Eine Analyse von Jewgeni Krutikow
NATO-Chef Jens Stoltenberg hat erklärt, die Allianz "sieht, dass Russland eine Großoffensive vorbereitet". Der litauische Präsident Gitanas Nauseda hat sich ähnlich geäußert: Er prophezeit den baldigen Eintritt in eine "entscheidende Phase des Krieges". Bereits seit einigen Wochen sprechen die meisten hohen ukrainischen Militärs im Chor von einem "Wendepunkt", der an den Fronten unmittelbar bevorstehe. Auch viele russische Experten haben in jüngster Zeit geäußert, dass "die Tage gezählt sind" und "alles bald losgeht".
Es gibt mehrere Erklärungen für diese kollektive Wahrnehmung eines "Wendepunkts", der "jede Minute" in der russischen militärischen Sonderoperation im Ukraine-Krieg eintreten werde. Einige davon sind psychologischer Natur, andere wiederum sind ganz rational.
Zunächst einmal hat die Defensive der ukrainischen Truppen in letzter Zeit auf fast der gesamten Front Risse bekommen. Die Strategie der russischen Streitkräfte erlaubt es Kiew nicht, sich zu orientieren und eine einzige künftige "Hauptschlagrichtung" korrekt zu identifizieren. Das desorganisiert das ukrainische Militär auf der Ebene der Stäbe und führt in der Praxis zur chaotischen Verlegung der ukrainischen Reserven über Umgehungsstraßen entlang der Frontlinie.
Darüber hinaus hat die Aktivierung der russischen Streitkräfte an der gesamten Frontlinie im Januar auch einige russische Experten dazu veranlasst, einen Wendepunkt zu erwarten und dies in die Öffentlichkeit zu tragen. "Bald, bald wird etwas passieren", ist ihre Antwort auf eine Art Forderung der russischen Öffentlichkeit. Von dieser Forderung rühren auch die Aufmerksamkeit für Versetzungen russischer Generäle, die Suche nach dem Positiven in kleinen Details und dergleichen mehr. Außerdem waren die Erwartungen nach Beginn der Teilmobilisierung zu hoch.
Gleichzeitig wird vor allem im Westen der Zeitraum für den Beginn dieser "ernsthaften Offensive" manchmal gänzlich willkürlich vorhergesagt. Ein "Warten auf den Frühling" und alle anderen "Wetterüberlegungen" entbehren jeglicher Grundlage, da die russische Armee allwettertauglich ist, im Gegensatz etwa zur US-Armee.
Ihrerseits verknüpfen gerade westliche Experten häufig ihre Vorhersagen eines "Wendepunktes" mit Lieferungen neuester Waffen an die Ukraine. "Die Russen sind kurz davor, in die Offensive zu gehen" und deshalb müsse man die Unterstützung des Kiewer Regimes dringend hochfahren. Die Eliten im Westen müssen es irgendwie vor den Wählern rechtfertigen, dass die militärische Unterstützung für die Ukraine aufrechterhalten und sogar ausgebaut wird.
In diesem Kontext sind Äußerungen von Funktionären wie Stoltenberg über eine zu erwartende russische Offensive wie ein PR-Zug zu verstehen – zwecks Rechtfertigung für Schritte, die in der Öffentlichkeit nicht sehr beliebt sind: Die Lieferung von schweren Waffen, vor allem Panzern und später vielleicht Kampfflugzeugen. Und es spielt keine Rolle, ob die Nachrichtendienste oder die Militäraufklärung der NATO-Staaten für eine solche Offensive auch in der Realität irgendwelche Anzeichen sieht. Niemand wird Stoltenberg heute beim Wort nehmen, um es ihm gegebenenfalls später vorzuhalten.
Und die westlichen Aufklärungs- und Nachrichtendienste arbeiten und funktionieren auch, leider, leider. Erinnern Sie sich nur daran, wie im Westen Ende 2021 oder Anfang 2022 aktiv Satellitenbilder der "russischen Invasionsarmee" an der ukrainischen Grenze verbreitet wurden. Momentan hingegen ist nichts dergleichen zu beobachten. Zwar wurde vor einiger Zeit in den westlichen Medien von einer möglichen russischen Offensive von Weißrussland aus berichtet, aber es wurde schnell klar, dass die materiellen Voraussetzungen dafür nicht gegeben waren.
