In Großbritannien sind laut Regierungsangaben Hunderte von minderjährigen Asylbewerbern aus von der Regierung zugelassenen Unterkünften verschwunden. Das teilte der britische Einwanderungsminister Robert Jenrick am Dienstag den Mitgliedern des Parlaments mit. "Von den 4.600 unbegleiteten Kindern, die seit Juli 2021 in Hotels untergebracht waren, wurden zeitweise 440 Kinder vermisst", sagte er. "200 Kinder werden immer noch vermisst." An den Hotels seien daher nun Sicherheitsleute, Krankenpflegepersonal und Sozialarbeiter im Einsatz, um für die Sicherheit der Kinder zu sorgen. Viele der Vermissten würden aber ausfindig gemacht, beruhigte er.
Angesichts des vermehrten Zustroms von Flüchtlingen und fehlender Unterbringungsmöglichkeiten hatte die Regierung 2021 beschlossen, minderjährige Asylbewerber in "Spezialhotels" unterzubringen. Obwohl die vertraglich vereinbarte Nutzung von Hotels als vorübergehende Lösung angedacht war, waren in den Hotels im Oktober jedoch noch immer rund 200 minderjährige Migranten untergebracht gewesen, wie aus einem Bericht des unabhängigen Chefinspektors für Grenz- und Einwanderungsfragen hervorgeht. Britische Wohlfahrtsverbände und Migrantenrechtsgruppen beschweren sich seit langem über die schlechten Bedingungen im überlasteten und unterfinanzierten Asylsystem des Landes.
Kinder werden offenbar von kriminellen Banden verschleppt
Das Eingeständnis Jenricks folgte auf einen am Samstag veröffentlichten Bericht der britischen Zeitung The Observer. Darin hatte ein Zeuge behauptet, dass "Dutzende" asylsuchender Kinder von "Banden" aus einem vom britischen Innenministerium betriebenen Hotel in Brighton, Südengland, entführt worden seien. Als Reaktion auf den Bericht warf die Opposition der britischen Regierung vor, junge Menschen in Gefahr zu bringen und forderte eine "dringende Untersuchung" der Angelegenheit.
Das Innenministerium hatte den Bericht zuvor als unwahr zurückgewiesen. Das Wohlergehen der Kinder in unserer Obhut habe für uns absolute Priorität, erklärte ein Sprecher am Wochenende gegenüber Medien. Es gebe "robuste Schutzverfahren" und "wenn ein Kind vermisst wird, arbeiten die lokalen Behörden eng mit den Behörden, einschließlich der Polizei, zusammen, um den Aufenthaltsort des Kindes umgehend zu ermitteln".
Am Montag hatte Innenminister Simon Murray vor dem Oberhaus bereits eingeräumt, dass sich unter den vermissten Kindern ein Mädchen und mindestens 13 Kinder unter 16 Jahren befinden. "Das Innenministerium hat keine Befugnis, unbegleitete asylsuchende Kinder in diesen Hotels festzuhalten, und wir wissen, dass einige von ihnen vermisst werden", erklärte der Innenminister. Er fügte hinzu, dass die überwiegende Mehrheit der vermissten Kinder – 176 von 200 – albanischer Herkunft ist.
Caroline Lucas, eine Abgeordnete der Grünen in Brighton, wo einige der Kinder verschwunden sein sollen, warf dem Innenministerium am Dienstag "erschütternde Selbstgefälligkeit und Inkompetenz" vor. "Dies fühlt sich an wie die Notlage der Mädchen in Rotherham, die behandelt wurden, als wären sie unwichtig", sagte sie in Anspielung auf den weit verbreiteten sexuellen Missbrauch von Kindern in der Stadt in Yorkshire. Fassungslos zeigte sich auch die Labour-Politikerin Yvette Cooper: "Kinder werden buchstäblich vor dem Gebäude aufgegriffen, verschwinden und werden nicht gefunden. Sie werden von Menschenhändlern von der Straße geholt".
Es müsse daher dringend geklärt werden, wie Hunderte unter der Obhut des Staates stehende Kinder einfach so verschwinden konnten. "Wir wissen von der Polizei von Greater Manchester, dass Asylunterkünfte und Kinderheime ins Visier von organisierten Kriminellen geraten sind. Und in diesem Fall gibt es ein Muster, bei dem die Banden wissen, wo sie die Kinder abholen können, wahrscheinlich, weil sie sie zuerst hierher geschleust haben", so Cooper. "Es ist ein kriminelles Netzwerk beteiligt. Die Regierung versagt völlig dabei, es zu stoppen."
Parteikollege Peter Kyle wandte ein, er befürchte gar, die vermissten Kinder würden "zu Verbrechen" gezwungen. "Erst letztes Jahr verfolgte die Polizei von Sussex ein Auto, das zwei Kinder vor einem Hotel in der Stadt Brighton abgeholt hatte. Als es ihnen gelang, das Auto in Sicherheit zu bringen, ließen sie zwei Migrantenkinder frei und verhafteten eines der Mitglieder, das das Auto fuhr. Es war ein Bandenführer, der die Kinder in die Kriminalität zwingen wollte."
