Von Maxim Hwatkow
Im Jahr 2022 kam es zu einer vollständigen Kehrtwende beim finnischen Ansatz in den Beziehungen zu seinem Nachbarn Russland. Eine seit Ende des Zweiten Weltkriegs verfolgte Politik der strikten Neutralität wich einer scharfen Verurteilung der russischen Militäroperation in der Ukraine, einem Lobbying bei der EU für harte Sanktionen und ein Einreiseverbot für russische Staatsbürger und mündete schließlich in einem Antrag auf den Beitritt zur NATO.
Helsinki hat jedoch nicht damit aufgehört, sondern zusätzliche Schritte unternommen, die an die absurde Politik der baltischen Staaten erinnern.
Eindämmung an allen Fronten
Im November gab Finnland bekannt, eine Mauer entlang seiner Grenze zu Russland errichten zu wollen. Die Finnen begründeten die Notwendigkeit dieser Mauer mit der Befürchtung, Moskau könne Migranten als politisches Druckmittel einsetzen.
Laut der französischen Tageszeitung Le Monde soll die 1’400 Kilometer lange und drei Meter hohe, mit Stacheldraht bewehrte Mauer rund 380 Millionen Euro kosten. Sie soll an den kritischen Stellen mit Nachtsichtkameras und Flutlichtern ausgestattet und bis 2025/2026 in drei Phasen errichtet werden. Laut finnischen Offiziellen soll es eines der ehrgeizigsten Projekte sein, das jemals zur Grenzsicherung des Landes angegangen wurde.
Eine weitere bizarre Situation entstand für russische Besitzer reinrassiger Hunde in Finnland, die Schwierigkeiten hatten, ihre Haustiere beim finnischen Verband der Hundezüchter zu registrieren, obwohl laut dem finnischen nationalen TV-Sender YLE alle in Finnland lebenden Hunde ab 2023 auf dieser Liste stehen müssen, unabhängig von ihrem Geburtsort.
Finnland hat sich auch dafür eingesetzt, internationale Sanktionen gegen Russland aufrechtzuerhalten. Petri Honkonen, Finnlands Minister für Wissenschaft und Kultur, ist der Ansicht, dass das Internationale Olympische Komitee seine Haltung nicht aufweichen und russische und weißrussische Athleten weiterhin von Wettkämpfen ausschließen sollte. "Die internationale Sanktionspolitik basiert auf der Idee, dass die russische Gesellschaft für ihr Handeln bezahlen muss. Das gilt auch für russische Athleten", sagte er kürzlich.
Die Situation hat auch gut etablierte Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Ländern beeinträchtigt. Das prominenteste Beispiel ist die im Mai getroffene Entscheidung des Kernkraftwerkbetreibers Fennovoima, seinen 2013 unterzeichneten Vertrag mit dem russischen Staatskonzern Rosatom zu sistieren. Im Rahmen des Abkommens hätte Rosatom ein Kernkraftwerk bauen sollen, das 40 Prozent der finnischen Energie abgedeckt hätte.
Finnland unterstützt auch aktiv die Ukraine, seit der Konflikt im Februar in die aktuelle Phase übergegangen ist, und hat insgesamt 189,2 Millionen Euro an Hilfe bereitgestellt. Das Ende Dezember angekündigte 11. militärische Hilfspaket wird weitere 28,8 Millionen Euro hinzufügen.
Die stark zunehmenden Spannungen haben auch Auswirkungen auf die breitere finnische und russische Öffentlichkeit. Ein typisches Beispiel ist ein Vorfall, der sich während der Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag am 6. Dezember in Helsinki ereignete, als eine Menschenmenge die Flagge der Russischen Föderation verbrannte, was zu einer diplomatischen Demarche führte, die vom russischen Außenministerium an die finnische Regierung ausgehändigt wurde.
Gemeinsam, aber nicht für immer
Das war nicht immer so. Die Geschichte Russlands und jene seines finnischen Nachbarn sind seit Langem miteinander verflochten. Vor etwas mehr als 100 Jahren waren Helsinki und Moskau regionale Zentren innerhalb desselben Staates, dem Russischen Reich.
Finnland wurde 1809, nach Russlands entscheidendem Sieg im russisch-schwedischen (finnischen) Krieg, ein Teil Russlands, aber es wäre ein Fehler, diese Annexion als gewalttätig oder schädlich für die finnische Bevölkerung zu bezeichnen. Als Teil Schwedens hatte Finnland weder nationale Staatlichkeit noch Autonomie, während das Großherzogtum Finnland in Russland ein hohes Maß an innerer und äußerer Freiheit genoss und eine Reihe von Privilegien, die andere russische Territorien nicht hatten.
Zar Alexander I. (1777–1825) hielt auf der Eröffnungssitzung des Landtages von Finnland, dem lokalen Parlament, eine Rede auf Französisch, in der er sagte: "Ich habe versprochen, Ihre Verfassung und Ihre Grundgesetze aufrechtzuerhalten – und Ihre Versammlung hier garantiert mein Versprechen." Finnland trat dem Russischen Reich bei, durfte aber das schwedische Zivilgesetzbuch beibehalten. An Alexander II. (1818–1881) erinnert man sich wegen seiner Rolle bei der Wiedereinführung des finnischen Parlamentarismus, wie seine Statue vor der Kathedrale von Helsinki auf dem Senatsplatz beweist.
