Doppelstandards: Schwere Kritik an westlichen Staaten nach Blutbad in Palästina

Europa sei nicht in der Lage, den Friedensprozess voranzubringen, meint der ehemalige israelische Präsidentenberater Daniel Levy. Viele Staaten trügen durch Wegschauen bei Israel und der andauernden Entrechtung der Palästinenser eine Mitschuld, meinen auch Menschenrechtsorganisationen.

Menschenrechtsaktivisten zufolge ist das Blutvergießen von Dschenin eine schreckliche Erinnerung an den Preis der Straflosigkeit Israels, da die meisten Staaten seit Langem wegsehen, wenn es um Kritik am Vorgehen des Nahoststaats gegen die palästinensische Minderheit geht. Der ehemalige Verhandlungsführer der israelischen Regierung unter Jitzchak Rabin bei den Friedensgesprächen mit der von Ehud Barak geführten palästinensischen Regierung, Daniel Levy, machte besonders deutlich, wie sehr das Verhalten westlicher Staaten in Bezug auf Palästina im Gegensatz zu deren Vorgehen in der Ukraine steht und verwies in seiner Rede im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments auf das Problem der Glaubwürdigkeit der EU.

Wenn die EU es ernst meine mit ihrem sie konstituierenden Vertrag und den darin verbrieften Menschenrechten (Artikel 2), wenn sie vom Rest der Welt als normativer Akteur ernst genommen werden möchte, der für internationales Recht und eine regelbasierte internationale Ordnung steht, und in diesem Bereich eine besondere Rolle spielen will, dann könne sie laut Levy nicht so weitermachen wie bisher.

Gemäß Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) sind die Werte, auf denen die Europäische Union gründet, die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte von Personen, die Minderheiten angehören. Denn, so Levy, ein großer Teil der Welt blicke auf die Ukraine, angesichts derer die Situation in Palästina und Israel beispielhaft sei für die zugrunde liegenden Doppelstandards. Wenn Europa aber diese Rolle innehaben wolle – und man wisse über die Haltung im Globalen Süden, sich nicht auf eine Seite zu stellen –, dann sei ein konsequentes Handeln bei den "ungeheuerlichsten Verstößen gegen das Völkerrecht" notwendig.

Die Situation sei besorgniserregend, da tagtäglich Menschen- und Grundrechtsverletzungen gegenüber den Palästinensern stattfänden, es gebe eine permanente Besatzung und Enteignung der Palästinenser, strukturelle Ungleichheit in Israel – und alles davon sei bestens dokumentiert. Menschenrechtsorganisationen, wie Human Rights Watch oder Amnesty International seien zu der übereinstimmenden Feststellung gekommen, dass es sich bei Israel um ein Apartheidsregime handle, so Levy.

Der Schlüssel, so der ehemalige Berater des israelischen Premierministers Barak, sei, dass "Straflosigkeit die Dienerin des Extremismus" sei. All das Unrecht und die Gewalt seien möglich, weil das Land, das das internationale Recht verletze, nicht zur Rechenschaft gezogen wird.

Laut Levy, der auch der Präsident des US-Nahost-Projekts (USMEP) ist, habe Europa die Wahl, die bilaterale Beziehung zu Israel von dessen illegalen Handlungen zu isolieren oder diese ins Zentrum der bilateralen Beziehung zu stellen. Doch offenkundig habe man den ersteren Weg gewählt, was eine Mitschuld an den Menschenrechtsverletzungen nach sich ziehe. Das wiederum bedeute, dass "Europa unglücklicherweise nicht in der Lage sei, den Friedensprozess voranzubringen oder eine Wiedereingliederung besetzter Gebiete" herbeizuführen.

Kurz vor dem Holocaust-Gedenktag wollte Levy weiterhin nicht auf eine persönliche Ergänzung bezüglich des eigentlich schwerwiegenden Vorwurfs des Antisemitismus verzichten, wenn dieser mit legitimer Kritik an der israelischen Führung vermischt wird:

"Als stolzer Jude und jemand, der aus einer Familie von [Holocaust-]Überlebenden stammt … empfinde ich die Andeutung, dass die Befolgung internationaler Gesetze zur Bezeichnung von Apartheid oder auch Sanktionen für die Verletzung internationalen Rechts irgendwie auf einer Feindseligkeit gegenüber jüdischen Menschen beruhen, als beleidigend, unangebracht und unverantwortliches politisches Verhalten."

Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International verurteilte das von der israelischen Armee veranstaltete Blutbad in Dschenin vor dem Hintergrund der andauernden rechtswidrigen Maßnahmen gegen Palästinenser scharf.

"Innerhalb weniger Stunden töteten die israelischen Streitkräfte heute Morgen mindestens neun Menschen und verletzten 20 weitere; sie versperrten Krankenwagen den Zugang zu den Verwundeten und feuerten Tränengas auf ein Krankenhaus, wodurch kranke Kinder erstickt sein sollen. Nach Angaben von Ärzten in Dschenin wird unter anderem ein Kind mit Schussverletzungen behandelt und palästinensische Behörden haben bestätigt, dass auch eine 61-jährige Frau unter den Erschossenen war", so Philip Luther, Direktor für Forschung und Advocacy im Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International, am Donnerstag.

Die Organisation hatte schon im Jahr 2021 Beweise zusammengetragen, die "ein vernichtendes Bild von Diskriminierung und rücksichtsloser Gewalt der israelischen Polizei gegen Palästinenser in Israel und im besetzten Ostjerusalem" zeichnen und gefordert:

"Israel muss seine Diskriminierung und Unterdrückung von Palästinensern beenden."

Luther wies anlässlich der jüngsten Vorfälle in Dschenin darauf hin, dass das Flüchtlingslager Dschenin im nördlichen Westjordanland nicht erst seit dieser Woche zum Objekt "unerbittlicher" israelischer Militärangriffe und "eskalierender Aktionen" geworden ist. Auch er kritisierte neben Israel auch dessen internationale Partner und beklagte, dass die andauernden Menschenrechtsverletzungen deshalb geschehen können, weil Israel mit Straffreiheit agiere.

Seit fast einem Jahr stehe Dschenin bereits im Mittelpunkt der "eskalierenden israelischen Militäraktion", so Luther. Er erinnerte daran, dass die palästinensische Journalistin Shireen Abu Akleh im Mai letzten Jahres in dem Lager erschossen wurde. Die Bewohner seien weiterhin "unerbittlichen Militärangriffen" ausgesetzt, die einer "kollektiven Bestrafung" gleichkommen.

Israel hingegen genieße "völlige Straffreiheit für das System der Apartheid, das es den Palästinensern auferlegt – ein System, das zum Teil durch Verstöße wie rechtswidrige Tötungen aufrechterhalten wird".

"Während die Zahl der palästinensischen Todesopfer steigt, besteht die internationale Reaktion auf Israels Verstöße bestenfalls in einer zaghaften Verurteilung und schlimmstenfalls der bedingungslosen Unterstützung."

"Das heutige Blutvergießen ist eine Erinnerung an den Preis dieser beschämenden Untätigkeit – solange es keine Rechenschaft gibt, werden die tödlichen Angriffe auf Palästinenser in den besetzten palästinensischen Gebieten weitergehen", so Luther.

Mehr zum Thema - Unter altem Vorwand: Israelisches Militär attackiert palästinensische Menschenrechtsgruppen