Mittlerweile scheinen die Recherchen des US-Investigativjournalisten Seymour Hersh das zu bestätigen, was für viele bereits offensichtlich schien: Die USA (und auch Norwegen) stecken hinter den Anschlägen auf die Nord Stream-Pipelines.
Dabei ist dies eigentlich nicht erstaunlich, denn zum einen war klar, dass die USA zu den größten Profiteuren des Anschlags gehören. Zum anderen gibt es zahlreiche öffentliche Äußerungen von US-Präsident Joe Biden und seinem außenpolitischen Team, darunter der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan, Außenminister Tony Blinken und Victoria Nuland, die Unterstaatssekretärin für Politik, die eine Täterschaft der USA zumindest nahelegen.
Am 7. Februar 2022, weniger als drei Wochen vor Beginn des Krieges in der Ukraine, traf sich Biden mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Bei der anschließenden Pressekonferenz erklärte Biden im Beisein von Scholz:
"Wenn Russland einmarschiert ... wird es kein Nord Stream 2 mehr geben. Wir werden dem ein Ende setzen."
Zuvor hatte Nuland im Wesentlichen dasselbe erklärt:
"Ich möchte mich heute ganz klar ausdrücken", sagte sie als Antwort auf eine Frage. "Wenn Russland in die Ukraine einmarschiert, wird Nord Stream 2 so oder so nicht vorankommen."
Bekannt ist auch, dass Nuland nach den Anschlägen auf die Pipelines im September bei einer Anhörung des Ausschusses für auswärtige Beziehungen des Senats Ende Januar zu Senator Ted Cruz sagte:
"Senator Cruz, wie Sie bin ich, und ich denke, die Regierung auch, sehr erfreut zu wissen, dass Nord Stream 2 jetzt, wie Sie sagen, ein Haufen Schrott auf dem Grund des Meeres ist."
Interessant an Hershs Enthüllungen sind jedoch die Details, wie genau die USA den Sprengstoffanschlag planten und vorgingen. Wie er unter Berufung auf eine mit der Angelegenheit vertraute Quelle berichtet, wurde der Sprengstoff im Juni 2022 von Tauchern der US-Marine unter dem Deckmantel der NATO-Übung BALTOPS 22 an den Pipelines angebracht.
Dem Bericht zufolge kamen dabei Taucher am Tauch- und Bergungszentrum der US-Marine in Panama City zum Einsatz. Laut Hersh gab es dafür auch einen konkreten Grund: Die Taucher gehörten ausschließlich der Marine an und nicht dem amerikanischen Kommando für Spezialkräfte, dessen verdeckte Operationen dem Kongress gemeldet und der Führung des Senats und des Repräsentantenhauses im Voraus mitgeteilt werden müssen. Die Biden-Administration tat demnach alles, um undichte Stellen bei der Planung der Operation zu vermeiden.
Die Planungen sollen laut Hershs Quelle bereits im Dezember 2021 erfolgt sein, als sich die Spannungen zwischen Russland und der Ukraine verstärkten. Zu diesem Zeitpunkt richtete sich die Aufmerksamkeit der USA wieder einmal auf Nord Stream. Der Pulitzer-Preisträger und Investigativjournalist schreibt:
"Solange Europa von den Pipelines für billiges Erdgas abhängig blieb, befürchtete Washington, dass Länder wie Deutschland zögern würden, die Ukraine mit dem Geld und den Waffen zu versorgen, die sie brauchte, um Russland zu besiegen."
Zu dieser Zeit beauftragte Biden Jake Sullivan, eine behördenübergreifende Gruppe zusammenzustellen, die einen Plan ausarbeiten sollte. Im Dezember 2021 berief Jake Sullivan die Sitzung einer neu gebildeten Taskforce ein ‒ Männer und Frauen aus dem Vereinigten Generalstab, der CIA, dem Außen- und dem Finanzministerium ‒ und bat um Empfehlungen, wie man auf Putins bevorstehende Invasion reagieren sollte. Sullivan beabsichtigte, dass die Gruppe einen Plan für die Zerstörung der beiden Nord Stream-Pipelines ausarbeiten sollte.
In den folgenden Sitzungen erörterten die Teilnehmer die Optionen für einen Angriff. Die Marine schlug vor, ein neu in Dienst gestelltes U-Boot einzusetzen, um die Pipeline direkt anzugreifen. Die Luftwaffe diskutierte den Abwurf von Bomben mit verzögertem Zünder, die aus der Ferne gezündet werden könnten. Die CIA vertrat die Ansicht, dass der Angriff in jedem Fall verdeckt erfolgen müsse. Allen Beteiligten war klar, was auf dem Spiel stand, heißt es in dem Bericht. "Das ist kein Kinderkram", sagte die Quelle. Wenn der Angriff auf die Vereinigten Staaten zurückgeführt werden könnte, "wäre das eine Kriegshandlung".
CIA-Chef William Burns ermächtigte dann eine Arbeitsgruppe der Taskforce, zu deren Mitgliedern jemand gehörte, der mit den Fähigkeiten der Tiefseetaucher der Marine in Panama City vertraut war. In den nächsten Wochen begannen die Mitglieder der CIA-Arbeitsgruppe mit der Ausarbeitung eines Plans für eine verdeckte Operation, bei der Tiefseetaucher eingesetzt werden sollten, um eine Explosion entlang der Pipeline auszulösen.
Dennoch war die Taskforce anfangs skeptisch, was die Begeisterung der CIA für einen verdeckten Tiefseeangriff anging. Es gab zu viele unbeantwortete Fragen. Die Gewässer der Ostsee wurden von der russischen Marine stark patrouilliert, und es gab keine Ölplattformen, die als Deckung für eine Tauchoperation genutzt werden konnten.
