Kapitalismus am Abgrund – Notenbanken in Not

Die derzeit grassierende Inflation gefährdet die politische Stabilität der westlichen Gesellschaften und die Akzeptanz des demokratischen Gesellschaftssystems. Bisher nicht gekannte Preissteigerungen bedrohen die Lebensgrundlage vieler Menschen. Aber auch die Notenbanken geraten durch die Inflation unter Druck.

Eine Analyse von Rüdiger Rauls

Nach der großen Finanzkrise von 2008/9 hatten die Notenbanken die Märkte mit billigem Geld geflutet, um den Zusammenbruch der Weltwirtschaft zu verhindern. Der Interbanken-Handel war weitgehend zum Stillstand gekommen, weil sie sich untereinander nicht mehr trauten. Aber auch gegenüber der Wirtschaft hielten sie ihre Taschen zu. Damit drohte die Finanzkrise, auf die Realwirtschaft durchzuschlagen und die ohnehin schon großen wirtschaftlichen Probleme noch mehr zu verstärken. Aber nicht nur Banken und die Wirtschaft schwächelten. Ganze Staaten taumelten am Abgrund. Das weltweite Währungssystem stand vor dem Zusammenbruch.

Die Notenbanken öffneten die Geldschleusen und stellten den Finanzmärkten Liquidität in bisher nicht gekannter Größenordnung zur Verfügung. Mit den Geldmengen sanken auch die Zinsen und retteten viele bedrohte Banken und Staaten. Die Unternehmen erhielten wieder Kredite. Die Wirtschaft begann, sich zu erholen.

Den Zusammenbruch der Weltwirtschaft zu verhindern, war die vorrangige Aufgabe nach dem Debakel der Lehman-Pleite. Die Geldschwemme war die Operation am offenen Herzen des Kapitalismus. Aber die Krise war überstanden, aber nicht für alle ging es gut aus. Weltweit waren nach OECD-Angaben etwa 20 Millionen Arbeitsplätze vernichtet, die Lebensgrundlage vieler Menschen zerrüttet. Die Wirtschaftsleistung der meisten Staaten konnte das Vorkrisen-Niveau nicht wieder erreichen.

Liquiditätsschwemme

In den Zeiten vor der Lehman-Pleite wurde neue Liquidität dem Markt zugeführt, indem die Notenbanken eine gewisse Geldmenge zur Versteigerung anboten. Geschäftsbanken, die sich um Zuteilung bewarben, gaben Gebote ab, zu welchem Zinssatz sie Kapital erwerben wollten. Den Zuschlag erhielten die Meistbietenden. Über dieses Verfahren wurden Zins und Geldmenge am Markt reguliert. Letztere wuchs entsprechend dem Bedarf am Markt und die Zinssätze entsprechend dessen Aufnahmefähigkeit. Um die Rückzahlung zu gewährleisten, hatten die Banken erstklassige Sicherheiten hinterlegen müssen, in der Regel Anleihen mit AAA-Rating, der höchsten Einstufung, die die Agenturen vergaben.

Jedoch unter den veränderten Bedingungen der Finanzkrise hätte nach diesem bisherigen Verfahren nicht genügend Liquidität in den Markt gegeben werden können, um die Finanzprobleme zu lösen. Im Jahr 2011 verschärfte sich die Kreditklemme in Europa. Besonders groß war das Misstrauen gegenüber den südeuropäischen Banken. Diese konnten sich wegen ihrer schlechten Ausstattung mit Eigenkapital kaum noch Geld auf den Finanzmärkten besorgen. Aufgrund dieser Unsicherheiten zogen sich auch immer mehr private und institutionelle Anleger aus europäischen Staatsanleihen zurück Die Staaten bekamen nicht mehr genug Geld, um ihre Aufgaben wahrzunehmen. Ab Ende 2011 stellte die EZB den Banken Liquidität in nahezu unbegrenzter Menge zu unvergleichlich günstigen Konditionen zur Verfügung. Die Banken kauften diese europäischen Staatsanleihen zu günstigen Kursen und guter Verzinsung mit dem billigen Geld der EZB. Die Kurse der Staatsanleihen erholten sich, das Misstrauen der Banken untereinander ging zurück. Die Banken steigerten wieder die Kreditvergabe an Unternehmen und Private. Hunderte von Milliarden gelangten so in den Markt.

