Wahlen in der Türkei: Ein guter Zeitpunkt für den Westen, sich an Erdoğan zu rächen

Wenn sich Präsident Erdoğan in Ankara weiter bei der "Isolierung Russlands" querstellt, könnte ihm der Westen im Zuge der anstehenden Wahlen die Quittung ausstellen. Mit Einflussnahme, vielleicht auch provozierten Unruhen, die seinen Kontrahenten nutzen.

Eine Analyse von Seyed Alireza Mousavi

Im Kalten Krieg schien die Westbindung der Türkei sicher umgesetzt worden zu sein. Seit Jahren betreibt aber die Regierung unter dem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan eine Schaukelpolitik zwischen Ost und West, was im Zuge des Ukraine-Krieges augenscheinlich intensiviert wurde. Die Türkei ist für die USA jedoch strategisch zu wichtig, um sie den eurasischen Gegenspielern des Westens kampflos zu überlassen. 

Die Türkei hat zwar die Militäroperation Russlands in der Ukraine verurteilt, aber das Land trägt weiterhin nicht die Sanktionen des Westens gegen Russland mit. Die Türkei hat sogar die Situation in wirtschaftlicher Hinsicht zu ihrem Vorteil genutzt, nicht zuletzt auf Kosten seiner traditionellen westlichen Verbündeten. Die türkischen Importe aus und Exporte nach Russland haben sich innerhalb eines Jahres verdoppelt. Darüber hinaus hat sich Türkei in vergangenen Monaten zu einem Umschlagplatz entwickelt, auf dem Russland diverse westliche Sanktionen umgehen kann. 

Russland wurde 2022 der größte Handelspartner für die Türkei und löst damit Deutschland in dieser Rolle ab. Öl und Gas kamen schon vor dem Ukraine-Krieg maßgeblich aus Russland in die Türkei. Nun haben sich die Ölimporte 2022 in etwa verdreifacht. Hierzu kommt, dass Moskau die Türkei zu einem Umschlagplatz und einer Handelsbörse für Erdgas ausbauen will – nachdem die russischen Lieferungen über die Nord-Stream-Pipeline durch Sabotage unterbrochen wurden. 

Die Türkei nutzt derzeit zudem weitere geopolitische Verwerfungen geschickt für sich aus und laviert zwischen der NATO und Russland. Derzeit mehren sich die Anzeichen, dass eine als geradezu radikal zu bezeichnende Kehrtwende der türkischen Syrien-Politik in umfassender Vorbereitung ist. Ankara will die Kurden-Frage und zugleich die Flüchtlingskrise in der Türkei durch eine neuerliche Annäherung an Baschar al-Assad in Damaskus lösen. Die türkische Unterstützung für den Mini-Terrorstaat in Idlib könnte nun wegfallen, wenn Syrien und die Türkei ihre Beziehungen wieder normalisieren würden. Im Gegenzug zu Ankaras Schritt würde sich Damaskus verpflichten können, die kurdischen Separatstrukturen im Norden Syriens zu zerschlagen. Aus diesen Gründen sind die USA nun in heller Alarmstimmung. Denn sie würden damit ihre Einflusshebel in der Levante als ihre Stellvertreter verlieren.

Das angespannte Verhältnis zwischen der Türkei und dem Westen ist in letzter Zeit eskaliert, nachdem ein bekannter rechtsextremer Politiker namens Rasmus Paludan nahe der türkischen Botschaft in Stockholm einen Koran vernichtete. Schweden kann nach einer jüngsten Koran-Verbrennung gemäß einer Äußerung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan nicht mehr mit einer Unterstützung der Türkei für seinen NATO-Beitritt rechnen. Bereits Mitte Januar hängten Aktivisten in Stockholm eine Puppe des türkischen Präsidenten kopfüber auf. Zu alldem kam kürzlich auch noch ein Erdoğan-Karikaturenwettbewerb. Die Türkei wirft der schwedischen Regierung vor, Terrororganisationen zu unterstützen. Gemeint ist die syrische Kurdenmiliz YPG, also damit auch ein Verbündeter der USA in Syrien.

Dem Westen bleibt vor diesem Hintergrund nichts anderes übrig, als weiteren Druck gegen Erdoğan aufzubauen. Während der Ukraine-Krieg weiter tobt, wuchs auch der Konflikt zwischen der Türkei und Griechenland zu einem "Kalten Krieg" um strittige Gebiete im Mittelmeer heran. Die USA provozieren die Türkei, indem sie mit neuer schwerer Aufrüstung Griechenlands drohen. In Ankara hat man insbesondere Angst, dass die USA Griechenland mit F16-Jets ausstattet und damit eine Phase gewisser Überlegenheit der türkischen Luftwaffe über den strategisch wichtigen ägäischen Inseln zu Ende zu geht. 

Erdoğan kündigte kürzlich an, die für Juni geplanten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen auf Mai vorziehen zu wollen. Gegen wen Erdoğan in der Präsidentschaftswahl dann antreten wird, bleibt derzeit noch offen. Sechs Oppositionsparteien, die sich zu einer Allianz zusammengeschlossen haben, wollen ihren gemeinsamen Kandidaten im Februar bekanntgeben. Im Grunde handelt sich bei dieser Koalition um eine prowestliche Allianz, was die Außenpolitik anbetrifft. 

Wenn man sich in Ankara weiterhin bei der "Isolierung Russlands" querstellt, würde der Westen wohl im Zuge der anstehenden Wahlen in der Türkei ein groß angelegte Kampagne gegen Erdoğan starten. Der Westen fokussiert sich nach altem Muster immer auf potenzielle Bruchlinien in den Ländern, in denen er seinen Einfluss zurückgewinnen will, sei es in Iran der Hidschāb oder in der Türkei der Kurden-Konflikt. Genau eine Woche nach der Aufnahme Irans als Vollmitglied der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) bei deren Gipfeltreffen erschütterte das Land eine Welle gewaltiger Unruhen. Die Wahlen in der Türkei wären in diesem Sinne ein guter Zeitpunkt, zu dem der Westen seine Chance für die Rückholung dieses Landes in die transatlantische Allianz ausloten kann.

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