Eine Analyse von Pierre Lévy
Eine feierliche Umarmung von Charles Michel, dem Präsidenten des Europäischen Rates, und von Ursula von der Leyen, der Präsidentin der EU-Kommission, tosender Applaus der Ratsmitglieder, Begrüßung durch den britischen Premier und Empfang beim Souverän, ähnliche Bilder aus Belgien, stehende Ovationen des versammelten EU-Parlaments: Es war eine echte Rockstar-Tour, die der ukrainische Präsident am 8. und 9. Februar in London, Paris und dann in Brüssel absolvierte. Ein Triumph – zumindest innerhalb der hier wie dort herrschenden Eliten.
Eine Woche zuvor hatte Wladimir Selenskij Herrn Michel und Frau von der Leyen empfangen, umgeben von einer Schar von EU-Kommissaren, wobei jeder seine Ellenbogen einsetzte, um die herzlichste Umarmung zu erhalten. Diese Umarmungen sind Teil der Strategie, die man in Kiew seit mindestens einem Jahr verfolgt, um immer mehr Sanktionen gegen Moskau anzustiften, immer mehr Finanzmittel zu kassieren und nun vor allem immer mehr Waffen zu erhalten.
Die westlichen Politiker – allen voran Uncle Sam – hegen ihrerseits den Ehrgeiz, die Ukraine in das transatlantische Lager einzubinden. Diese Bestrebungen begannen lange vor dem 24. Februar 2022, auch bereits lange vor 2014. In Wirklichkeit wurde das transatlantische Lager seit dem Zerfall der UdSSR immer wieder angelockt. Zbigniew Brzeziński, einst der Berater von Präsident Carter, verwies sogar schon 1997 auf eine für die USA entscheidende Rolle der Ukraine im geopolitischen Kräftemessen auf der Welt.
Dies ist der rationale, der strategische Hintergrund, der von den atlantischen Strategen verfolgt wird, und der ist das Wichtigste. Doch wenn man die flammenden Erklärungen und das begeisterte Gestikulieren der Staats- und Regierungschefs der 27 Länder, die sich am 9. Februar in Brüssel versammelten, betrachtete, so konnte man denken, dass die Mitglieder des Europäischen Rates von einer kollektiven, über das Rationale hinausgehenden Begeisterung ergriffen waren. So stolz zeigten sie sich, diesen Mann, der als Held der Neuzeit gepriesen wurde, leibhaftig begrüßen zu dürfen.
Neben der bemerkenswerten Ausnahme des ungarischen Premierministers, der sich dem Lobesgesängen nicht anschloss (und in gewissem Maße auch seines österreichischen Amtskollegen), überboten sich die einen und anderen in ihrer verbalen und demonstrativen Übertreibung. Neben vielen anderen Beispielen kann man Charles Michel zitieren, der deklamierte: "Die Europäische Union ist die Ukraine, und die Ukraine ist die Europäische Union." Ohne dass man allerdings die konkrete Bedeutung einer solch phrasenhaften Behauptung wirklich verstehen kann.
Zumal der Europäische Rat sich am Ende doch davor hütete, dem ukrainischen Präsidenten zu folgen, der davon träumt, dass sein Land innerhalb von zwei Jahren der EU beitreten könne. Zwar wurde der Ukraine im Juni des letzten Jahres der Kandidatenstatus zuerkannt, doch wie die Institutionen selbst zugeben, wird der Weg bis in die vollwertige Mitgliedschaft viel länger sein. Es ist sogar fraglich, ob es jemals zu einem Beitritt kommen wird, da dies durchaus den raschen Zerfall der europäischen Integration im Sinne von Paris oder Berlin bedeuten könnte.
Ebenso wenig erhielt Präsident Selenskij eine verlässliche Zusage von Kampfflugzeugen oder Langstreckenraketen. Er gibt jedoch die Hoffnung nicht auf: auch seine früheren Forderungen wurden selten auf Anhieb erfüllt, doch bisher hat er seine Ziele immer noch erreicht. Das jüngste Beispiel ist die Zusage zur Lieferung von schweren Kampfpanzern, obwohl dies kürzlich noch als unüberwindbare "rote Linie" galt. Was die Kampfflugzeuge betrifft, so erklärte Emmanuel Macron, dass dies keine Priorität habe, dass aber nichts ausgeschlossen sei – zumal Frankreich über ausreichend viele Flugzeuge verfügt, so etwa dreizehn Mirage 2000, die kürzlich aus dem aktiven Dienst ausgemustert wurden. Der britische Premierminister seinerseits verpflichtete sich, ukrainische Piloten auszubilden.
Außerdem bestärken all die Komplimente und Lobeshymnen für Waldimir Selenskij diesen in seiner Überzeugung, dass er alles verlangen kann und letztendlich auch alles bekommen wird. Um das Ausmaß der europäischen Unterstützung zu ermessen, genügt es, die Schlussfolgerungen des Gipfeltreffens vom 9. Februar etwas genauer zu lesen:
"Die EU wird der Ukraine weiterhin starke politische, wirtschaftliche, militärische, finanzielle und humanitäre Hilfe leisten, solange dies nötig ist. Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten haben der Ukraine und ihrer Bevölkerung bislang mindestens 67 Milliarden EUR an Unterstützung bereitgestellt.
Dieser Betrag umfasst knapp 12 Milliarden EUR an militärischer Unterstützung für die Ukraine, nachdem die siebte Tranche in Höhe von 500 Millionen EUR im Rahmen der Europäischen Friedensfazilität angenommen wurde. Angesichts der gegenwärtigen Lage hat der Europäische Rat die rasche Bereitstellung militärischer Ausrüstung durch die Mitgliedsstaaten für die Ukraine begrüßt."
Deutschland etwa gibt an, allein seit Anfang dieses Jahres bereits weitere 2,2 Milliarden Euro bereitgestellt zu haben – nach den zwei Milliarden Euro für das gesamte letzte Jahr.
Zwar ist der Betrag geringer als die 27,4 Milliarden Dollar, die man in Washington, D.C. für die militärische Unterstützung der Ukraine bereitstellt, aber auch die 12 Milliarden an europäischen Waffen und Munition sind alles andere als unbedeutend, ganz zu schweigen von Dutzenden weiterer Milliarden, die dem desolaten Land in Form von makroökonomischer Unterstützung bereitgestellt werden. Und das zu einer Zeit, in der zugleich die Rentenreform in Frankreich – wie von der EU empfohlen, aber von einer breiten sozialen Bewegung bekämpft – darauf abzielt, einige Milliarden Euro auf dem Rücken der lohnabhängig Beschäftigten "einzusparen".
Die Sparmaßnahmen zum Zweck der Unterstützung der ukrainischen Kriegsanstrengungen sind vielleicht erst ein Anfang. Die Tageszeitung Le Monde forderte am 10. Februar ganz Frankreich auf, "den Preis der Freiheit zu zahlen", und griff damit die Worte von Emmanuel Macron auf. Die Zeitung argumentierte in folgender Weise:
"Russland daran zu hindern, 'den Sieg zu erringen', wird ein größeres finanzielles und militärisches Engagement voraussetzen als das bisher geleistete. Das bedeutet, dass die Rüstungsindustrie auf Hochtouren läuft, dass noch härtere Sanktionen verhängt werden und dass andere Haushaltsposten geopfert werden müssen. Es ist an der Zeit [...], die Bevölkerung auf den Ernst der Lage vorzubereiten."
Das klingt doch wahrlich vielversprechend.
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