Von Mirko Lehmann
Nun also Boris Bäcker, mit dem niemand auf diesem Posten gerechnet hatte. Doch Scherz beiseite, denn in dieser politischen Lage ist einem nicht nach Wortspielen zumute, schon gar nicht solchen mit Namen. Auch wenn Pistorius – latinisierend für: Bäcker – zu anderen Zeiten womöglich Anlass dazu gegeben hätte (und sich Bild eine Anspielung auf den früheren Tennis-Star in einer Überschrift nicht verkneifen konnte). Der rustikale SPD-Politiker aus Niedersachsen soll neuer deutscher Verteidigungsminister werden – und helfen, sowohl innen- als auch außenpolitischen Druck von der Bundesregierung zu nehmen. Keine leichte – und keine beneidenswerte Aufgabe.
"Wir sind die Niedersachsen, sturmfest und erdverwachsen …" ("Niedersachsenlied")
Wenn dem russischen Präsidenten bisweilen vorgehalten wird, herausgehobene Positionen im Machtapparat mit Vertrauten aus seiner Heimatstadt Leningrad/Sankt Petersburg zu besetzen, könnten ähnliche Vorwürfe auch an Olaf Scholz gerichtet werden. Denn wie Scholz stammt auch Pistorius aus dem niedersächsischen Osnabrück, das sich seit den Tagen von Christian Wulff zum Rekrutierungsort für politisches Spitzenpersonal gemausert hat. Alle drei Politiker gehören der Generation von um 1960 geborenen Westdeutschen an. Mit Hubertus Heil und Lars Klingbeil stammen zudem zwei weitere, wenn auch deutlich jüngere, SPD-Spitzenpolitiker aus Niedersachsen.
Auffällig ist das weitgehend wohlwollende Presse-Echo, das die Nominierung von Boris Pistorius bei den Öffentlich-Rechtlichen, aber auch von FAZ bis taz, vom Spiegel bis zur Süddeutschen Zeitung gefunden hat. Selbst die Springerpresse lobte die Personalentscheidung von Bundeskanzler Scholz. Natürlich fehlte es bei keinem der Kommentare an Hinweisen, was Pistorius zu tun habe. Hervorgehoben werden sein Ehrgeiz, seine Erfahrungen in politischen Führungsämtern, seine Durchsetzungsfähigkeit – und dass er seinen Grundwehrdienst abgeleistet habe, was ihn zum einzigen "Gedienten" in der Bundesregierung mache. Durch seine etwas raubeinige Art würde er vermutlich gut bei den Soldaten ankommen.
Deutschland – "indirekt am Krieg beteiligt"
Aus den Kommentaren stechen zwei Texte heraus. Die FAZ hebt aus der Stellungnahme, die Pistorius heute in Hannover anlässlich seiner Nominierung abgegeben hatte, die Bemerkung hervor, dass Deutschland zumindest "indirekt" am Ukraine-Krieg beteiligt sei. Das ist ungewohnter Klartext, wo doch bisher alle Angehörigen der Bundesregierung jede Art von Kriegsbeteiligung Deutschlands weit von sich weisen. Pistorius hatte in Hannover erklärt:
"Das Verteidigungsministerium ist schon in zivilen, in Friedenszeiten eine große Herausforderung, und in Zeiten, in denen man als Bundesrepublik Deutschland an einem Krieg beteiligt ist indirekt, noch einmal besonders."
Und nach ersten, gewissen Vorschusslorbeeren begann Bild dann doch, sich auf den neuen Verteidigungsminister einzuschießen. Nicht, dass Bild sich an Pistorius' russischem Vornamen oder seinen Russisch-Kenntnissen noch aus Schulzeiten störte. Vielmehr kramte das Boulevardblatt vermeintlich anrüchige Russland-Verbindungen des Niedersachsen hervor. So habe sich Pistorius in der Vergangenheit mit russischen Diplomaten getroffen (was Bild offenbar für unanständig hält) und der deutsch-russischen Freundschaftsgruppe (analog zu entsprechenden Länder-Arbeitsgruppen der Bundestagsabgeordneten) des Bundesrates angehört. Und überdies habe Pistorius die Wirksamkeit der Russland-Sanktionen in Zweifel gezogen.
