Von Irina Alksnis
Das beliebteste mediale Thema der letzten Tage im Westen war das Gespenst angeblicher Drohungen aus Moskau. Als Erster sprang vor einer Woche Boris Johnson aufs Podium und behauptete, Wladimir Putin habe London und ihn persönlich in einem Telefongespräch mit Raketenschlägen bedroht. Dieser Schachzug des ehemaligen britischen Premiers, der sich auffällig um die Rückkehr an die Macht bemüht, war nicht sehr erfolgreich: Von allen Seiten kamen Kommentare, die ihn direkt oder indirekt der Lüge bezichtigten.
Jetzt gab es zwei weitere bemerkenswerte Stellungnahmen. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz sagte, der russische Präsident habe "weder ihn noch Deutschland bedroht". Parallel dazu erzählte der ehemalige israelische Ministerpräsident Naftali Bennett eine faszinierende Geschichte darüber, wie er sich auf Bitten von Wladimir Selenskij an Putin gewandt hatte und dieser ihm sein Wort gab, den ukrainischen Präsidenten nicht zu töten.
Von Russland aus wirken all diese Erkenntnisse und Diskussionen skurril. Putin ist seit mehr als zwei Jahrzehnten dafür bekannt, dass er sich diplomatischen und außenpolitischen Traditionen verpflichtet fühlt und sich in seinen Äußerungen, insbesondere bei Gesprächen mit ausländischen Gesprächspartnern, äußerst zurückhält. Dementsprechend wirkt das ganze Brimborium um die realen und imaginären Worte des russischen Staatschefs wie ein Zirkus, der angesichts der offensichtlichen Brisanz des Themas für den Westen besonders unverständlich ist. Auf jeden Fall ist das Thema (der russischen Vergeltung – d. Red.) in den letzten Jahren in der einen oder anderen Form immer häufiger aufgetaucht, was zeigt, wie sehr es die Politik des Westens beunruhigt.
Die Erklärung für dieses Phänomen ist einfach: Der Westen spiegelt in Wladimir Putin seine eigenen Abgründe. Und was er dort erblickt, ist zunehmend erschreckend.
Häufig hört man die Meinung, dass diplomatische Regeln und völkerrechtliche Vorschriften leere und sinnlose Zeremonien sind, die niemand wirklich braucht. Das ist falsch. Um genau zu sein, ist ein Teil des diplomatischen Protokolls in der Tat in vielerlei Hinsicht rituell, aber in seinem Kern sind die über Jahrhunderte entwickelten Regeln eine Art Sicherheitsvorkehrung in den internationalen Beziehungen, und wie jede Sicherheitsvorkehrung sind auch sie aus real vergossenem Blut gewachsen.
Insbesondere präzise Formulierungen waren in der Außenpolitik schon immer so wichtig, weil unvorsichtige und nicht gut abgewogene Worte in der Weltgeschichte mehr als ein Mal immer teuer bezahlt werden mussten. Sehr teuer. Aus diesen Erfahrungen wuchsen Regeln des diplomatischen Parketts, die auf den ersten Blick, aber auch nur auf den ersten Blick, antiquiert und sogar albern erscheinen mögen.
Warum ist es zum Beispiel falsch (unangemessen, gefährlich), das Staatsoberhaupt eines anderen Landes zu töten, wenn sich Ihre Länder im Krieg befinden oder zerstritten sind?
Zum einen ist es in der Regel ein äußerst sinnloses Unterfangen, weil der frei gewordene Sitz sofort von jemand anderem eingenommen wird, der mit ziemlicher Sicherheit den gleichen Kurs weiterverfolgen und sogar verschärfen wird. Der Fall Selenskij ist in diesem Sinne aufschlussreich. Er ist ein typischer Vertreter der ukrainischen Eliten, die fast ausnahmslos mit Begeisterung die Zerstörung ihres eigenen Landes monetarisieren. Welchen Sinn hätte es also, ihn zu eliminieren? Sein Tod würde für Russland kein einziges Problem lösen, könnte aber zusätzliche Probleme schaffen.
Zum anderen könnte die Vergeltung den Führer des Landes, das den Mord organisiert hat, persönlich treffen oder seine Familie. Früher war es nicht sehr schwierig, an einen Monarchen oder Präsidenten heranzukommen, sodass das Tabu der Ermordung von geopolitischen Rivalen unter anderem Ausdruck des gesunden Menschenverstands war.