"Während all dieser Planungen, so die Quelle, sagten einige Mitarbeiter der CIA und des Außenministeriums: 'Macht das nicht. Es ist dumm und wird ein politischer Albtraum sein, wenn es herauskommt.'"
Dennoch berichtete die CIA-Arbeitsgruppe Anfang 2022 an Sullivans behördenübergreifende Gruppe:
"Wir haben eine Möglichkeit, die Pipelines zu sprengen."
Bidens und Nulands Anspielungen im Februar 2022 sorgten in der Gruppe bei einigen allerdings für Frustration. Der Quelle zufolge waren einige hochrangige CIA-Beamte der Ansicht, dass die Sprengung der Pipeline "nicht länger als verdeckte Option betrachtet werden konnte, weil der Präsident gerade bekannt gegeben hatte, dass wir wüssten, wie man es macht". Die Mitglieder der Arbeitsgruppe hatten keinen direkten Kontakt zum Weißen Haus, wollten aber unbedingt herausfinden, ob der Präsident es ernst meinte, was er gesagt hatte. Die Quelle erinnerte sich: "Bill Burns kam zurück und sagte: 'Tun Sie es!'"
Auch für die Zusammenarbeit mit den Norwegern hatten die USA laut Hersh gute Gründe: So gehörte Norwegen zu den Erstunterzeichnern des NATO-Vertrags im Jahr 1949, derzeitiger Generalsekretär ist Jens Stoltenberg, der acht Jahre lang norwegischer Ministerpräsident war. Zudem hatten die USA ihre Militärpräsenz in Norwegen in den letzten Jahren ausgebaut:
"Sie hassten die Russen, und die norwegische Marine war voller hervorragender Seeleute und Taucher, die seit Generationen Erfahrung in der hochprofitablen Tiefsee-Öl- und Gasexploration hatten",
sagte die Quelle.
Die Norweger könnten darüber hinaus auch noch andere Interessen gehabt haben, denn eine Zerstörung der Pipelines würde es Norwegen ermöglichen, weitaus mehr eigenes Erdgas nach Europa zu verkaufen. Zusammen mit der norwegischen Marine entschied sich die US-Taskforce dann auch für die "ideale" Stelle, nur wenige Meilen vor der dänischen Insel Bornholm. An dieser Stelle verliefen die Pipelines in einem Abstand von mehr als einem Kilometer entlang eines Meeresbodens, der nur etwa 80 Meter tief war.
Ursprünglich sollte der Sprengstoff mit einem 48-Stunden-Timer versehen werden und bis zum Ende des Manövers BALTOPS 22 platziert werden, berichtete Hersh. Kurz bevor die Mission erfolgte, überlegte Washington es sich jedoch anders: Die Bomben sollten zwar immer noch während der BALTOPS-Übung gelegt werden, aber das Weiße Haus befürchtete, dass ein Zeitfenster von zwei Tagen für ihre Detonation zu kurz vor dem Ende der Übung sein würde, und dass es offensichtlich wäre, dass Amerika daran beteiligt war. Daher wurde die Taskforce angewiesen, eine Methode zu finden, um die Sprengsätze auf Abruf zu zünden. Schließlich entschied man sich für die Möglichkeit einer Sonarboje. Hersh schreibt dazu:
"Am 26. September 2022 warf ein P8-Überwachungsflugzeug der norwegischen Marine bei einem scheinbaren Routineflug eine Sonarboje ab. Das Signal breitete sich unter Wasser aus, zunächst zu Nord Stream 2 und dann zu Nord Stream 1. Wenige Stunden später wurde der Hochleistungs-C4-Sprengstoff ausgelöst und drei der vier Pipelines wurden außer Betrieb gesetzt. Innerhalb weniger Minuten konnte man sehen, wie sich Methangas, das in den stillgelegten Pipelines verblieben war, an der Wasseroberfläche ausbreitete, und die Welt erfuhr, dass etwas Unumkehrbares geschehen war."
Hersh bekräftigte am Mittwoch gegenüber der Nachrichtenagentur TASS noch einmal die Glaubwürdigkeit der Quelle, die ihm die Daten zur Untermauerung einer Geschichte über die Beteiligung der USA an der Sabotage der Nord Stream-Pipelines geliefert hatte. Der Journalist sagte auch, er glaube, dass die US-Regierung wahrscheinlich ihre Beteiligung an der Sabotage abstreiten werde.
Tatsächlich haben das Weiße Haus und das Pentagon die Vorwürfe zurückgewiesen: Die Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrats des Weißen Hauses, Adrienne Watson, sagte der TASS auf die Frage nach einem Kommentar: "Das ist völlig falsch und frei erfunden." Auch der Sprecher des Pentagons, Oberstleutnant Garron Garn, äußerte am Mittwoch gegenüber TASS, dass die USA nicht in die Explosionen der Nord Stream-Gaspipelines verwickelt gewesen seien. Die Vereinten Nationen gaben an, sie seien nicht in der Lage, den Bericht zu verifizieren. Der stellvertretende Sprecher des UN-Generalsekretärs Farhan Haq sagte:
"Ich habe keine Möglichkeit, diesen speziellen Bericht zu überprüfen. Natürlich wäre es Sache der US-Journalisten, den Wahrheitsgehalt dieser Behauptungen zu überprüfen. Darüber hinaus kann ich zu diesem Zeitpunkt keinen Kommentar abgeben."
Das russische Außenministerium hatte zuvor als Reaktion auf den Bericht erklärt, die Vereinigten Staaten müssten Fragen zu ihrer Rolle bei den Explosionen an den unterseeischen Nord Stream-Gaspipelines im vergangenen Jahr beantworten. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, forderte das Weiße Haus auf, zu den vorgelegten Fakten Stellung zu nehmen.
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