Eine Analyse von Elem Chintsky
Mit Finnlands NATO-Beitrittbestätigung jüngst im türkischen Parlament ratifiziert, haben die USA einen ersten militärpolitischen Erfolg in der Causa der nordöstlichen NATO-Erweiterung verbuchen können. Zwar steht Schweden noch aus und müsste separat bestätigt werden, aber sofern sich Stockholm an die Sicherheitsbedürfnisse Ankaras weiter anpasst, dürfte dies nur eine Frage der Zeit sein.
Die durch Ankara lange verzögerte NATO-Aufnahme Helsinkis und Stockholms war über ein Jahr lang ein wichtiger Machthebel der Türkei, der nun sehr bald verspielt und aufgebraucht sein wird – auf Kosten Russlands, das in wenigen Tagen eine neue, 1.300 Kilometer lange NATO-Grenze erhält.
Es gibt aber auch an anderer Stelle Möglichkeiten für die türkische Führung, die volle, reibungslose NATO-Zusammenarbeit etwas zu retardieren: der "Vertrag von Montreux", dessen Statthalter und souveräner Ausführer seit fast 90 Jahren die Türkei ist. Dieses Abkommen fungiert als ein hemmender Filter, der genau reguliert, was, von wem und wie viel – und ob überhaupt – vom Mittelmeer ins Schwarze Meer über den Wasserweg geraten soll.
Wer also eine Verbildlichung dazu benötigt, wie Ankaras Balanceakt zwischen der NATO und Russland eine entzündliche politische Herausforderung darstellt – diese exklusive Meerenge und alles, was in ihr erlaubt wird, was dort geschieht und was durch sie hindurchgeht, ist ein guter Anfang.
Wenige Tage nach Beginn der militärischen Sonderoperation Russlands in der Ukraine erbat Moskau die Bewilligung, die türkische Meerenge durchqueren zu dürfen. Das wurde von den Türken abgelehnt. Wohl in Antizipation einer solchen Absage hatte Moskau bereits drei Wochen zuvor den Bosporus mit insgesamt sechs Landungsschiffen, leicht versetzt hinein ins Schwarze Meer, erfolgreich passiert. Die Meerengen-Verkettung selbst besteht von Westen nach Osten, aus den Dardanellen, dem Marmarameer und dem Bosporus.
Der 1936er-Vertrag auf den Punkt gebracht
Zuallererst gilt, dass die Türkei die Meerenge für Handelsschiffe, die zu Ländern gehören, die sich mit der Türkei im Krieg befinden, sperren kann.
Des Weiteren kann Ankara die Meerenge für Kriegsschiffe kriegführender Parteien in Kriegszeiten oder wenn Ankara selbst eine Kriegsbeteiligte ist, blockieren oder schließen. Das gilt auch, wenn die Türkei kriegerisch von einer anderen Nation bedroht wird.
Lediglich neun Kriegsschiffe dürfen die Meerenge gleichzeitig passieren. Dabei gibt es auch Grenzen für die Größe der Schiffe, sowohl einzeln als auch als Gruppe. Kein Kollektiv von Schiffen darf mehr als 15.000 Tonnen wiegen. Moderne Kriegsschiffe sind schwer: Fregatten wiegen etwa 3.000 Tonnen, wonach Zerstörer und Kreuzer jeweils um die 10.000 Tonnen betragen können. Moderne Flugzeugträger sind deswegen von vornherein disqualifiziert – sie sind zu groß für die Durchfahrt und nach den türkischen Vorschriften ohnehin nicht erlaubt.
Jedes Land mit einer Küste am Schwarzen Meer – also Bulgarien, Russland, Rumänien, Georgien oder die Ukraine – muss die Türkei acht Tage im Voraus über seine Absicht in Kenntnis setzen, Kriegsschiffe durch die Meerenge schicken zu wollen. Andere Länder, die nicht an das Schwarze Meer grenzen, müssen die Türkei 15 Tage im Voraus benachrichtigen. Aber nur die unmittelbaren Teilnehmer an der Schwarzmeerküste dürfen U-Boote durch die Meerenge entsenden. Allerdings nur nach vorheriger Ankündigung und ausschließlich, wenn die Schiffe außerhalb des Schwarzen Meeres gebaut oder gekauft worden sind.
