Eine Analyse von Timofei Bordatschow
Heute und in einer bestimmten historischen Perspektive hat die ukrainische Frage für Russland eine rein militärisch-technische Dimension, was die Bedeutung einer Erörterung in den Kategorien der Politikwissenschaft deutlich reduziert. Allerdings hängen selbst unter neuen Umständen die Aussichten für eine Beantwortung der Frage immer noch vom Verständnis dessen ab, womit wir es auf diesem Territorium zu tun haben.
An Beweisen für die Besonderheiten des Problems mangelt es nicht: Die Handlungen und Äußerungen der Kiewer Machthaber liefern immer wieder Material, um über das "ukrainische Phänomen" nachzudenken. Die jüngsten Beispiele sind die Erklärungen des Vertreters von Kiew in London über die Rolle der Ukraine im Konflikt zwischen Russland und dem Westen, aber auch die Liste der Russen, die als Personen von den ukrainischen Behörden sanktioniert wurden, was viele Beobachter über Weihnachten amüsierte.
Im erstgenannten Fall ging es darum – wir erinnern uns – dass es weltweit kein anderes Land gibt, das bereit wäre, seine Bürger, sein Territorium und seine Entwicklungsperspektiven für den Kampf des Westens gegen dessen historischen Gegner Russland zu opfern. Was die Liste der "Sanktionen" gegen unsere Landsleute betrifft, so fällt auf, was auch viele Journalisten bereits bemerkt haben: Die ukrainische Fassung dieses Dokuments ist eine Kopie der englischen Fassung als Vorlage, was sich auch an der Reihenfolge zeigt, in der bestimmte Namen aufgeführt sind. Sie sind in der Reihenfolge der lateinischen Transkription der Namen aufgeführt, nicht der ukrainischen Schreibweise. Mit anderen Worten: Selbst präsidiale "ukrainische" Verordnungen mit dem Anspruch der staatlichen Souveränität sind eine reine Übersetzung eines aus dem Ausland eingeflogenen Dokuments.
Das alles wäre noch amüsant und nur eine ironische Bemerkung darüber wert, was die derzeitigen Behörden in Kiew wirklich darstellen. Allerdings sind die jener "Regierung" unterstellten Streitkräfte bereits seit zehn Monaten in sehr aktive Kampfhandlungen mit der russischen Armee verwickelt. Und wie albern die Versuche der ukrainischen "Regierung" auch aussehen mögen, "ihr" Land als einen unabhängigen Staat darzustellen, so sind die vorläufigen Aussichten auf eine Lösung dieses Problems noch nicht sehr konkret. Daher sollte es nicht überraschen, dass die Frage nach dem Wesen eines solchen Phänomens, wie es die heutige Ukraine darstellt, für uns von echtem Interesse ist.
Sind denn aus der Geschichte Beispiele bekannt, in denen ein ausreichend großes Land behauptet hat, ein reines Instrument der Militärpolitik anderer Mächte zu sein, und dies auch noch mit konkreten Beispielen bewiesen hat? Nein, in der gesamten ereignisreichen und phänomenalen Geschichte der internationalen Politik lässt sich kein solches Beispiel finden. Allenfalls kann man von der Beteiligung einzelner Einheiten formal abhängiger Territorien an den verschiedenen militärischen Konflikten in ihren Metropolen sprechen. Und in manchen Fällen, wie etwa in Australien im Ersten Weltkrieg, war dies in der Tat eine wichtige Erfahrung im Prozess der Herausbildung eines eigenständigen nationalen Bewusstseins. Davon ist hier jedoch nicht die Rede. Die formelle ukrainische Staatlichkeit existiert schon lange, und niemand im Westen konnte und kann sich die Integration Kiews in die westliche Gemeinschaft sogenannter marktwirtschaftlicher Demokratien außer als Albtraum vorstellen.
Denn souveräne Staaten verfolgen höchst selten eine Politik mit selbstmörderischem Inhalt und Ausgang. Noch schwieriger ist die Vorstellung einer solchen Strategie als Grundlage einer außenpolitischen Doktrin. Man kann natürlich annehmen, dass die ukrainischen Behörden sich ein wenig verstellen und mit ihren Beteuerungen lediglich das öffentliche Interesse in Europa und Nordamerika anheizen wollen, wo sich der Mythos der freiheitsliebenden und opferbereiten Wilden in der Öffentlichkeit gut verkaufen lässt. Doch diese Erklärung kann kaum zufriedenstellend sein: Zu sehr führt das, was Kiew tut, tatsächlich zu einer "Auflösung" sämtlicher ukrainischer Interessen zugunsten der politischen Präferenzen des Westens. In den vergangenen 300 Jahren hat Russland immer wieder erlebt, dass Staatsoberhäupter von Nachbarländern unseren Gegnern in Europa versichert haben, sie würden ihre Interessen verfolgen. Keiner von ihnen ging jedoch so weit, wie die derzeitige Führung in Kiew es heute tut.
