Laut Human Rights Watch haben Großbritannien und die USA gemeinsam Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, als sie die Bewohner der Chagos-Inseln im Indischen Ozean vor fünf Jahrzehnten zwangen, ihre Heimat zu verlassen, um Platz für einen US-Marine-Stützpunkt zu schaffen. Den Überlebenden der gewaltsam vertriebenen Bewohner der Chagos-Inseln sollte eine bedingungslose Entschädigung gezahlt werden, fordert nun die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW).
Sowohl die ehemaligen Bewohner als auch die mauritische Regierung, die ihre Souveränität über die Inseln zurückzugewinnen versucht, werden weitgehend ignoriert. Dabei hatte der Internationale Gerichtshof bereits vor Jahren die Territorialansprüche Mauritius zugesprochen und Großbritannien aufgefordert, die Chagos-Inseln zu räumen.
Doch auch Jahrzehnte nach der rechtswidrigen Vertreibung und dem offiziellen Ende des Kolonialismus der einstigen britischen Seemacht wird das Chagos-Archipel als Britisches Überseegebiet und letzter noch verbliebener Teil des Britischen Territoriums im Indischen Ozean gehalten – zum Zweck einer US-Militärbasis.
Der Chagos-Archipel ist eine Gruppe von mehr als 50 Inseln im Indischen Ozean, die von Mauritius beansprucht werden. Drei Jahre bevor der Inselstaat im Jahr 1968 seine Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich erlangte, trennte das Vereinigte Königreich den Chagos-Archipel von Mauritius ab und wandelte ihn in das sogenannte British Indian Ocean Territory (BIOT) um. Schon damit verstieß London nicht nur gegen die UN-Resolution 1514 (XV) zur Entkolonialisierung, die eine solche Zerstückelung von Kolonien untersagt, sondern vertrieb auch mehr als 2.000 Chagossianer, die rechtmäßigen Bewohner der Inseln, und machte sie heimatlos.
Etwa 6.000 Meilen südöstlich von London gelegen liegt dort auch der Stützpunkt der US-Marine in Diego Garcia. Der Stützpunkt wurde in den 1970er-Jahren gebaut und ist nach Angaben US-amerikanischer Behörden "eine nahezu unverzichtbare Plattform" für Militäreinsätze im Nahen Osten, in Südasien und Ostafrika.
Im Namen des Kampfes gegen den Kommunismus wurden die Zwangsdeportationen in den 1960er- und 1970er-Jahren durchgeführt, damit die größte Insel, Diego Garcia, an die USA verpachtet werden konnte, um sie als Luftwaffenstützpunkt zu nutzen.
Dabei ist den Mauritianern die Begründung, warum die Basis weiterhin besetzt wird, nicht nachvollziehbar:
"Was der Welt über die militärstrategischen Pläne und Projekte der Amerikaner, die auf Diego Garcia operieren wollen, verschwiegen wird, ist hinterhältig vonseiten der Amerikaner. Wir wissen, dass sie Diego Garcia als Militärstützpunkt nutzen wollen, um die Ausbreitung des Kommunismus während des Kalten Krieges zu verhindern. Ist das ihre militärische Taktik, um uns und den Rest der Welt hinters Licht zu führen? Wir alle wissen, dass es heute keinen Kalten Krieg mehr zwischen der Sowjetunion und den USA gibt", schrieb Ahmad Macky in einem Artikel für die Zeitung Le Mauricien.
Der prominente US-Admiral Elmo Zumwalt erklärte in den 1970er-Jahren vor dem US-Kongress, die Sowjetunion stehe auf dem "zentralen Teil der Energieleitung des Westens bis zum Persischen Golf". Aus diesem Grund sei der Indische Ozean und damit der Stützpunkt Diego Garcia "zu einem Brennpunkt der amerikanischen Außen- und Wirtschaftspolitik geworden und hat einen wachsenden Einfluss auf unsere Sicherheit".
Heute gebe es sogar eine "völlig falsche Geschichte über die Übernahme von Mauritius durch die Chinesen", die dort angeblich einen Stützpunkt errichten wollten. Dies sei eine Parallele zu dem falschen Narrativ in den 1960er-Jahren über eine angebliche Übernahme Mauritius' durch Russland, heißt es seitens Lalit, einer linken Partei aus Mauritius. Damals habe es geheißen, dass Mauritius der Sowjetunion angeblich eine "Militärbasis" in Vieux Grand Port zugesagt habe, womit laut Lalit der "Diebstahl von Diego Garcia für die Militärbasis und die Vertreibung der Bewohner von Chagos" gerechtfertigt worden sei. Bezüglich einer vermeintlichen Gefahr einer Übernahme durch China habe "die am weitesten rechts stehende aller britischen Zeitungen, die Daily Mail, eine schrille Kampagne gestartet," zusammen mit einem rechtsextremen konservativen Abgeordneten namens Daniel Kawczynski.