Ein Dorn im Auge
Mit den Bedingungen des Montreux-Vertrages ergibt sich eine signifikante völkerrechtliche Schranke für den Ausbau der US-Marine im Schwarzen Meer. Der Hauptgrund hierfür ist wie bereits ausgeführt, dass das Abkommen den Verkehr von Kriegsschiffen aus Nationen regelt, die keine gemeinsame Schwarzmeerküste haben – zu diesen gehören unmissverständlich auch die USA.
Der Sicherheitsexperte, Politberater und Gründer der US-Denkfabrik Stratfor, George Friedman, äußerte schon 2015 die Einschätzung, dass ebendiese Bestimmungen des Vertrages die Beziehungen der Türkei zu den USA samt allen Verpflichtungen als NATO-Mitglied in direkten Konflikt mit Russland bringen. Gewahr der da schon vom Zaun gebrochenen Ukrainekrise erklärte Friedman, dass die USA über die NATO-Kanäle ausgerechnet Rumänien einsetzten und verpflichten werden, um ihre eigene machtpolitische Präsenz im Schwarzen Meer zu erweitern.
Rumänien ist eines der fünf Länder, das eine unmittelbare Küstenlinie mit dem Schwarzen Meer besitzt, und wird somit nach dem Vertrag von Montreux mit günstigeren Passierrechten versehen. Mit dem Vorteil der Retrospektive von mittlerweile fast acht Jahren kann heute gesagt werden, dass den USA Rumänien als Sprungbrett ins Schwarze Meer bei Weitem nicht ergiebig genug war.
Zudem kommt auch noch die gescheiterte Bedingung des US-Sicherheitsberaters Zbigniew Brzeziński aus dem Jahr 1997. Diese besagte, dass die Halbinsel Krim uneingeschränkt dem russischen Einflussraum entrissen werden müsse, um Moskau geostrategisch gänzlich aus dem Schwarzen Meer und der assoziierten Region zu drängen. Hätte man die Krim für die NATO gewinnen können, so Brzeziński zumindest, wären auch jegliche Bestrebungen für regionale Hegemonie Russlands in Eurasien verwirkt. Letztlich musste sich Washington, D.C. spätestens seit 2014 langfristig von dieser Perspektive distanzieren.
Seit Februar 2022 wurden die Einsätze auf eine vorher nie dagewesene Ebene gehoben und der Druck auf die Türkei und ihre souveräne Meerenge erhöht und steigert sich deswegen laufend mehr.
Noch Ende Februar 2023 lobte der US-Außenminister Antony Blinken seinen türkischen Amtskollegen Çavuşoğlu und die türkische Führung als Ganzes für die stringente, konsequente Einhaltung der Statuten des Vertrages von Montreux während des ganzen ersten Jahres des Ukrainekrieges. Nur um wenige Wochen später selbst um Aushebelung des Vertrages zu bitten.
Denn seit dem 14. März – als der von zwei russischen Kampfjets verursachte Absturz einer US-Drohne geschah – ist das Bedürfnis für mehr US-Bewegungsfreiheit und Kriegsschiff-Präsenz im Schwarzen Meer dramatisch gestiegen. Die womöglich bald geborgene US-Drohne enthält potenziell unabdingbare strategische Daten, aus denen militärpolitische Absichten hergeleitet werden können. Wäre dies ein Privileg potenzieller russischer Finder, hätte Moskau erneute Gelegenheit, seine machtpolitische Strategie gegenüber der NATO und Washington, D.C. anzupassen. Das hieße für die Zukunft, Vorteile in einer aufkommenden Konfrontation sowie einer hypothetischen Verhandlungsphase mit den USA implementieren zu können.
