Entsteht ein weiterer Kriegsschauplatz? Kiew zieht Truppen vor der Grenze Transnistriens zusammen

Die Situation an der ukrainisch-transnistrischen Grenze wird zunehmend angespannt. Russische Militäranalysten berichten über ukrainische Truppenverlegung und Aufklärungsaktivität – Kiew räumt dies ein. Der Krieg in Transnistrien könnte damit bald Realität werden.

Eine Analyse von Wladislaw Sankin

Die Ukraine verstärkt seit einem Jahr ihre Stellungen an der Grenze zur international nicht anerkannten Republik Transnistrien und hat insbesondere Befestigungsarbeiten durchgeführt, sagte der Sprecher des ukrainischen Grenzdienstes Andrei Demtschenko am Dienstag. Diese seien immer noch im Gange.

Ihm zufolge haben die Verteidigungskräfte die technischen Befestigungsarbeiten intensiviert, damit die ukrainische Armee "alle notwendigen Aktivitäten in dieser Richtung durchführen kann", berichtete TASS am Dienstag. Zuvor hatte die Ukraine die Konzentration der ukrainischen Streitkräfte entlang der Grenze zu Transnistrien eingeräumt.

"Unsere Kräfte sind entlang der gesamten Grenze (von Transnistrien) konzentriert", sagte die Sprecherin der südlichen Gruppierung der ukrainischen Streitkräfte Natalja Gumenjuk im ukrainischen Fernsehen. Der Sprecherin zufolge sind die an der Grenze konzentrierten ukrainischen Kräfte der "hypothetisch möglichen Bedrohung" von russischer Seite angemessen.

Allein schon diese Begründung müsste die Verantwortlichen in Tiraspol, der Hauptstadt Transnistriens, und Moskau stutzig machen. Denn Transnistrien ist nicht Russland, und völkerrechtlich gehört diese winzige Region Moldawien. Transnistrische Moldawische Republik (TMR) – so heißt sie offiziell. Sie ist noch vor der Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1990 aus Protest gegen die drohende Rumänisierung Moldawiens ausgerufen worden und hatte ihren Austritt aus der damaligen Moldawischen Sowjetrepublik erklärt. 

Im Sommer 1992 kam es zu einem Angriff moldawischer Nationalisten und des rumänischen Militärs auf Transnistrien. Der darauffolgende Krieg forderte etwa 1.000 Tote und endete mit der Entsendung einer russischen Friedensmission. Heute sind in Transnistrien bis zu 1.500 russische Soldaten stationiert, die vor allem mit Bewachungsaufgaben betraut sind. Denn im Norden Transnistriens, in der Nähe des Ortes Kolbasna, befindet sich das größte Munitionslager Europas, gefüllt mit Beständen der in Osteuropa stationierten sowjetischen Truppen.

Die eigenen Streitkräfte Transnistriens umfassen 10.000 bis 20.000 Soldaten. Da es keine Landverbindung zwischen Russland und Transnistrien gibt, ist es unmöglich, im Falle eines Krieges diese Streitkräfte mit zusätzlichen Kräften zu verstärken und eine Versorgung mit Militärgütern zu gewährleisten. Um in Transnistrien Fuß zu fassen, müsste das russische Militär vor allem Teile Moldawiens besetzen. Da aber Moldawien selbst keinen eigenen Zugang zum Meer hat, wäre das nur dann möglich, wenn Russland Teile des ukrainischen Küstenstreifens im Gebiet Odessa unter seine Kontrolle bringt – in unmittelbarer Nähe des NATO-Staates Rumänien eine äußerst schwierige Aufgabe. 

Russland hat also keine militärischen Kapazitäten, um von Transnistrien aus einen Überraschungsangriff auf die Ukraine zu starten. Eine solche Aktion wäre auch wegen der geografischen Lage dieses Landstreifens schwierig, denn Transnistrien ist auf der Länge von ca. 450 Kilometern zwischen dem Fluss Dnjestr (moldawisch Nistru), der eine natürliche Grenze zu Moldawien bildet, und der Ukraine eingepfercht. Die durchschnittliche Breite des transnistrischen Territoriums beträgt nur zehn Kilometer. 

Das alles spricht dafür, dass die Ukraine ihre Streitkräfte entlang der Grenze zu Transnistrien nicht für Verteidigung zusammenzieht, sondern für ihren eigenen Angriff. Eine Attacke auf ukrainische Stellungen unter falscher Flagge könnte dafür einen Vorwand liefern. Genau davor warnte Ende letzter Woche das russische Verteidigungsministerium. Laut Angaben des russischen Militäranalysten Boris Roschin ist dies eine ernst zu nehmende Gefahr. Am Montag veröffentlichte er das Material unter dem Titel "Situation um Transnistrien" mit aktualisierten Informationen zum 27. Februar um 14 Uhr. 

Ihm zufolge haben sich ukrainische Verbände entlang des Gebiets der TMR postiert und Zeltlager für die Einheiten eingerichtet. Es werden außerdem verlegt: eine Formation aus der Umgebung von Odessa und der Region Nikolajew; mindestens ein Bataillon mit gepanzerten Fahrzeugen befindet sich jetzt 40 Kilometer von Kolbasna, dem Standort des Munitionslagers, entfernt.