Dennoch kam die Konjunktur nicht in Schwung; die deflationären Tendenzen in der Wirtschaft nahmen zu sogar bis in den Bereich negativer Inflationsraten. Um die Banken zur Kreditvergabe zu zwingen, führte die EZB Negativzinsen ein für Gelder, die die Banken auf ihren EZB-Konten parkten. Darüber hinaus kaufte sie den Geschäftsbanken deren Wertpapiere ab. Das brachte wieder Geld in den Kreislauf. Die EZB schöpfte neues Geld und erhielt dafür Anleihen und andere Wertpapiere. Sie hatte ihre Bilanzen ausgeweitet und damit erneut weitere Liquidität geschaffen. Das war aber nicht nur bei der EZB so. Ähnliches hatte auch schon die Bank von Japan seit der Immobilienkrise Ende der 1980er Jahre getan und andere Notenbanken auch.

Gefahren der Notenbankkäufe

Das ist der Vorgang, der oftmals als Geldschöpfung aus dem Nichts bezeichnet wird. Das ist aber nichts Neues. So ist Geldschöpfung immer vonstatten gegangen, das Verfahren hat sich nicht geändert. Neu waren nur die Summen. Neu war auch, dass die Notenbanken selbst regelmäßig Anleihen aufkauften und das Geld der fällig gewordenen Anleihen wieder investierten in neue Anleihekäufe. Neu war vor allem, dass die EZB immer häufiger Anleihen geringerer Bonität kaufte. Da die Notenbank als zusätzlicher Käufer an den Märkten auftrat, waren die Anleihen höchster Qualität knapp geworden. Um aber weiterhin Geld in den Markt geben zu können, ging sie später dazu über, schlechter bewertete Anleihen, das heißt Anleihen mit höheren Ausfallrisiko, auf ihre Bücher zu nehmen. Dadurch stieg das Verlustrisiko der Notenbank. Jedoch stellte dieses Risiko bisher keine Gefahr dar, vielmehr verdienten die Notenbanken an den Zinsen, die auf die Anleihen ausgeschüttet wurden.

Gefährlicher sind für die Notenbanken mittlerweile die eigenen Leitzinserhöhungen. Die Geschäftsbanken verfügen über Konten bei der Notenbank, auf denen die Gelder parken, die sie bei der Notenbank aufgenommen haben. Auf diese Gelder zahlen sie zwar Zinsen, andererseits aber erhalten sie auf diese Einlagen Guthabenzinsen. Diese sind mittlerweile höher als die Zinsen, die sie zahlen müssen. Zudem gehen die Kurse der Anleihen zurück, die die EZB seinerzeit den Geschäftsbanken abgekauft hatte, um die Zinsen niedrig zu halten. Der aktuelle Anstieg der Inflation in der Eurozone sorgt für eine Umschichtung der Anleihen. So "warfen Investoren (...) niedriger verzinste Staatsanleihen aus ihren Depots. Dies trieb die Rendite der zehnjährigen Bundestitel auf 2,145 Prozent von 2,083 Prozent am Vortag", so die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) am 17. Dezember. Solange mit steigenden Zinscoupons zu rechnen ist, dürfte sich diese Entwicklung fortsetzen. Die Anleihen, die die EZB seinerzeit von den Geschäftsbanken erworben hatte, sind heute weniger Wert, als die EZB dafür gezahlt hat. Will also die europäische Notenbank keinen Verlust durch vorzeitigen Verkauf erleiden, muss sie die Anleihen bis zur Endfälligkeit halten.

