Der Kampf um die Ukraine ist nach übereinstimmender Auffassung der Mehrheit der Beobachter und Experten in eine neue Phase eingetreten. Die Gefechte um die Kleinstädte Artjomowsk (Bachmut) und Soledar im ukrainisch besetzten Teil der Volksrepublik Donezk sind laut Beobachtern die blutigsten Kämpfe seit Monaten. Mit massiver Wucht hat Russland die Front an dieser Stelle eingedrückt. Unterstützt vom massiven Feuer der Artillerie stürmen Infanteristen die in sieben Jahren zwischen dem Abschluss des zweiten Minsker Übereinkommens und der russischen Intervention im Februar vergangenen Jahres gut befestigten Verteidigungsanlagen der Ukrainer. Trotz hartnäckigem Widerstand rücken sie langsam, aber stetig Stellung um Stellung, Haus um Haus voran.
Genaue Zahlen gibt es nicht, doch beide Seiten sprechen von hohen Verlusten. Russland habe den Flecken zu einer "Hölle auf Erden" verwandelt, klagt der ukrainische Präsidentenberater Michail Podoljak. Laut Präsident Wladimir Selenskij sind beide Städte völlig zerstört.
Nach den schmerzhaften Rückzügen im Herbst, als russische Truppen sich aus dem Gebiet Charkow im Norden und später aus Cherson im Süden der Ukraine zurückziehen mussten, hat die Offensive auf Artjomowsk und Soledar Russland zumindest medial wieder Oberwasser gesichert.
Militärisch ist die russische Einnahme Soledars, die Kiew weiterhin bestreitet, allenfalls ein taktischer Erfolg. Zwar gehört die Stadt, die vor dem Krieg etwas mehr als 10.000 Einwohner hatte, zum Festungswall, der durch die ukrainischen Truppen östlich des auch zur Volksrepublik Donezk gehörenden Ballungsraums um die Großstädte Slawjansk und Kramatorsk aufgebaut wurde. Doch auch dahinter gibt es noch weitere Abwehrlinien.
"Die ukrainische Verteidigung bricht nicht zusammen", meint der frühere russische Geheimdienstoffizier Igor Girkin, der unter dem Pseudonym Strelkow 2014 die Verteidigung der Stadt Slawjansk gegen die vorrückenden ukrainischen Truppen anführte, bis er Ende Juli 2014 in einem umstrittenen Manöver die aufständischen Einheiten aus der Region herausführte und sie kampflos der ukrainischen Armee überließ. Slawjansk und Kramatorsk seien der am besten ausgebaute Festungsraum in der Ukraine, sagt Girkin heute.
Die kolportierte Forderung des russischen Präsidenten Wladimir Putin an seinen neuen Oberbefehlshaber in der Ukraine, Waleri Gerassimow, den Donbass bis März einzunehmen, lässt sich nach Meinung einiger Experten nur mit frischen Kräften erreichen. Deshalb nehmen Spekulationen um eine neue Mobilmachung zu – trotz Dementi aus dem Kreml.
Hinsichtlich eines möglichen Vorgehens Russlands kursieren unter Militärexperten derzeit drei Varianten: weitere Frontalangriffe im Donbass, Umgehungsmanöver aus dem russisch kontrollierten Teil der Region Saporoschje oder eine Wiederholung der Offensive auf Kiew, unter anderem auch aus Weißrussland im Norden. Alle drei Varianten kursieren unter Militärexperten, ohne Verstärkungen bestehen aber weiterhin Zweifel am Erfolg dieser potenziellen Schläge.
Verhandlungen scheinen dabei derzeit aussichtsloser als je zuvor. Von ihren politischen Zielen sind beide Seiten weit entfernt. Kiew will die Russen ganz aus dem eigenen Land vertreiben – einschließlich der bereits 2014 annektierten Halbinsel Krim. Moskau hingegen beansprucht den Donbass und die im Herbst nach Referenden der Russischen Föderation beigetretenen Gebiete Saporoschje und Cherson vollständig für sich, kontrolliert diese aber nur zum Teil. Die jeweils geäußerten Vorbedingungen für die Wiederaufnahme des Dialogs sind unrealistisch, solange es keine Veränderungen an der Front gibt.
Kiew hofft, diese Veränderungen mit westlicher Waffenhilfe zu erzwingen. Dabei setzt die Ukraine speziell auf das Treffen der Verteidigungsminister im deutschen Ramstein Ende der Woche.
"300 Panzer, 700 Schützenpanzer und 500 Haubitzen" hatte Generalstabschef Waleri Saluschny in einem Interview mit dem britischen Economist als Zielmarke für eine erfolgreiche Großoffensive ausgegeben. Tschechien beginnt derzeit, 100 generalüberholte T-72 zu liefern. Polens Präsident Andrzej Duda hofft darauf, dass die europäischen Staaten 100 Leopard-Panzer bereitstellen können. 14 liefert Polen selbst, doch fehlt dazu weiter die erforderliche Genehmigung aus Berlin.
Zudem könnten diese wegen fehlender Wartung nicht sofort an die Front rollen. Es könnte mit der erforderlichen Ausbildung der Besatzungen und dem Aufbau der Logistik für Munition und Ersatzteile noch Monate dauern, bis diese wirklich in den Einsatz gehen. Das ist zu spät für die erhoffte ukrainische Frühjahrsoffensive.
Kiew gehen nach den massiven Verlusten um Soledar und Artjomowsk offenbar auch langsam die Soldaten aus. Die seit Kriegsbeginn laufende Mobilmachung wird allem Anschein nach intensiviert und mit immer "kreativeren" Mitteln betrieben. Im Kiewer Stadtteil Golossejewskij sollen sich bei Strafandrohung alle Männer im wehrfähigen Alter bis Monatsende beim Kreiswehrersatzamt melden. In sozialen Netzwerken machen Videos die Runde, wie auf den Straßen der Großstädte Odessa, Charkow und Nikolajew Vorladungen verteilt werden. Zugleich beteuert das Verteidigungsministerium in Kiew beständig, dass es keinen Zusatzbedarf gebe.
Russland habe aufgrund seiner Größe weiter einen Vorteil bei den menschlichen Ressourcen, konstatiert der ukrainische Militärexperte Oleg Schdanow. "Wir zermürben den Gegner und geben ihm keine Gelegenheit, Reserven zu bilden", erklärt er das lange Ausharren der Ukrainer in Orten wie Artjomowsk. Bestehen könne die Ukraine nur, wenn sie weiter beständig russische Truppen vernichte und gleichzeitig selbst Reserven bilden könne. Wann neue ukrainische Truppen für einen Gegenschlag eingesetzt werden, wagt aber auch er nicht zu sagen.
"Sobald wir genügend Kräfte für einen Gegenschlag gesammelt haben, wird der Generalstab die Gegenoffensive beginnen, dabei müssen die Verluste der russischen Armee maximal hochgehalten werden",
so Schdanow. Ein vorzeitiges Losschlagen beispielsweise in Saporoschje, wo seit Monaten über einen ukrainischen Vorstoß Richtung Meer spekuliert wird, könnte für die Ukraine fatal ausgehen und in einem Gegenstoß enden. Die nächsten Wochen werden zeigen, welche Seite zuerst fähig ist, die nötigen Ressourcen an einem Frontabschnitt zu bündeln.
(rt/dpa)
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