte, die ukrainischen Reserven zu zermahlen und Kiew zu zwingen, sich auf Artjomowsk zu konzentrieren, sowie damit jegliche ukrainische Offensive in anderen Teilen der Front zu stören, insbesondere in Richtung Melitopol. "Am 8. Oktober 2022 wurde zusammen mit Armeegeneral Sergei Surowikin beschlossen, die Operation 'Bachmut-Fleischwolf' zu starten – ein Angriff auf das Dorf Bachmut, um Wladimir Selenskij zu provozieren, so viele Kräfte wie möglich einzusetzen, um die Stadt Bachmut zu halten. In Bachmut haben wir die ukrainischen Truppen zermahlen, daher der Name 'Bachmut-Fleischwolf'", sagte Prigoschin.

In jedem Fall hat die mehr als neunmonatige Schlacht um Artjomowsk die Wahrnehmung des Konflikts nachhaltig verändert und sowohl die Ukraine als auch Russland gezwungen, sich von der Vorstellung eines rasanten Feldzugs oder eines tiefen Durchbruchs zu verabschieden. 

Die in diesem Artikel besprochenen Gefechte fanden in einer Frontlinie von kaum 30 Kilometer Tiefe statt. Unter den Bedingungen von Sommerhitze, Herbstschlamm und Winterfrost erinnerten sie weitgehend an den Ersten Weltkrieg. Nach Schätzungen von Prigoschin wird die Befreiung des gesamten Gebiets der Donezker Volksrepublik noch eineinhalb bis zwei Jahre dauern.

Es ist nun die Aufgabe der russischen Armee, weiter nach Westen vorzustoßen. Auf dem Weg dorthin trifft sie auf die Stadt Slawjansk, wo der russische Aufstand im Jahr 2014 begann, sowie auf die dritte Verteidigungslinie der Ukraine entlang des Kriwoi Torez. Auch die ukrainischen Stellungen in Sewersk müssen an der Nordflanke angegriffen werden.

Andererseits haben einige Militärexperten vorgeschlagen, dass die Wagner-Einheiten nun in andere Schlüsselgebiete verlegt werden – entweder um die Stadt Ugledar zu stürmen oder um einen möglichen Gegenangriff der ukrainischen Armee abzuwehren. Prigoschin hat eine 25-tägige Pause gefordert, damit sich seine Truppen nach der langen Schlacht um Artjomowsk erholen und ihre Kampfkraft wiedererlangen können.

In einem Video, in dem er die vollständige Einnahme von Artjomowsk am 20. Mai verkündete, erklärte Prigoschin, dass sich die Wagner-Einheiten nach dem 25. Mai in den rückwärtigen Bereich zurückziehen werden, um sich auszuruhen und neu zu formieren.

Westlich von Artjomowsk verbleiben jedoch noch bedeutende ukrainische Kräfte, die während der Gegenoffensive im Mai eine Reihe von Stellungen eingenommen haben. Sie haben sich in Tschassow Jar festgesetzt und halten die Linie zwischen Krasnoje und Minkowka und verhindern so, dass die russischen Streitkräfte die Front entlang des Sewerski-Donez-Donbass-Kanals stabilisieren können. Da die russische Flagge über Artjomowsk weht und die russischen Soldaten das Schlachtfeld vollständig unter Kontrolle haben, besteht die Priorität nun darin, diesen für eine Gegenoffensive zusammengezogenen ukrainischen Kräften größtmöglichen Schaden zuzufügen und sie auf das westliche Ufer des Kanals zu vertreiben.

Übersetzt aus dem Englischen.

Wladislaw Ugolny ist ein in Donezk geborener russischer Journalist.

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