Diese Entwicklung betrifft aber nicht nur die EZB. Die Schweizerische Zentralbank meldete für die ersten neun Monate des Jahres 2022 einen Verlust von 142 Milliarden Franken, die australische Zentralbank einen Buchverlust von 36,7 Milliarden Austral-Dollar. Damit wies sie ein negatives Eigenkapital von 12,4 Milliarden Austral-Dollar aus. Mit solch einem negativen Eigenkapital wäre ein Wirtschaftsunternehmen überschuldet. Die Bilanz für die EZB liegt noch nicht vor. Der Saldo zwischen An- und Verkäufen kann noch nicht gezogen werden, weil sie die meisten Anleihen noch immer im Bestand hat.

Zahlungsfähigkeit gefährdet

Welche Auswirkungen haben solche Verluste und negativen Bilanzen der Notenbanken für deren Zahlungsfähigkeit? Vordergründig vorerst keine. Im äußersten Notfall sind da immer noch Staat und Steuerzahler, die für die Notenbanken gerade stehen müssen. Andererseits sind die Notenbanken aber auch in der Lage, das Geld selbst zu schaffen, das sie zum Ausgleich ihrer Bilanz benötigen. Das sind die Antworten der Wirtschaftswissenschaft und der sogenannten Experten, die bisher aber noch nicht einem Test an der Wirklichkeit unterzogen wurden.

Die Unabhängigkeit der Notenbanken ist ein Trugschluss. Sie sind wohl unabhängig in ihren Entscheidungen von Weisungen ihrer nationalen Regierungen. Aber sie sind nicht unabhängig von den internationalen Märkten, das heißt vom Verhalten der Anleger. Denn wenn diese nicht kaufen, haben Experten, Staaten und Notenbanken die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Zudem stellt sich dann die politische Frage, ob diese Unabhängigkeit nur für die guten Zeiten gelten und in den schlechten dann wieder der Steuerzahler für die Interessen internationaler Anleger herhalten soll? Das Missverhältnis zwischen den Käufen der Anleger und der Kapitalnachfrage der Staaten scheint zu wachsen. Denn der Anteil der von den Notenbanken erworbenen Anleihen nimmt stetig zu. Entweder haben zu wenig Anleger ein Interesse am Kauf dieser Anleihen oder aber das private Kapital in seiner Gesamtheit reicht nicht mehr aus, um die Anleihemengen der Finanzmärkte aufzunehmen.

Wie auch immer: Notenbanken sind deshalb gezwungen, als Käufer einzuspringen und private Nachfrage durch öffentliche zu ersetzen. Dabei schaffen sie selbst das Geld in eigener Währung und kaufen damit die Anleihen des eigenen Staates. Das ist letztlich die Staatsfinanzierung durch die Notenbank, die nach den Theorien der Wirtschaftswissenschaft eigentlich nicht stattfinden sollte. Denn es handelt sich dabei um das Trugbild eines funktionierenden Marktes. Dennoch und entgegen allen Theorien scheint es zu funktionieren, wie Japan seit Jahrzehnten schon zeigt. "Seit 2013 hält die Notenbank mehr als die Hälfte der ausstehenden japanischen Staatsanleihen in ihren Büchern" (FAZ vom 21.12.2022).

Schluss mit Lustig

Die Frage ist, unter welchen Bedingungen diese Konstruktion überlastet sein wird. Wie lange spielen die privaten Investoren noch mit und kaufen weiter? Wann beginnen Unsicherheit und Zweifel an diesem System zu wachsen? Denn die Kluft zwischen dem öffentlichen Finanzbedarf und dem Kaufinteresse der Anleger scheint immer größer zu werden. "Der Bund muss 2023 am Anleihemarkt die Rekordsumme von 539 Milliarden Euro aufnehmen" (FAZ vom 15.12.2022), zwanzig Prozent mehr als im Jahr davor, wo auch schon 483 Milliarden aufgenommen worden waren.