Wir können also davon ausgehen, dass die Beschaffenheit des uns interessierenden Phänomens einen dualen Ursprung hat. Zum einen ist seine historische und kulturelle Grundlage einzigartig. Zum anderen geht es um die allgemeine Lage der Territorien, die an der Grenze von Interessensphären derjenigen Mächte liegen, die aus objektiven, historischen Gründen Rivalen bleiben. In diesem Fall verläuft die Grenze zwischen Russland und dem Westen eben in der Ukraine. Doch es gibt auch andere Beispiele – Japan oder Südkorea liegen ebenfalls "zwischen" den Vereinigten Staaten und China. Und dennoch führt dort das Vorhandensein von Erfahrungen eigener Staatlichkeit selbst unter solchen Umständen zu einer verantwortungsvolleren Außenpolitik. Die Ukraine ihrerseits erwies sich dagegen aufgrund der einzigartigen geographischen Lage und ihrer Geschichte in höchstem Maße zur "Auflösung" in fremden Interessen bereit.
Die Essenz dieses tragischen Phänomens zwischenstaatlicher Konstellationen besteht darin, dass die territorialen Gebilde, welche an der Kontaktlinie zwischen Gegnern liegen, in keinem Fall auf volle Souveränität zählen können. Nicht umsonst werden diese Lebensweise in der wissenschaftlichen Literatur als "limitroph" bezeichnet. Dieser Begriff stammt aus dem Römischen Reich, wo er Territorien bezeichnete, in dem die Grenztruppen stationiert waren – und die damit teils gut leben konnten. Der Druck, der von mächtigen Nachbarn auf formell souveräne Länder ausgeübt wird, ist so gewaltig, dass er die Möglichkeit zur Schaffung einer klassischen Staatlichkeit vollständig ausschließt. Ihre politischen Eliten werden unweigerlich von den mächtigen Nachbarn verführt oder eingeschüchtert. Die Bevölkerung sieht in solchen eigenen Herrschern keine zuverlässigen Garanten mehr für ihr Fortbestehen und wendet sich selbst den externen Mächten zu. Darüber hinaus ist sie, wie es auch die Erfahrung in der Ukraine zeigt, sogar zur Selbstaufopferung bereit, um ihre Abhängigkeit von einer der kriegführenden Großmächte auch noch zu verteidigen.
In dieser Hinsicht ist die Ukraine kein Einzelfall. Der gesamte Streifen von staatlichen Formationen, der Russland heute von Westeuropa trennt, erwies sich nach dem Ende des Kalten Krieges als unfähig, seine Souveränität zu behaupten. Das Experiment mit Finnland dauerte allerdings ziemlich lange: Dieses Land befand sich wirklich lange in einem Gleichgewicht zwischen Ost und West. Allerdings erwies sich auch diese scheinbar gefestigte Staatlichkeit mit der Verschärfung der Rivalität als nicht eigenständig überlebensfähig. Mit dem jüngsten Beschluss, der NATO beizutreten, unternahm die derzeitige finnische Regierung einen entscheidenden Schritt in Richtung eines Übergangs zu einer territorialen Aufmarschbasis für die Militärpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika und führender westlicher Staaten. Eine Ausnahme bildet in gewisser Hinsicht derzeit Ungarn, obwohl auch dieses Land bereits einen Großteil seiner Souveränität innerhalb der NATO und der Europäischen Union verloren hat. Generell ist die Duldung lediglich formell souveräner Strukturen in einem solch ungünstigen äußeren Umfeld in hohem Maße unverantwortlich gegenüber dem Schicksal der eigenen Bevölkerung in hohem Maße unverantwortlich.
Wir könnten einfach feststellen, die Ukraine sei in dieser Reihe das größte Beispiel in Bezug auf ihre territorialen und demographischen Indikatoren. Wir haben jedoch keinen Grund, diesem geographischen Raum und dem größten Teil seiner Bevölkerung die eigene Erfahrung in den Beziehungen zu den Nachbarn abzusprechen. Und diese Erfahrung ist die Geschichte von bäuerlichen Rebellionen, von spontanen Widerständen gegen jede Form zentralisierter Staatsgewalt. Nicht von ungefähr hat der großartige russisch-ukrainische Schriftsteller Michail Bulgakow, der heute in Kiew so unerwünscht ist, die Aufmerksamkeit auf dieses Thema gelenkt.
Im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert richtete sich der Aufruhr gegen Polen, das damals die stärkere Staatlichkeit repräsentierte. Und nach dem Niedergang der polnischen Macht wurde Russland zum Zielobjekt jeder Unzufriedenheit, als es Versuche unternahm, seine benachbarten Territorien irgendwie in einem sicheren Zustand zu stabilisieren. Die wahre Tragödie dieser Rebellionen besteht darin, dass sie angesichts ihrer geografischen Lage keinen klassischen Staat hervorbringen konnte, der seinen eigenen Bürgern gegenüber verantwortlich handelte und für seine Umgebung berechenbar ist. Und jede Diskussion darüber, was die ukrainische Staatlichkeit heute ist und welche Aussichten sie hat, beruht auf dem von uns erbrachten Beweis, dass es sie einfach nicht gibt.
Übersetzt aus dem Russischen
Timofei Bordatschow (geb. 1973) ist Doktor der Politikwissenschaften und Experte für internationale Beziehungen, Direktor des Zentrums für komplexe europäische und internationale Studien an der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik der HSE Universität in Moskau sowie Programmdirektor beim Waldai-Klub. Als Forscher ist er auf internationale Beziehungen und aktuelle Fragen der Weltpolitik sowie insbesondere auf die russisch-europäischen Beziehungen spezialisiert.
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