Eine Analyse von Andrew Korybko
Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki flog – nur wenige Tage nachdem das russische Verteidigungsministerium die Befreiung von Soledar offiziell bestätigt hatte – nach Deutschland, um seine Gastgeber vor einer möglicherweise bevorstehenden Niederlage Kiews zu warnen und davor, dass dies zum Ausbruch des Dritten Weltkriegs führen könnte. Seine genauen Worte waren, dass "die Niederlage der Ukraine der Auftakt zum Dritten Weltkrieg werden könnte", was wiederum den früheren Ankündigungen der US-geführten westlichen Mainstream-Medien (MSM) über Kiews "unvermeidlichen Sieg" komplett widersprach.
Nachfolgend wird erklärt, weshalb und womit Morawiecki das "offizielle Narrativ" zum Ukraine-Konflikt völlig diskreditiert hat:
Die Befreiung von Soledar war in der Tat bedeutsam
Die westlichen MSM hatten zuvor behauptet, Russland würde in Soledar und Umgebung nur deshalb kämpfen, um einen oberflächlichen und schnellen Sieg zu erringen, weil dieses Gebiet angeblich überhaupt keine strategische Bedeutung hätte. Diese Behauptung entpuppte sich im selben Augenblick als falsch, als die Befreiung dieser Stadt den polnischen Ministerpräsidenten zum Ausrasten brachte.
Kiew hat völlig umsonst sehr viele Ressourcen verheizt
Es wäre ein Pyrrhussieg gewesen, hätte Kiew Soledar unter Einsatz unverhältnismäßig großer Mengen an Ressourcen gehalten. Stattdessen endete es jedoch in einer verheerenden Niederlage für Kiew, das letztendlich viele seiner Ressourcen umsonst verloren hat und sich somit auf weitere Rückschläge einstellen muss, wenn Russland nicht aufgehalten werden kann.
100 Milliarden US-Dollar waren bisher nicht genug, um Kiew zum Sieg zu verhelfen
Die Panikmache von Morawiecki nach der Befreiung von Soledar beweist, dass die 100 Milliarden US-Dollar an Hilfe, die Kiew bisher erhalten hat, bei weitem nicht ausreichen, damit der US-geführte kollektive Westen seinen Stellvertreterkrieg gegen Russland gewinnen kann, weshalb er Berlin auffordert, umgehend seine Unterstützung zu vervielfachen.
Moderne westliche Waffen sollen Kiews Niederlage abwenden
Der einzige Grund, warum Polen und andere westliche Länder einen Haufen moderner Waffen wie Panzer und Artilleriesysteme nach Kiew schicken wollen, ist ihr verzweifelter Versuch, damit eine komplette Niederlage Kiews abzuwenden, nachdem sich nach der Niederlage in Soledar die militärstrategische Dynamik drastisch zugunsten Russlands verändert hat.
Deutschland kann den Druck vom militärisch-industriellen Komplex nehmen
Finnland und Polen können ihre modernen deutschen Panzer nicht ohne die Erlaubnis aus Berlin in die Ukraine schicken, weshalb sich Morawiecki sorgenvoll um eine solche Genehmigung bemüht. Dadurch würde auch einiges an Druck vom westlichen militärisch-industriellen Komplex genommen, auf den bereits die New York Times und der US-Marineminister aufmerksam gemacht haben.
Nachdem wir die Beweggründe von Morawiecki erläutert haben, ist nun der Moment gekommen, die Auswirkungen zu analysieren, die seine Worte haben könnten:
Das "offizielle Narrativ" wird sich immer wieder ändern
Ganz offensichtlich wird Morawiecki das "offizielle Narrativ" über den Ukraine-Konflikt fortlaufend ändern, nachdem er – dessen Land als größter Unterstützer der Ukraine in der Region gilt – ernsthaft vor einer möglichen Niederlage der Ukraine gewarnt hat. Dabei ist es sehr wahrscheinlich, dass die MSM seine dramatische Angstmacherei jeweils nachplappern werden.