Das sind über eine Billion Euro in zwei Jahren, was "für zusätzlichen Aufwärtsdruck bei den Renditen" (FAZ vom 15.12.2022) langlaufender Anleihen sorgen dürfte. Wegen der geringen Nachfrage nach ihren sonst so begehrten Anleihen musste die Kreditanstalt für den Wiederaufbau bereits ungewöhnlich hohe Risikoaufschläge anbieten, um Abnehmer für ihre Anleihen zu finden. Selbst die amerikanischen 10-jährigen Staatsanleihen verzeichneten im Jahr 2022 Kursverluste von über 25 Prozent und lagen damit nur einen Platz besser als russische Aktien (FAZ vom 31.12.2022).

Es stellt sich somit die Frage, ob dieses Missverhältnis zwischen dem Finanzbedarf der Staaten und dem Kaufinteresse der Anleger vorübergehend ist oder strukturell. Vorübergehendes Misstrauen könnte überwunden werden, indem die Staaten ihre Ausgaben reduzieren und damit das Vertrauen der Anleger in die staatliche Schuldentragfähigkeit wiederherstellen. Dabei besteht allerdings die Gefahr wachsender politischer Instabilität.

Schwieriger zu beheben wäre ein strukturelles Missverhältnis, wenn also nicht mehr genügend privates Kapital vorhanden ist, um die Mengen der Staatsanleihen zu kaufen, die auf den Markt drängen. Die Staaten wären dann vermutlich gezwungen, in ihrem Werben um Käufer für ihre Anleihen sich mit den angebotenen Zinssätzen zu überbieten. Wenn das nicht ausreicht, müssten ihre Notenbanken die eigenen Staatsanleihen aufkaufen, wie es viele, vor allem westliche Notenbanken mit ihren Anleihe-Kaufprogrammen seit Jahren schon praktizieren.

Das heißt aber auch, dass die Notenbanken mehr Geld schaffen müssen für den Kauf der eigenen Anleihen. Das läuft jedoch den Plänen zuwider, die eigenen Bilanzen zu reduzieren. Denn das geht nur über den Verkauf von Anleihen aus dem Altbestand. Doch wer soll diese Anleihen kaufen, die über eine schlechtere Rendite verfügen als jene, die neu auf den Markt kommen? Unter diesen Bedingungen geht das nur unter Verlusten gegenüber den Kaufkursen. Werden jedoch weiterhin Anleihen gekauft, wachsen die Geldmengen weiter besonders in Dollar und Euro. Was aber sollen deren Besitzer noch dafür kaufen, wenn immer mehr Staaten aus dem Dollar aussteigen oder ausgeschlossen werden? Den wachsenden westlichen Geldmengen steht eine schrumpfende Menge von Güter gegenüber, die in diesen Währungsräumen hergestellt werden. Und deren Preise im Vergleich besonders zu China immer weniger konkurrenzfähig. Denn die protektionistischen Maßnahmen des Westens, begonnen mit Trumps Zöllen gegen chinesische und europäische Produkte, aber auch die Schranken des europäischen Green-Deal und des neusten Inflation Reduction Act (IRA) der USA, führen zu höheren Preisen, weil sie günstigere Anbieter vom Markt ausschließen. Das schützt zwar die heimische Wirtschaft, aber nur um den Preis nachlassender Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt.

Was aber kaufen mit den Dollars und Euros, wenn deren Produkte immer teurer werden und die Welt zunehmend in Yuan, Rubel und anderen nationalen Währungen Handel betreibt? Schon jetzt steigen Rubel und Yuan im Wert gegenüber den westlichen Währungen. Was wird aus Dollar und Euro, wenn die Sanktionierten dieser Welt, die immer mehr werden, sich immer enger zusammenschließen und eine eigene Reservewährung schaffen, was sich bereits abzeichnet? Was sind die gewaltigen Mengen an Dollar und Euro dann noch wert? Denn letztlich sind Währungen immer Zahlungsmittel für Waren und Dienstleistungen. Daraus ermisst sich ihr Wert. 

Rüdiger Rauls ist Autor und Texter. Er betreibt den Blog Politische Analyse.

Mehr zum Thema - Irrer Iwan – oder doch logische Folgen des Überschreitens roter Linien