Brisant ist: Die Polizei hatte das Innenministerium zuvor offenbar gewarnt, dass kriminelle Netze es auf unbegleitete Flüchtlingskinder abgesehen hätten. Nach Angaben der Polizei von Sussex begann das Innenministerium im Juli 2021 mit der Unterbringung von Asylbewerbern in Hotels in Brighton und Hove. Allein in dieser Zeit, so die Behörde, seien in Brighton 137 Kinder als vermisst gemeldet worden. 60 davon seien wieder aufgetaucht, nach 76 werde weiterhin gesucht.
"Die unbequeme Wahrheit für uns ist, dass wenn ein Kind verschwindet, das mit einem von uns in diesem Raum verwandt ist, die Welt stehen bleibt", sagte Kyle im britischen Unterhaus. "Aber in der Gemeinde, die ich repräsentiere, ist ein Kind verschwunden, dann sind fünf verschwunden, dann ist ein Dutzend verschwunden, dann sind 50 verschwunden und heute sind derzeit 76 verschwunden und nichts passiert."
Flüchtlingsorganisationen fordern Aufklärung
Die Enthüllungen haben führende Wohltätigkeitsorganisationen in Großbritannien dazu veranlasst, eine unabhängige Untersuchung dessen zu fordern, was Enver Solomon, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats, einen "Kinderschutzskandal" nannte. Die britische Wohltätigkeitsorganisation Refugee Council schrieb auf Twitter, sie sei "zutiefst besorgt über die Praxis, unbegleitete Kinder außerhalb der gesetzlichen Bestimmungen in Unterkünften des Innenministeriums unterzubringen." Dadurch würden sie unnötiger Gefahr ausgesetzt.
Jene Ansicht teilt auch Cooper: "Wir haben die Berichte über das Verschwinden von Kindern aus Asylunterkünften in Sussex gesehen, wo es ein Hotel gibt, in dem eine beträchtliche Anzahl von Kindern und Teenagern von kriminellen Banden aufgegriffen wurde. Es gibt hier ein Muster, aber niemand geht dem richtig nach", kritisierte die Politikerin am Donnerstag während eines Interviews mit BBC. "Es gibt keine gezielte Einheit, die den Hinweisen nachgeht und sagt: 'Seht, das ist ein Muster', wo junge Menschen über den Ärmelkanal gehandelt werden und dann in Cannabisfarmen oder in einigen der schlimmsten Fälle in die Prostitution, aber auch in das organisierte Verbrechen gelangen, indem sie von außerhalb dieser Hotels aufgegriffen werden."
Sie fügte hinzu: "Es gibt hier ein Muster – etwa 40 Prozent der vermissten Kinder stammen aus einem einzigen Hotel. Es gibt ein Muster, und höchstwahrscheinlich sind es dieselben kriminellen Banden, die die Kinder und Jugendlichen zunächst dorthin gebracht und dann wieder abgeholt haben". Das Innenministerium müsse "den Vertrag mit diesem speziellen Hotel" daher unverzüglich beenden und eine Ermittlungstaskforce aufstellen.
Britische Wohlfahrtsorganisationen warfen der Regierung in einem offenen Brief an Premierminister Rishi Sunak vor, die Kinder – von denen viele in südlichen Küstenstädten leben – der Gefahr der Ausbeutung auszusetzen. Sunak forderten sie daher auf, die Praxis der Unterbringung junger unbegleiteter Flüchtlinge in Hotels des Innenministeriums zu beenden und sie stattdessen bei spezialisierten Teams der örtlichen Behörden unterzubringen, die sie schützen können. Ebenso verurteilten die Unterzeichner die "gemeldeten Versäumnisse der Regierung, schutzbedürftige Kinder vor Schaden zu bewahren" und hoben hervor, dass die Unterbringung junger Flüchtlinge in Hotels nur als kurzfristige Notlösung gedacht sei. Der von der Hilfsorganisation ECPAT UK verfasste Brief wurde unter anderem von den Wohlfahrtsverbänden NSPCC, Barnardo's, Action for Children, Coram, The Children's Society und National Children's Bureau unterzeichnet.
Der Chef der Organisation Refugee Council, Enver Solomon, betonte, viele Minderjährige seien schwer traumatisiert. "Die Regierung hat die eindeutige gesetzliche Pflicht, sie zu schützen", sagte er. Dies habe sie versäumt. Als Ergebnis sei "das Äquivalent mehrerer Klassenzimmer offenbar in den Fängen derer verschwunden, die sie ausbeuten und missbrauchen werden". Erst kürzlich hatte Großbritanniens Premier Sunak angekündigt, die Asylgesetzgebung weiter verschärfen zu wollen. Nach dem Willen der konservativen Regierung in London sollen Menschen, die das Land in kleinen Booten erreichen, ohne Prüfung eines Asylantrags nach Ruanda geflogen werden können und stattdessen in dem afrikanischen Land Asyl suchen.
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