Eine Rückkehr der Chagossianer wurde von London jahrelang blockiert. Trotz eines Urteils des Obersten Gerichtshofs der Vereinten Nationen, dass die anhaltende britische Besatzung illegal sei. Laut einem Bericht von Human Rights Watch leben heute etwa 10.000 Chagossianer vor allem in Großbritannien, Mauritius und auf den Seychellen in bitterer Armut. Viele seien aufgrund der schlechten Bedingungen gestorben.
Im Jahr 2016 weigerte sich die britsche Regierung explizit, den Chagossianern die Rückkehr in ihre Heimat zu gestatten. Sie begründete dies mit "Machbarkeit, Verteidigungs- und Sicherheitsinteressen und Kosten für den britischen Steuerzahler". Man räumte aber auch ein, dass die ursprüngliche Abschiebung der Inselbewohner falsch war, gewährte ihnen die britische Staatsbürgerschaft und stellte 40 Millionen Pfund (rund 49 Millionen US-Dollar) zur Verfügung, um das Leben der Chagossianer in aller Welt zu verbessern. Nachdem die britische Regierung den vertriebenen Chagossi das Recht zugestanden hatte, die britische Staatsbürgerschaft zu beantragen, sind einige in das Vereinigte Königreich gezogen, wo sie jedoch größtenteils weiter armutsbetroffen bleiben, da sie unter anderem bei der Wohnungssuche und bei der Arbeit diskriminiert werden, heißt es in dem Bericht der Menschenrechtsorganisation.
Human Rights Watch hat sowohl die Vertreibung als auch die Blockierung der Rückkehr als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft, deren sich das Vereinigte Königreich zusammen mit seinem transatlantischen Verbündeten, den USA, schuldig gemacht habe.
Daher müssten das Vereinigte Königreich und die USA die Betroffenen der gewaltsamen Vertreibung vollständig entschädigen. Zudem sollten verantwortliche Einzelpersonen vor Gericht gestellt werden. Clive Baldwin, leitender Rechtsberater bei HRW und Hauptautor des 106-seitigen Berichts, der am Mittwoch veröffentlicht wurde, sagte: "Das Vereinigte Königreich begeht heute ein entsetzliches koloniales Verbrechen, indem es alle Chagossi als ein Volk ohne Rechte behandelt." Aus Dokumenten der Vertreibung gehe zudem systemischer Rassismus bei der Behandlung der Inselbewohner hervor.
"Die gewaltsame Vertreibung der Chagossianer und die andauernden Misshandlungen stellen Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar, die von einer Kolonialmacht gegen ein indigenes Volk begangen wurden", erklärt die Menschenrechtsorganisation. "Die britische Kolonialherrschaft auf dem Chagos-Archipel endete im Gegensatz zu den meisten anderen Kolonien in Afrika nicht in den 1960er-Jahren, sondern setzte sich auf außerordentlichen Kosten der Menschen auf Chagos fort."
Vor rund vier Jahren hatte der Internationale Gerichtshof der Vereinten Nationen entschieden, dass das Vereinigte Königreich die Inseln an Mauritius zurückgeben muss. Im Jahr 2017 hatte die UN-Generalversammlung den Fall der Inselbewohner angehört und an den IGH verwiesen. Dieser gab den Inselbewohnern mit einer 13:1-Entscheidung recht. Mit einer Gegenstimme der USA. Die britische Regierung hat die IGH-Entscheidung als ein nicht verbindliches Urteil abgetan.
Human Rights Watch fordert das Vereinigte Königreich auf, das Verbot der dauerhaften Rückkehr der Chagossianer in ihr Heimatland unverzüglich aufzuheben und gemeinsam mit den USA finanzielle und sonstige Unterstützung zu leisten, damit die Menschen zurückkehren und in Würde leben und arbeiten können. Laut Lalit wäre dazu auch eine Beseitigung der ökologischen Verwüstung notwendig.
Zudem sollten laut HRW Reparationen an "jede Generation der Betroffenen" geleistet werden. König Charles sollte eine "vollständige und vorbehaltlose Entschuldigung" aussprechen. Die USA müssten eine Untersuchung dieser Verbrechen gegen die Menschlichkeit und eine Rechenschaftspflicht der hauptverantwortlichen Personen und staatlichen Institutionen sicherstellen.
In dieser Woche hat das US-Militär jedoch klar gemacht, dass der Stützpunkt Diego Garcia "ein lebenswichtiger Standort für die USA und deren Verbündeten" sei.
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