Eine Art Kontaktschuld
Getreu dem aus der Antike stammenden Grundsatz, dass immer etwas hängen bleibt, instrumentalisierte das Springerblatt schließlich noch zwei außenpolitische Experten gegen Pistorius. Für deren Äußerungen kann der SPD-Politiker zwar nichts, aber Bild benutzt sie, um Pistorius anzuschwärzen. So habe der Politologe Johannes Varwick von der Universität Halle-Wittenberg, der sich in den letzten Monaten wiederholt für eine rationale und auf Ausgleich mit Moskau orientierte Russland-Politik ausgesprochen hatte, Pistorius als "gute Wahl" bezeichnet.
Zu viel für die transatlantische Bild! Als zweiten Experten führte die Boulevardzeitung den Historiker und Russlandexperten Alexander Rahr an. Für Bild sind Varwick und Rahr "höchst umstrittene Persönlichkeiten" – das Codewort für ein ultimatives Verdikt. Das 'Vergehen' von Rahr bestand darin, in einem Kommentar auf seinem Telegram-Kanal – auf Russisch! – auf den Umstand aufmerksam gemacht zu haben, dass Boris Pistorius eine Zeitlang mit der Ex-Frau von Altkanzler Gerhard Schröder, Doris Schröder-Köpf, liiert gewesen war. Rahr hatte geschrieben:
"Wenn man Doris' Sympathie für Russland kennt, kann man davon ausgehen, dass Pistorius, anders als viele deutsche Politiker, keinen Hass auf Russland hegt."
Allein schon eine gewisse Nähe zu Gerhard Schröder (ebenfalls ein Niedersachse!) genügt heutzutage ja schon – ähnlich wie in der McCarthy-Ära in den USA –, als Handlanger des Kremls denunziert zu werden.
Rahr hatte in seiner Stellungnahme, die sich eher an die russischsprachige Öffentlichkeit richtet, auch geschrieben:
"Die NATO wird vehement fordern, dass Pistorius die modernsten deutschen Panzer (Leopard) an die Ukraine liefert. Pistorius wird eher vorsichtig vorgehen, wie der Bundeskanzler selbst: Irgendwo Waffen liefern (auf Druck der USA und der Osteuropäer) und irgendwo eine diplomatische Lösung des Konflikts suchen.
Die SPD ist die einzige der drei Regierungsparteien, deren Führung sich zunehmend für ein diplomatisches Ende des Krieges in der Ukraine ausspricht und dafür, eine weitere Eskalation zu vermeiden und – Gott bewahre! – einen Atomkrieg."
Nimmt man das mediale Echo auf die Nominierung von Boris Pistorius zusammen, wird deutlich, wie sehr die transatlantische Presse Druck auf Sozialdemokraten und Olaf Scholz macht, endlich den Forderungen aus Washington Folge zu leisten. Möglicherweise, falls dies die Absicht war, hat der Kanzler sich mit dieser Personalentscheidung etwas Zeit erkauft, um die Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine zu verzögern.
Unter einer Eva Högl, erst recht unter einer schon für beinahe "gesetzt" geglaubten Marie-Agnes Strack-Zimmermann gäbe es kein Halten mehr bei der Munitionierung der Ukraine. Möglicherweise schon bald wird man sehen, inwieweit Boris Pistorius sich den Forderungen nach immer mehr Waffen entziehen kann oder will, und ob er zu denjenigen zählt, die auf Diplomatie setzen. Schneidige Möchtegern-Generäle à la Baerbock, Habeck, Hofreiter und Strack-Zimmermann gibt es schon mehr als genug in der "Ampel-Koalition".
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