Im Westen hat diese Abschreckung irgendwann aufgehört zu funktionieren. Es ist im Allgemeinen klar, warum dies geschehen ist – die westliche überhebliche Mentalität ist eine ererbte Folge des kolonialen Systems und eine Auswirkung der Realitäten des aktuellen neokolonialen Systems. Den Rest der Welt nahmen und nehmen die USA und Europa nicht als vollwertige souveräne Staaten ernst, und man muss zugeben, dass diese Verachtung ihre Gründe hatte. Die Eliten der "zweiten" und der "dritten" Welt hatten zu oft eine nicht zu übersehende Unreife in staatstragenden Fragen offenbart und litten zudem an inneren Widersprüchen. Zahlreich sind die Beispiele aus den vergangenen Jahrhunderten, in denen der Westen Putsche und Ermordungen von Staatsoberhäuptern angestiftet, wenn nicht sogar direkt organisiert hat, um eigene Kreaturen einzusetzen, die eine aus Sicht der Westens "richtige" Politik zu betreiben hatten. Er fand dafür immer willfährige Helfer in den nationalen Eliten der Schwellenländer und der kolonialisierten Welt. Für die westlichen Staatsoberhäupter bestand dagegen praktisch kein Risiko, für ihre Untaten bestraft zu werden – die Hände der potenziellen Rächer waren dafür zu kurz.
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem damit verbundenen Ende des bipolaren Systems verschlechterte sich die Situation. Drei Jahrzehnte lang hat der Westen vor den Augen der Welt nahezu alles getrieben, was er wollte, nicht nur mit anderen Ländern, sondern auch mit deren Führern. Die physische Vernichtung unliebsamer ausländischer Staatsmänner ist zur gängigen und offenen Praxis geworden – von der Folterung Miloševićs in Den Haag bis zur brutalen Ermordung Gaddafis.
Die lange Zeit der Straffreiheit hat sich auch auf die öffentliche Einstellung und Rhetorik ausgewirkt. Es ist zur Gewohnheit geworden, dass westliche Beamte routinemäßig Ketzereien äußern, die nach diplomatischen Maßstäben undenkbar sind, einschließlich offener Lügen (wie das Reagenzglas von Powell, dessen zwanzigster Jahrestag neulich "gefeiert" wurde) und offener Morddrohungen gegen den Führer einer Atommacht. Sie sind es wirklich nicht gewohnt, für ihre Worte zur Verantwortung gezogen zu werden. Boris Johnson ist in diesem Sinne ganz typisch für diese Vorgehensweise, er erzählt viel, wenn der Tag lang ist.
Es gibt jedoch auch im Westen weitsichtigere Menschen, die die Gefährlichkeit des vom Westen eingeschlagenen Weges zu erkennen beginnen. Schließlich war die Umsetzung dieser Politik in den letzten Jahren wenig erfolgreich, und das sogar gegenüber Ländern, deren Eliten jahrzehntelang als willfährige Marionetten galten. Plötzlich stellte sich heraus, dass die Staaten Lateinamerikas, Afrikas, Südostasiens und des Nahen Ostens unabhängig von den politischen und ideologischen Positionen der jeweiligen tagesaktuellen Machthaber hartnäckig "willensstark" sind. Ihre Eliten haben plötzlich begonnen, den Wunsch nach Unabhängigkeit und ihre neue Reife als Staaten zu demonstrieren. Versuche von Amerikanern und Europäern, Probleme mit altbekannten Methoden zu lösen, gehen zunehmend buchstäblich "nach hinten los", wie der versuchte Militärputsch in der Türkei 2016.
Und nun stellt sich die Frage, wie all das für den Westen enden wird, der noch immer nicht gelernt hat, sich anders als ein Elefant im Porzellanladen zu benehmen. Er selbst hat die grundlegenden Regeln und Normen der internationalen Beziehungen über Bord geworfen und verstößt eklatant gegen alle historisch gewachsenen Tabus der Weltpolitik. Wie also wird sich der "Rest der Welt" gegenüber ihm verhalten, wenn die Hegemonie der USA und der "Alten Welt" endgültig gebrochen ist? Auf welche Regeln aus der Zahl der eigenhändig über Bord geworfenen werden sich die entmachteten Weltherrscher dann noch berufen können?
Es überrascht nicht, dass einige hochrangige Vertreter des kollektiven Westens über die Antwort, die sie auf diese Frage gefunden haben, erschrocken sind und versuchen, die Zügellosigkeit ihrer eigenen Kollegen im Lager zu glätten.
Übersetzung aus dem Russischen. Irina Alksnis ist Kolumnistin bei ria.ru.
Mehr zum Thema - Nukleare Abschreckung: In Russland sucht man nach Wegen, sie wieder glaubhaft werden zu lassen