Von Bernd Murawski
Angesichts der in westlichen Medien bestrittenen Glaubwürdigkeit seiner Quelle betonte Seymour Hersh in einem Interview, dass er vor der Veröffentlichung mit erfahrenen Faktenprüfern zusammengearbeitet hätte. Doch auch wenn seine Aussagen über die Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines angezweifelt werden, gibt es klare Indizien für eine westliche Urheberschaft. Hätte der Sabotageakt aufgrund der vorliegenden Untersuchungsergebnisse Russland angelastet werden können, wären diese bereits genüsslich präsentiert worden. Selbst der Chef der Nord Stream 2 AG, Matthias Warnig, schließt eine Beteiligung des Kremls aus. Ist aber Russland aus dem Spiel, verbleiben als potenzielle Akteure allein westliche Staaten.
Nach Schätzungen der Versicherungswirtschaft belaufen sich die Gesamtverluste durch die Zerstörung von Nord Stream auf rund 50 Milliarden US-Dollar. Es würde sich somit um den historisch größten Schaden durch einen Terroranschlag handeln. Dabei sind Folgekosten wie die entgangenen Gewinne der Betreibergesellschaften nicht einmal berücksichtigt. Neben dem Gaslieferanten Russland ist Deutschland der Hauptbetroffene, sodass zu erwarten wäre, dass sich die verantwortlichen Stellen für Aufklärung und Schadensersatz einsetzen wie auch politische Konsequenzen ziehen.
Scott Ritter spricht von einem "wirtschaftlichen Pearl Harbour" und einer Kriegserklärung der USA an Deutschland und Europa. Wie andere kritische Beobachter geht er davon aus, dass Deutschland von dem Anschlag überrascht wurde. Gleichwohl hatte der US-Präsident Joe Biden bei seinem Treffen mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz Anfang Februar 2022 angekündigt, die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 im Fall einer russischen Militäraktion gegen die Ukraine verhindern zu wollen. Wann und auf welche Weise dies geschehen könnte und ob überhaupt ein solcher Plan verfolgt würde, blieb damals im Dunkeln.
War die Bundesregierung im Voraus informiert?
Eine andere, durchaus plausible Darstellung der Ereignisse um die Sprengung der Erdgasleitungen findet sich auf der Webseite Linkezeitung.de. Danach seien die Sprengsätze, wie im Artikel von Seymour Hersh beschrieben, an der Nord Stream 2 nahe Bornholm angebracht worden. Bei der Sprengung, die am 26.09.2022 um 2:03 Uhr erfolgte, sei jedoch nur ein Strang zerstört worden.
Siebzehn Stunden später wäre achtzig Kilometer weiter nördlich eine weitere Aktion mit einem U-Boot durchgeführt worden. Hierbei hätte der hohe Geräuschpegel, der durch den Gasaustritt am ersten Sprengungsort verursacht wurde, als Tarnung gedient. Da dort – anders als bei Bornholm – beide Nord-Stream-Pipelines nahe beieinander liegen, wären an allen Strängen Sprengsätze angebracht worden, von denen jedoch nur drei explodierten. Diese zweite "improvisierte" Aktion wäre ohne Wissen der schwedischen Küstenwache nicht möglich gewesen. Durch die Beseitigung der nicht explodierten Sprengladung bei Bornholm hätte ebenso die dänische Untersuchungskommission Kenntnis über den Anschlag auf die Erdgasleitungen erlangt.
Unabhängig davon, ob diese Darstellung zutrifft und wie die Ereignisse im Einzelnen abgelaufen sind, spricht einiges dafür, dass zumindest die Anrainerstaaten vorab informiert waren. Wenn dies aber der Fall war, erscheint unwahrscheinlich, dass die deutsche Regierung nicht eingeweiht war. Diese Vermutung wird dadurch untermauert, dass sie von Beginn an jede Stellungnahme zum Vorfall verweigerte und offenbar – wie im Fall des Verbleibs der Skripals nach dem mutmaßlichen Nowitschok-Anschlag – auf die Vergesslichkeit der Bürger setzt.
Sollte dagegen Deutschland mit der Sprengung der Nord-Stream-Pipelines vor vollendete Tatsachen gestellt worden sein, hätten die USA als mutmaßlicher Urheber eine erhebliche Belastung der Beziehungen riskiert. Selbst wenn die deutsche Seite keine andere Wahl hätte als sich zähneknirschend den Realitäten zu beugen, wäre das Verhältnis zum transatlantischen Partner fortan durch Misstrauen geprägt. Es geht hier wohlgemerkt um die Annahme, dass die deutsche Führung vom Sabotageplan frühzeitig in Kenntnis gesetzt wurde, was nicht ausschließt, dass es Kontroversen mit den Amerikanern gab.