Durchbruch nicht gleich Offensive
Doch in der objektiven militärischen Realität bereitet Russland tatsächlich unter der Hand einen Durchbruch vor, der in wenigen Wochen gleichzeitig an drei oder vier Unterabschnitten der Front erfolgen könnte. Der Druck auf die ukrainischen Streitkräfte wird fast gleichmäßig an verschiedenen Frontabschnitten aufrechterhalten und könnte schließlich zu qualitativen Lageänderungen führen.
So geht beispielsweise die Operation zur Einkreisung von Artjomowsk, die ziemlich lange gedauert hat, nun zu Ende. Und diese Operation könnte realistischerweise "von einem Tag auf den anderen" abgeschlossen werden, wonach die Säuberung von Artjomowsk vom Gegner nur eine Sache der Technik sein wird. Dies stellt einen Durchbruch dar.
Ähnlich verhält es sich in Ugledar, wo nach einem schnellen Vorstoß zum östlichen Stadtrand eine Operation zur Einkreisung der Stadt begann. Das Gleiche gilt für Marjinka, Awdejewka und sogar am südlichen Frontabschnitt Saporoschje, wo sich nach einem schnellen Durchbruch in Richtung Saporochje-Stadt, Guljai-Pole und Orechow eine Phase der Stellungsoffensive begonnen hat.
Das Aufrechterhalten der Front scheint für Kiew die einzige Möglichkeit zu sein, seinen Widerstand fortzusetzen. Das Halten von Stellungen wie Artjomowsk, die de facto bereits verloren sind, wird zum Selbstzweck. Die Aufgabe Kiews besteht darin, die bestehende Frontlinie ohne Rücksicht auf Verluste so lange wie möglich zu halten und auf westliche Waffenlieferungen zu warten. Als letzten Ausweg kann man sich vielleicht noch sehr langsam zurückziehen, indem man "den Schwanz abwirft" – fast wie eine Eidechse, nur eben Stück für Stück.
In der Militärwissenschaft, zumindest wie sie an der russischen Generalstabsakademie gelehrt wird, gibt es einen Unterschied zwischen den Begriffen "Offensive" und "Offensivaktion". Und die Strategie und Taktik der russischen Streitkräfte, wie sie sich derzeit eingestellt hat, sieht keine groß angelegten Offensiven von Panzerarmeen oder Ähnliches vor.
Das, was in den vergangenen Monaten stattgefunden hat, ist vielmehr eine Reihe von Offensivaktionen, die, wenn sie erfolgreich sind, tatsächlich in der Lage sind, die bestehende Verteidigungslinie des ukrainischen Militärs zu erodieren. Dies wiederum wird zu einem abrupten Durchbruch zu einer neuen Kontaktlinie führen. Man könnte auch dies als "Offensive" bezeichnen, aber nicht in dem Sinne, wie dieser Begriff in Kiew und im Westen verstanden wird.
Mit anderen Worten: Es scheinen derzeit keine Zeiträume für einen größeren offensiven Durchbruch (nach der Art der Schlacht von Kursk) durch. Schon allein deshalb, weil Russlands derzeitige Offensivaktionen bereits wirksam genug sind, vor allem im Hinblick auf die Verluste beider Seiten. Denn die Verluste Kiews sind um ein Vielfaches höher als die Russlands.
Ein letzter Punkt. Ein sogenannter Durchbruch, das heißt das Durchstoßen der Front, die Einnahme einer großen oder strategisch wichtigen Stadt oder das Vordringen in die offene Steppe, die operative Freiheit bietet, würde genau diese "Offensive" kennzeichnen. Zumindest in den Augen der Fachwelt und noch mehr in den Augen der einfachen Leute, die sich jeweils darauf eingeschärft haben oder darauf einschärfen ließen. Jedes derartige Ereignis, und etwas in dieser Art könnte in den kommenden Wochen tatsächlich eintreten, kann vor allem der westlichen Öffentlichkeit als Beginn einer "groß angelegten russischen Offensive" präsentiert werden, die da "von langer Hand vorbereitet" worden sei.
Dies ist der sprichwörtliche Fall, in dem die Terminologie den Ereignissen vorauseilen und der Schwanz mit dem Hund wedeln darf – damit der Westen noch mehr und schwerere Waffen an die Ukraine liefern kann.
Eine ganz andere Geschichte hingegen ist, wie viel ein solcher Durchbruch für den militärisch-industriellen Komplex der USA im Kontext der politischen Bestrebungen des Westens oder der tatsächlichen Positionen Kiews bedeutet.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei Wsgljad.
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