Allein die Dringlichkeit, die von der US-Führung von vornherein ausging, lässt vermuten, dass die abgestürzte Drohne MQ-9 Reaper nicht nur banale Hardware dargestellt. Immerhin nannte ein Sprecher der Luftstreitkräfte der Vereinigten Staaten in Europa die Bergung des selbstfliegenden Kriegsgeräts eine "Priorität" – noch dazu eine, die einen nominalen Geräte-Wert von 32 Millionen US-Dollar darstellte.
Ankara steht zumindest bisher der Aussicht, den USA eine Ausnahme im historischen Protokoll zu gewähren, reserviert gegenüber. Der Vertrag ist datiert auf 1936, wohingegen der türkische NATO-Beitritt erst im Jahr 1952 erfolgte. Das könnte einen zusätzlichen Aspekt für die derzeit noch laufende und nicht abgeschlossene Prioritäten-Findung der Türken darstellen.
Der Generaldirektor des russischen Rats für Internationale Angelegenheiten (RSMD), Iwan Timofejew, erklärte Mitte März, dass im Falle eines simultanen Zusammentreffens US-amerikanischer und russischer Kriegsschiffe am Absturzort der Drohne nah der Krim zu seriösen Streitigkeiten zwischen beiden Parteien führen würde.
Hinzu kommen die knappen und vagen Aussagen des türkischen Außenministers Hulusi Akar über die nächsten Schritte, und dass alles in naher Zukunft geklärt werde”. Laut ihm sei Ankara nämlich bestrebt, mit seinen Partnern in Washington, D.C. eine "vernünftige und logische" Lösung zu finden, wobei die Befürwortung eines friedlichen Auswegs aus der Situation beteuert wurde.
Diese diplomatische Rhetorik weist stark darauf hin, dass die USA bei den Türken energisch um Erlaubnis zum Passieren der Meerenge für ihre Kriegsschiffe erbitten. Weitere öffentliche Kommuniqués gab es aber nicht, was noch mehr darauf schließen lässt, dass beide NATO-Mitglieder zurzeit hinter verschlossenen Türen weiter verhandeln.
In einem Interview mit der russischen Zeitung Wsgljad gab der türkische Professor und Politologe Mehmet Perinçek folgende Expertise ab:
"Die Amerikaner werden im Schwarzen Meer nicht nur gegen die Interessen Russlands, sondern auch gegen die der Türkei vorgehen. Schließlich ist das Schwarze Meer das Einzige, in dem es keine ständigen amerikanischen Seestreitkräfte gibt, und das ist für die Sicherheit in unserer Region sehr wichtig. Wenn sie eines Tages dort einlaufen und dauerhaft ankern, wäre das eine Fortsetzung der allgemeinen Konfrontation zwischen den USA und der Türkei, ein Versuch, unser Land in eine Zange zu nehmen. Meiner Meinung nach sollte das Schicksal von Konflikten im Schwarzen Meer von den Schwarzmeer-Ländern selbst entschieden werden, ohne die Beteiligung von Außenstehenden."
Ferner konstatierte Perinçek, dass der Vertrag von Montreux sowieso eindeutig das Passieren US-amerikanischer Schiffe in diesem Fall verbieten müsste.
Der ehemalige Berater des russischen Präsidenten und Experte der Sobtschak-Stiftung, Sergei Stankewitsch, erläuterte, dass es unmissverständlich die Türkei ist, die durch die konsequente und strenge Einhaltung des Vertrages, Garant für regionale Sicherheit im Schwarzen Meer war:
"Wenn die Türken ihre Zustimmung geben, torpedieren sie die Konvention selbst und beschädigen gleichzeitig eine ihrer wichtigsten Aktiva, man könnte sagen, ihr historisches Erbe."
Sofern Ankara die Schleusen für die in das Schwarze Meer strömenden US-Kriegsschiffe öffnen sollte, kann tatsächlich von einer neuen Eskalationsstufe – hin zur direkteren Konfrontation zwischen Russland und den USA – die Rede sein. Denn die verhängnisvolle US-Drohne hätte sich dann als fliegendes trojanisches Pferd entpuppt, für eine US-amerikanische Militarisierung eines angelsächsisch langersehnten Binnenmeeres.
Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, wo man noch mehr von ihm lesen kann.
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