Der durchschnittliche westliche Bürger wird es ihm vielleicht immer noch nicht abkaufen
Eine Skepsis gegenüber dem "offiziellen Narrativ" hat sich in den vergangenen Jahren im kollektiven Westen breitgemacht, sodass es nicht mehr selbstverständlich ist, dass der durchschnittliche Bürger dem Nachplappern der MSM Glauben schenken wird, dass der Dritte Weltkrieg unmittelbar bevorstehen könnte, sollte Kiew in diesem Konflikt verlieren.
Die Angstmacherei von Morawiecki könnte nach hinten losgehen
Die Oppositionskräfte in den wichtigsten westlichen Staaten könnten die Bemühungen ihrer Regierungen, den Forderungen von Morawiecki nachzukommen und "zu eskalieren, um den Dritten Weltkrieg abzuwenden", auf die eine oder andere Weise behindern und/oder diese Panikmache dafür nutzen, um einen populistischen Schub für eine Wiederbelebung der Friedensgespräche zu generieren.
Verantwortliche Stimmen im tiefen Staat könnten sich zu Wort melden
Die verantwortlichen Akteure in den Bürokratien beim Militär, beim Geheimdienst und in den diplomatischen Kreisen ihrer jeweiligen Länder – der tiefe Staat – könnten sich als Reaktion auf die Panikmache von Morawiecki auch zu Wort melden, indem sie ihre jeweiligen Regierungen an die militärisch-industrielle Krise des Westens erinnern, so wie es der US-Marineminister erst kürzlich getan hat.
Eine hitzige Debatte könnte sich im kollektiven Westen entfachen
Für den Fall, dass es dem tiefen Staat und/oder den Oppositionskräften in einflussreichen westlichen Staaten gelingt, ein Höchstmaß an öffentlicher Aufmerksamkeit für ihre Bedenken hinsichtlich einer "Eskalation zur Deeskalation" zu schaffen – insbesondere im Hinblick auf die unbestreitbare militärisch-industrielle Krise –, könnte dann im Westen eine hitzige Debatte über dieses Problem entfacht werden.
Betrachtet man die oben beschriebenen acht Punkte, wird klar, dass sich der Ukraine-Konflikt jetzt in einer entscheidenden Phase befindet:
Die Einkreisung von Artjomowsk könnte die Schlacht um den Donbass beenden
Artjomowsk steht nach der Befreiung von Soledar und den umliegenden Siedlungen kurz vor der Einkreisung. Eine mögliche Eroberung dieser Festung durch Russland könnte eine sich schnell bewegende Abfolge von Ereignissen in Gang setzen, die in einem Sieg Moskaus in der Schlacht um den Donbass gipfelt.
Moderne westliche Waffen könnten die Frontlinie einfrieren
Vorausgesetzt, dass in naher Zukunft im großen Stil moderne westliche Waffen in die Ukraine entsandt werden, könnte dies dazu führen, dass Kiew die Frontlinie einfriert, wo auch immer sie bis dahin liegen mag, und unabhängig davon, ob Artjomowsk verloren gegangen ist oder nicht.
Nur "Söldner" können Kiew dabei helfen, den Donbass zu halten
Es ist unmöglich, dass Kiews Streitkräfte zeitnah in der Bedienung moderner westlicher Waffensysteme ausgebildet werden können, um in der Schlacht um den Donbass wieder die Initiative zu ergreifen. Erst recht, wenn man bedenkt, wie rasch sich alles derzeit entwickelt. Das bedeutet, dass nur "Söldner" für das Bedienen dieser Waffensysteme in Frage kommen, um dadurch eine Chance zu haben, Russland aufzuhalten.
Die "Mission Kriechgang" der NATO ist ernster geworden denn je
Aufbauend auf der oben beschriebenen militärstrategischen Beobachtung befindet sich die "Mission Kriechgang" der NATO nun an dem Punkt, an dem die Allianz entscheiden muss, ob sie ihre eigenen Soldaten unter dem Deckmantel "Söldner" in die Ukraine schickt, um die gelieferten Waffen zu bedienen, oder ob man sich mit Kiews drohender Niederlage im Donbass abfindet.
