Nach Angaben der Allgemeinen Zollverwaltung Chinas verzeichneten Russland und China im Jahr 2022 einen Rekordhandelsumsatz, der im Vergleich zum Vorjahr um ein Drittel auf 190,27 Milliarden US-Dollar stieg.
Russland und China haben damit zwar das von den Ländern für 2024 gesetzte Ziel von 200 Milliarden US-Dollar knapp verfehlt. Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass dieses Ziel bereits im Jahr 2023 erreicht wird; besonders wahrscheinlich ist dies, wenn die Energiekosten sinken. Denis Perepeliza, Leiter der Abteilung für globale Finanzmärkte an der Russischen Wirtschaftsuniversität Plechanow, glaubt:
"Im Jahr 2023 wird es wahrscheinlich möglich sein, die Marke von 200 Milliarden US-Dollar zu erreichen, wobei das gleiche quantitative Angebotsvolumen allein durch die Preisinflation bestehen bleibt. Aber selbst wenn die Preisstaffel beibehalten wird, würde dieses Ziel wahrscheinlich erreicht werden, da die Einfuhren im Jahr 2023 mengenmäßig ansteigen werden."
Um das Umsatzziel von 200 Milliarden US-Dollar zu erreichen, müsste der Warenumsatz nur um zehn Prozent steigen, während er in den letzten Jahren ein wesentlich höheres Wachstum verzeichnete. Selbst im Pandemiejahr 2021 stieg er um mehr als ein Drittel, im vergangenen Jahr abermals um ein Drittel. Wladimir Tschernow, Analyst bei Freedom Finance Global, ist der Ansicht:
"Im Jahr 2023 wird der Handelsumsatz vor dem Hintergrund der Abschaffung der chinesischen Nulltoleranzpolitik bezüglich COVID-19 zu einer erhöhten Nachfrage nach Energieressourcen führen und … die 200 Milliarden US-Dollar sicherlich übersteigen."
Nach Ansicht von Experten ist es an der Zeit, ein neues Zielniveau von 300 Milliarden US-Dollar anzupeilen. Es wird prognostiziert:
"Eine weitere wichtige Veränderung steht Russland bevor. Im Jahr 2023 wird die EU als wichtigster Handelspartner der Vergangenheit angehören, und China wird sie ersetzen."
Interessanterweise war die EU im Jahr 2022 immer noch der wichtigste Handelspartner Russlands; das Handelsvolumen beider Seiten verzeichnete zudem ein beträchtliches Wachstum. Zumindest in den ersten zehn Monaten des Jahres 2022 stieg der Handel um fast 20 Prozent auf 227,7 Milliarden Euro, wobei China deutlich hinterherhinkt. Es wäre nicht überraschend, wenn China die EU 2023 vom ersten Platz verdrängen würde. Der Freedom Finance Global-Analyst glaubt:
"Tatsache ist, dass die EU-Länder im vergangenen Jahr die Energieexporte aus Russland drastisch erhöht haben, um die Vorräte aufzufüllen und zu vergrößern, da sie ein Embargo für die Lieferungen erwartet hatten. In diesem Jahr sind bereits alle Beschränkungen für Ausfuhren aus Russland in Kraft getreten, sodass der Handel mit den EU-Ländern stark zurückgehen wird. Der Handel mit China hingegen nimmt stark zu, sodass wir davon ausgehen können, dass China im Jahr 2023 der wichtigste Handelspartner Russlands sein wird."
Die Ausfuhren aus China nach Russland stiegen im Jahr 2022 um 12,8 Prozent auf 76,12 Milliarden US-Dollar. Die Einfuhren aus Russland nach China stiegen sogar noch stärker, nämlich um 43,4 Prozent auf 114,15 Milliarden US-Dollar. Denn Öl, Pipelinegas, Flüssigerdgas, Kohle und Heizöl machen mehr als 70 Prozent aller russischen Exporte nach China aus. Diese wurden im vergangenen Jahr zu einem äußerst attraktiven Preis verkauft, was sich die Chinesen nicht entgehen lassen konnten, so Tschernow. Er schildert:
"China hat beispielsweise seine Ölimporte im Jahr 2022 aufgrund der COVID-19-Beschränkungen für die Bürger und einer sich abschwächenden Wirtschaft generell reduziert. Bei russischem Öl war dies jedoch nicht der Fall. China kaufte es in einigen Monaten in Rekordmengen. Denn unser Öl wird mit einem Preisnachlass verkauft, und China hat es unter sonst gleichen Umständen dem teureren saudischen oder anderen Öl vorgezogen."
China hat russisches Pipelinegas unter Vollauslastung der verfügbaren Pipelinekapazität abgenommen, während es einen Teil seines verflüssigten Erdgases nach Europa weiterverkaufte. Denn russisches Gas, dessen Preis vertraglich festgelegt ist, ist billiger als Flüssigerdgas, dessen Preis sich nach den Spotmarktpreisen richtet.