Gegen diese These wird eingewendet, dass sich Deutschland in einem Vasallenstatus befindet. Dieser hat jedoch keine solide Basis, wenn er nicht auf einer weitgehend bereitwilligen Unterwerfung unter US-Vorgaben beruhen würde. Anstatt darüber zu debattieren, wie Deutschland nach Bekanntwerden der tatsächlichen Ereignisse zu reagieren hat, sollten Kritiker vielmehr die Frage stellen, weshalb die Bundesregierung die Zerstörung der Pipelines trotz immenser wirtschaftlicher Folgeschäden offenbar akzeptierte.
Wechselnde Machtverhältnisse und Alleingänge
Zur Veranschaulichung der Strukturen innerhalb der westlichen Staatengemeinschaft stelle man sich diese als Straßengang vor, die die gesamte Erde als ihr Revier betrachtet. Anstelle physischer Bedrohung der Anwohner durch die Bandenmitglieder dienen dem Machterhalt wirtschaftliche Abhängigkeitsstrukturen, die Dominanz des Finanzsektors, militärische Überlegenheit und vielfältige Einflussmöglichkeiten medialer, kultureller, organisatorischer und geheimdienstlicher Art. Innerhalb einer Gang besteht naturgemäß ein Kräfteungleichgewicht, dem eine "Hackordnung" entspricht, wobei die einzelnen Akteure über unterschiedliche Möglichkeiten einer Einflussnahme verfügen. Dasselbe trifft unverkennbar für die Beziehungen unter den westlichen Staaten zu.
Veränderungen im internen Machtgefüge führen zu Konfrontationen, da kaum jemand freiwillig seinen privilegierten Platz innerhalb der Hierarchie räumt. Was für eine Straßengang leicht nachvollziehbar ist, gilt gleichermaßen für eine Gruppe von Staaten. Erinnert sei an den kometenhaften wirtschaftlichen Aufstieg Japans, das den USA im Fall einer Fortsetzung die unangefochtene Führungsrolle streitig gemacht hätte. Daraufhin wurde im Jahr 1985 mit dem Plaza-Abkommen eine Aufwertung des Yen beschlossen, die mithilfe des US-kontrollierten Finanzsystems durchgesetzt wurde. Während Japan infolge der Verteuerung seiner Exporte in einen Strudel von Deflation und Stagnation geriet, sicherten die USA ihre wirtschaftliche Dominanz.
Ebenfalls dürfte man in Washington den Aufstieg Deutschlands zur größten Handelsmacht mit Argwohn betrachtet haben, zumal es sich wie bei Japan um einen Hauptgegner im Zweiten Weltkrieg handelte. Insbesondere die Annäherung an Russland ließ die Alarmglocken schrillen. Die Bedrohung der US-Hegemonie bei einem Zusammenschluss beider Länder wurde wiederholt beschworen, unter anderem durch die Politikstrategen Halford Mackinder, Hastings Ismay, Zbigniew Brzeziński und George Friedman. Konnte im Jugoslawienkrieg noch eine Koalition der westlichen Staaten geschmiedet werden, verweigerten Deutschland und andere EU-Mitglieder den USA im Jahr 2003 beim Irakkrieg die Gefolgschaft.
Wie die Anführer einer Straßengang gewöhnlich Nachsicht mit den Exzessen einzelner Mitglieder üben, solange die Kontrolle über das eigene Revier unangefochten ist, ließ ebenso die US-Führung zu, dass ihre Verbündeten von der vorgegebenen Linie abwichen. Trotz sichtbarer Verärgerung beschränkte sie sich auf mediale und personelle Einflussnahme, da die globale Macht des Westens ungefährdet schien. Russland war zu Beginn der Nullerjahre geschwächt und andere potenzielle Kontrahenten waren technologisch um Längen zurück. Die neokoloniale Ausbeutung des Globalen Südens konnte unbehindert fortgesetzt und weiter intensiviert werden. Die "regelbasierte Ordnung" mit ihrem neoliberalen Wertekanon bot ein solides Fundament, sodass Alleingänge einzelnen Staaten toleriert werden konnten.
Die Herausforderung durch den Globalen Süden
Dass sich die Lage während der letzten Jahrzehnte veränderte, beruhte vorwiegend auf dem Erstarken der großen Länder des Globalen Südens und – allen voran – der BRICS-Staaten. Russland konnte sich wirtschaftlich und politisch konsolidieren, und die technologische Kluft zwischen dem Westen und den neokolonial ausgebeuteten Ländern verminderte sich zusehends.