Kiews Verlust des Donbass würde zu einer Niederlage des Westens führen
In seinem Stellvertreterkrieg in der Ukraine gegen Russland würde sich für den Westen eine Niederlage abzeichnen, sollte Kiew den Donbass verlieren, da die vollständige Befreiung dieser Region einen Sieg Moskaus in diesem Konflikt ankündigen würde. Deshalb bleibt für die NATO und den kollektiven Westen nur noch, entweder aus Verzweiflung den Einsatz zu erhöhen oder sich pragmatisch mit den vollendeten Tatsachen abzufinden.
Abgesehen von der Forderung Morawieckis an Berlin gibt es fünf weitere Faktoren, durch die eine Verschiebung der Dynamik stattfinden könnte:
Kiew und/oder Russland eröffnen neue Fronten
Kiew könnte eine Offensive im Raum Saporoschje lancieren und/oder Russland könnte die erste Phase seiner Spezialoperation wiederholen, indem es erneut von Weißrussland aus in die Ukraine eindringt. Beide Szenarien bergen jedoch große Risiken. Während das erste Szenario eine Handlung aus der Verzweiflung heraus wäre, den Donbass unter allen Umständen zu halten, wäre das zweite ein Ablenkungsmanöver, das dabei helfen soll, den Donbass zu befreien.
Polen dringt "eigenmächtig" und offen in die Ukraine ein
Russland warnt schon seit geraumer Zeit davor, dass Polen – sei es unter dem falschen Vorwand, "eigenmächtig" ohne die NATO zu handeln, oder formell als Speerspitze – in die Ukraine einmarschieren könnte, nachdem man dort bereits seit Beginn des Konflikts heimlich operiert hat. Einen solchen Schritt könnte Polen unternehmen, um einerseits Kiew zu helfen und andererseits für Moskau eine rote Linie zu ziehen.
Die NATO als Ganzes tritt offiziell in den Konflikt ein
Dieses Szenario ist sehr viel unwahrscheinlicher, da es in den früheren Phasen des Konflikts effektiver hätte umgesetzt werden können. Jedoch kann es immer noch nicht ausgeschlossen werden, dass die NATO als Ganzes aus denselben Gründen formell in die Ukraine vorrücken könnte, aus denen Polen dies "eigenmächtig" tun würde, um die militärische Wirkung zu maximieren.
Westliche Pragmatiker erzielen einen Durchbruch
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass pragmatische Elemente innerhalb des tiefen Staates sowie Oppositionskräfte in den westlichen Ländern einen Durchbruch erzielen, wenn es darum geht, ein gewichtiges Mitglied der Allianz – oder mehrere – davon zu überzeugen, den Friedensprozess sofort wiederzubeleben, mit dem Zweck, die Verluste für Kiew zu begrenzen.
Russland macht eine weitere "Geste des guten Willens"
Es besteht immer die Möglichkeit, dass Russland seine Ankündigung, die jüngste Offensive fortzusetzen, überdenkt und anschließend unerwartet, in einer "Geste des guten Willens", die Frontlinie einfriert.
Abschließend eine Zusammenfassung der 20 Beobachtungen, die in dieser Analyse festgehalten wurden:
Polen gerät in Panik, da Warschau bei einer Niederlage Kiews im Stellvertreterkrieg der NATO gegen Russland am meisten zu verlieren hätte. Deshalb hat Morawiecki das bisherige "offizielle Narrativ" diskreditiert ‒ dies aus purer Verzweiflung, dass die Führungsnation der EU, Deutschland, die Entsendung von Panzern an die Front nicht – oder nicht schnell genug – genehmigen wird.
Selbst für den Fall, dass Berlin Warschaus Forderungen nachkommen sollte und dass NATO-Soldaten unter dem Deckmantel von "Söldnern" in den Kampf ziehen, um diese Waffensysteme zu bedienen, könnte dies immer noch nicht ausreichend sein, um einen Sieg Russlands abzuwenden.
Aus dem Englischen
Andrew Korybko ist ein in Moskau ansässiger amerikanischer Politologe. Er spezialisiert sich auf die US-Strategie in Afrika und Eurasien, Chinas "Neue Seidenstraßen"-Initiative, Russlands geopolitischen Balanceakt sowie hybride Kriegsführung.
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