Auch gibt es verdächtige Aufklärungsaktivität. Zum ersten Mal seit Monaten habe die NATO-Satellitenkonstellation mehrere russische Armeeeinrichtungen in Transnistrien gefilmt. Es wurden acht Aufnahmen gemacht, während im letzten Jahr nur die Situation in Kolbasna überwacht wurde. 

Nachrichtendienstliche Gruppen ausländischer Söldner, meist aus englischsprachigen Staaten, seien nördlich von Kolbasna aktiv. Es findet bereits eine psychologische "Bearbeitung" der Bevölkerung statt: Die ukrainischen Organe für Information und psychologische Operationen führen eine massive Desinformation der hiesigen Bevölkerung in lokalen Chatrooms durch.

"Sie verbreiten Informationen über die Notwendigkeit, die Beziehungen mit Russland zu revidieren, und versuchen, das Bild der Ukraine in den Augen der Einwohner zu popularisieren."

In Transnistrien wohnen mindestens 200.000 russische Staatsbürger – fast jeder zweite Einwohner bekam in den letzten Jahrzehnten einen russischen Pass. Im Fall eines Angriffs würde Russland dazu gezwungen sein, alle Schritte zu unternehmen, um seine eigene Bevölkerung zu verteidigen. Dies wäre aber allein aus oben erwähnten logistischen Gründen äußerst schwierig. Der Militäranalyst schlussfolgert:

"Alles deutet darauf hin, dass das ukrainische Kommando unter dem Druck ausländischer Drahtzieher eine Militäroperation in der TMR vorbereitet. Die westlichen 'Partner' versuchen mit allen Mitteln, die russische Führung zu einer radikalen Reaktion zu provozieren, denn ein solches Szenario wäre für sie die akzeptabelste Art, den Ukraine-Konflikt zu entwickeln."

Auch andere russische Experten für die Region halten ein solches Szenario für wahrscheinlich. Dieser Meinung ist z. B. der ehemalige Sondergesandte des russischen Präsidenten in Transnistrien Dmitri Rogosin. "Eher Ja als Nein", sagte er auf die Frage eines Journalisten, ob eine Provokation in Transnistrien möglich sei. "In welchem Umfang dies geschehen wird, kann ich nur schwer sagen", fügte er hinzu. Er wies auch darauf hin, dass in einem solchen Fall die Ukraine einen Angriff auf die Republik Moldau starten würde, denn die Republik hält Transnistrien für ihr eigenes Territorium.

Es ist bislang nicht ganz klar, wie die stramm prowestliche Regierung Moldawiens dazu steht. Auf der einen Seite liebäugelt sie mit einer Frage der künftigen NATO-Mitgliedschaft und bekundet Unterstützung für Selenskij. Die meisten Medien des Landes hängen am Tropf der westlichen NGOs und verfolgen einen stramm antirussischen Kurs. In der letzten Zeit mehren sich die Stimmen moldawischer Offizieller, Transnistrien müsse "entmilitarisiert" werden – so wird der Rauswurf der russischen Friedenstruppen genannt. Da aber ihr Verbleiben in der Region völkerrechtlich konform ist und Russland unter keinen Umständen diesem Rückzug freiwillig zustimmen würde, könnten die russischen Truppen dazu nur infolge einer militärischen Operation gezwungen werden.  

Die Politiker in Transnistrien sehen in den Vorbereitungen Kiews vor allem einen abenteuerlichen Plan des ukrainischen Präsidenten. "Hätte das Büro von Selenskij die Entscheidung getroffen, wäre eine Provokation unvermeidlich gewesen. Er braucht einen kleinen, erdrückenden Sieg über zumindest einen Teil der russischen Streitkräfte. Und die Einnahme Transnistriens ist für ihn von Vorteil. Aber Entscheidungen werden meist in Washington getroffen, die ukrainische Armee wird wohl keinen Angriff ohne grünes Licht wagen", sagte der ehemalige Sprecher des Obersten Sowjets der TMR Alexander Scherba. 

Für eine solche Entwicklung gibt es in Moskau natürlich einen Plan, das hat das Verteidigungsministerium in den letzten Tagen noch einmal deutlich signalisiert. Wie die Reaktion Moskaus auf einen ukrainischen Angriff auf Transnistrien aussehen könnte, kann aber nur gemutmaßt werden. Laut vielen Militärbeobachtern gibt es für Moskau aber kaum eine andere Möglichkeit, als durch eine Sonderoperation eines Luftlandekommandos den Flughafen in Chişinău zu besetzen, einen Luftkorridor zu schaffen, um eine bis zwei Luftlandevisionen zur Unterstützung der transnistrischen Armee ins Gebiet zu bringen. Die Politiker in Chişinău sind sich dessen durchaus bewusst. Es ist wenig wahrscheinlich, dass diese Perspektive ihnen Freude bereitet. Die Frage ist, ob deren Meinung in Kiew, London und Washington Gehör findet. 

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