Eine besondere Rolle kommt dem Aufstieg Chinas zu. Anstatt dem vom Westen vorgezeichneten Pfad zu folgen, profilierte sich das Land außen- und innenpolitisch zunehmend als Alternative. Sein Votum für eine multipolare Ordnung und die Praktizierung eines alternativen Gesellschaftsmodells wurden von einem beeindruckenden Wachstum begleitet. Der chinesische Anteil an der globalen Wirtschaftsleistung stieg zwischen den Jahren 2000 und 2021 von 7,3 auf 18,6 Prozent. Ebenso kräftig wuchs Chinas Exportanteil, von 5,8 Prozent zurzeit des Irak-Kriegs auf 15,1 Prozent im Jahr 2021.
Dass die US-Regierung wie auch die ihnen nahestehenden Thinktanks und Medien gegenwärtig aggressiver auf Abweichler innerhalb des westlichen Bündnisses reagieren, dürfte durch den Machtzuwachs der globalen "Nachzügler" begründet sein. Die privilegierte Stellung, von der die westlichen Staaten im globalen Gefüge profitiert haben, ist zum ersten Mal unübersehbar bedroht. Damit der Westen seine Machtposition erhalten kann, sind Aktivitäten zurückzufahren, die zwar für einzelne Staaten Vorteile bringen, jedoch dem Gemeininteresse abträglich sind. Die Lage lässt sich mit dem Eindringen einer benachbarten Straßenbande in das eigene Revier vergleichen. Persönliche Beziehungen zu Mitgliedern der anderen Gang, die bislang toleriert wurden, erwecken fortan Misstrauen. Jahrelange Freundschaften werden gekappt, Liebespaare getrennt und Geschwister zu Feinden gemacht.
Gesichtswahrung und Erhaltung der "Pax Americana"
Ein Rückzug aus Projekten, die einem Staat unbestreitbare wirtschaftliche oder anderweitige Vorteile verschaffen, ist kaum ohne Gesichtsverlust möglich. Für eine betroffene Regierung ist es daher hilfreich, wenn sie auf "höhere" ungeklärte Umstände verweisen kann. Ist sie auch selbst aus dem Schneider, verbleibt das Problem erklären zu müssen, wer die "schmutzige Arbeit", in diesem Fall die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines, erledigt hat. Da die zentralen Medien des Westens erfolgreich auf den politischen Mainstream getrimmt wurden, gelingt es zwar, kritische Fragen weitgehend abzuwehren, eine zunehmende Staatsverdrossenheit unter aufgeweckten Bürgern kann dennoch nicht vermieden werden – obgleich mit der Zeit Gras über das unliebsame Thema wachsen dürfte.
Auch wenn die deutsche Regierung frühzeitig über die beabsichtigte Zerstörung der Pipelines informiert war, ist anzunehmen, dass sie dem Plan nur widerwillig zugestimmt hat. Dasselbe gilt für andere Forderungen der USA mit erheblichen Konsequenzen wie die derzeit verlangte Reduzierung der wirtschaftlichen Kontakte zu China. Gleichwohl hat Deutschland ein grundlegendes Interesse am Weiterbestand der "Pax Americana", zumal es davon stärker profitiert hat als die meisten anderen westlichen Staaten. Augenscheinlich herrscht die Überzeugung vor, dass die Vorteile einer Erhaltung der globalen Dominanz des Westens die Opfer durch die Zerstörung der Nord Stream überwiegen.
Als Schuldiger wird zudem nicht die Druck ausübende westliche Führungsmacht betrachtet, sondern Russland. Die Vertiefung der wirtschaftlichen Kooperation mit dem östlichen Nachbarn war ursprünglich von der Erwartung begleitet, das Land in die "regelbasierte Ordnung" des Westens einzubinden zu können. Bedingung war eine Öffnung für westliches Kapital und die Akzeptanz einer unterwürfigen Rolle als Rohstofflieferant. Das Vorhaben misslang, weil Moskau sich westlicher Einflussnahme entzog und obendrein für eine multipolare Ordnung votierte. Symbolisiert wird diese Entwicklung durch die Aufnahme Russlands in die G7 im Jahr 1998 und den sechzehn Jahre später erfolgten Ausschluss aus dem in G8 umbenannten Club führender Industriestaaten.
Um die Dominanz des Westens zu erhalten, insistieren die USA bereits seit Längerem auf einer Eindämmung Russlands. Da das Land Chinas wichtigster Partner sei, würde zugleich der Hauptkontrahent der westlichen Wertegemeinschaft geschwächt werden. Dass sich führende deutsche Politiker die US-amerikanische Position nach längerem Zögern zu eigen gemacht haben, dokumentieren die öffentlichen Bußgänge, in denen bedauert wird, dass überhaupt enge wirtschaftliche Beziehungen zu Russland aufgenommen wurden.
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