Schließlich kaufte China verstärkt russische Kohle, die ebenfalls mit einem Sanktionsrabatt geliefert wurde. Auch hier wurden Rekorde verzeichnet. Überdies wiesen Marktteilnehmer darauf hin, dass China noch mehr Kohle aus Russland bezogen hätte, wenn in Russland der Ausbau föderaler Verkehrsstraßen – die zweite Baikal-Amur-Magistrale und die Transsibirische Eisenbahn – bereits abgeschlossen gewesen wäre.
Die größten Hemmnisse für das Wachstum des russischen Handels mit China sind derzeit die begrenzte Logistik und Infrastruktur.
Die Power-of-Siberia-Gaspipeline hat ihre Lieferungen sogar über die Zielvorgaben hinaus gesteigert. Nach Tschernows Einschätzung wäre es schön, bereits mindestens eine weitere Rohrleitung zu haben; eine solche sei allerdings in Planung. Diese Power of Siberia 2 genannte Pipeline werde jedoch voraussichtlich nicht vor 2030 zur Verfügung stehen. Zugleich gibt es noch keinen kommerziellen Vertrag zwischen Russland und China über die Lieferung von Gas durch die zukünftige Leitung. Und mit dem Bau zu beginnen, bevor ein solcher Vertrag unterzeichnet ist, könnte für Russland nachteilig sein, da es China ermöglichen würde, niedrigere Preise für die Lieferungen durchzusetzen. Daher stehen schwierige Verhandlungen mit Peking bevor. Tschernow weist darauf hin:
"Der Eisenbahnkorridor ist bereits voll ausgelastet. Wir versuchen aber, dieses Problem allmählich zu lösen. Ende 2022 wurde die Durchsatzkapazität des östlichen Eisenbahnkorridors um etwa 14 Millionen Tonnen pro Jahr auf 158 Millionen Tonnen erhöht, und auf Anordnung des russischen Präsidenten soll die Durchsatzkapazität des östlichen Eisenbahnkorridors bis 2024 auf 180 Millionen Tonnen pro Jahr und insgesamt auf 240 Millionen Tonnen pro Jahr erhöht werden."
Um Öl auf dem Seeweg in Tankern transportieren und derartige Ladungen versichern zu können, baut Russland eine eigene Schattenflotte und ein eigenes Versicherungssystem für solche Transporte auf.
Die wichtigste Triebkraft für die russischen Exporte nach China im Jahr 2023 wird jedoch das Wachstum der chinesischen Wirtschaft selbst sein. Der Analyst von Freedom Finance Global erläutert hierzu:
"Im vergangenen Jahr unterlag China Beschränkungen zur Verhinderung von Konkursen, was in dem Land zu einem Rückgang der Industrieproduktion und des BIP und infolge dessen zu einer geringeren Nachfrage nach Erdölprodukten und Metallen führte. Im Jahr 2023 sind die meisten der wichtigsten Beschränkungen bereits aufgehoben, sodass die Wirtschaft, die Industrieproduktion und folglich auch die Nachfrage nach Energie und Metallen wieder wachsen dürften."
China kauft Mineraldünger, Holz, landwirtschaftliche Erzeugnisse und Meeresfrüchte aus Russland. Auch hier gibt es Wachstumspotenzial. Andererseits ist zu erwarten, dass der Zustrom chinesischer Waren nach Russland angesichts des Wegfalls der Importe aus Europa zunehmen wird. Russland importiert hauptsächlich chinesische Unterhaltungselektronik, Bagger, Autos, Mikroprozessoren, Kleidung, Schuhe und Konsumgüter. Tschernow glaubt:
"Russland hat seine Einkäufe von Elektronik und Autos aus chinesischer Produktion erheblich gesteigert. Das Wachstumspotenzial ist hier nach wie vor recht groß, da auf dem russischen Markt immer noch ein Mangel an derartigen Waren besteht."
Die meisten der "ausfallenden" Waren sind bereits durch chinesische und russische Äquivalente ersetzt worden. Es besteht jedoch ein gewisses Potenzial für ein Importwachstum, insbesondere angesichts des Übergangs Russlands zu einer aktiven Industrialisierung der Wirtschaft, bei der viele Werkzeugmaschinen, Ausrüstungen, Komponenten usw. benötigt werden, sagt Denis Perepeliza. Das größte Problem für Russland ist seiner Meinung nach die Lieferung von hochpräzisen Geräten für die Herstellung von Chips sowie die Fertigung Chips selbst. Perepeliza meint:
"Diese Geräte wurden in Taiwan, Japan, den USA und der EU hergestellt, und das chinesische Festland kann nicht alle diese importierten Produkte ersetzen."
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei Wsgljad.
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