Das hohe Maß an Autonomie gab der Fennomania Aufwind, einer finnischen nationalistischen Bewegung, deren Befürworter dafür plädierten, dass von der Bevölkerung Finnisch anstelle des ihnen seit Jahrhunderten aufgezwungenen Schwedisch gesprochen werden sollte. Der kurzlebige Versuch der Russifizierung Finnlands, der Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts unternommen wurde, scheiterte, als Eugen Schauman, ein finnischer Beamter, den Generalgouverneur von Finnland, Nikolai Bobrikow, ermordete. Die Blütezeit Finnlands als Teil des Russischen Reiches wurde dann durch die Russische Revolution unterbrochen.
Im 20. Jahrhundert befanden sich das inzwischen unabhängige Finnland und die UdSSR in zwei gegensätzlichen Lagern. Der 30. November 1939 markierte den Beginn eines kurzen, aber blutigen Krieges zwischen den beiden Ländern, der auch als Winterkrieg bekannt wurde. Der offizielle Grund für die Kämpfe war der Wunsch der sowjetischen Führung, die Landesgrenze angesichts der zunehmenden Spannungen in Europa von Leningrad weg zu verlegen. Es stellte Finnland ein Ultimatum mit der Forderung, Gebiete auszutauschen, was Finnland ablehnte. Trotz schwerer Verluste – über 100.000 Tote – zwang die UdSSR Finnland, den nördlichen Teil der Karelischen Landbrücke und eine Reihe von Inseln im Finnischen Meerbusen abzutreten und der Verpachtung eines Teils der Hanko-Halbinsel an die Sowjets zuzustimmen, dies als Teil eines von Moskau diktierten Friedensvertrags.
Finnland kämpfte während des größten Teils des Zweiten Weltkriegs auf der Seite der Achsenmächte. Es trat im Juni 1941 in den Krieg ein und zog insgesamt 17,5 Prozent seiner Bevölkerung in den Kriegsdienst ein. Es ist eine wohlbekannte Tatsache, dass Finnland Deutschland dabei half, Leningrad unter Belagerung zu halten, indem es Zivilisten in Konzentrationslagern festhielt und Sowjet-Karelien besetzte. Erst 1944 beendete die vorrückende Rote Armee die finnische Kriegsbeteiligung.
Diese beiden Kriege machten Moskau und Helsinki jedoch nicht zu eingeschworenen Feinden. Im Gegenteil, nachdem Finnland die Sinnlosigkeit einer Pattsituation mit seinem mächtigen Nachbarn erkannt hatte, behielt es während des Kalten Krieges einen neutralen Status und pflegte enge wirtschaftliche Beziehungen zur UdSSR, was zum wirtschaftlichen Erfolg des Landes beitrug.
Die skandinavische Nation genoss auch ein hohes Ansehen als Treffpunkt der Diplomatie, wobei die finnische Hauptstadt Gastgeber von vier Treffen zwischen den US-amerikanischen und der russischen Staatsführungen war. 1975 traf Präsident Gerald Ford in Helsinki Leonid Breschnew, gefolgt vom Bush-Gorbatschow-Gipfel im Jahr 1990, Bill Clintons Treffen mit Boris Jelzin im Jahr 1997 und dem Trump-Putin-Gipfel im Jahr 2018.
Aufs Neue dagegen
Der 18. Mai 2022 könnte als der Tag bezeichnet werden, an dem Finnland sich von der Neutralität verabschiedet hat. An diesem Tag beantragte es zusammen mit Schweden die NATO-Mitgliedschaft.
Bisher haben sich nur das ungarische und das türkische Parlament geweigert, einen Beitritt von Finnland und Schweden zur Allianz zu ratifizieren. Als Gegenleistung für ihre Zustimmung versprachen Stockholm und Helsinki der Türkei, dass sie die Unterstützung kurdischer und türkischer Oppositionsorganisationen einstellen, Anträge auf Auslieferung von Mitgliedern der PKK prüfen und Waffenembargos aufheben würden.
Finnlands Außenminister Pekka Haavisto nannte die "russische nukleare Bedrohungen" als Hauptgrund für den Wunsch nach einer NATO-Mitgliedschaft. Am 24. Februar habe sich die Sicherheitslandschaft in Europa verändert, sagte er. In diesem Zusammenhang – und da Finnland eine gemeinsame Grenze mit Russland hat – möchte Helsinki Unterstützung finden und seine Verteidigung vorausschauend planen. Gleichzeitig habe der Zustand der russisch-finnischen Beziehungen in den vergangenen Jahrzehnten nie Anlass zur Besorgnis oder Entfremdung gegeben, sagte Wladimir Olentschenko, Senior Forscher am Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen (IMEMO) in Moskau.
In einem Interview mit RT betonte er, dass Finnland stark von der Partnerschaft mit Russland profitiert habe. Kristiina Hietasaari, Direktorin von Visit Finland, prognostizierte einen jährlichen Einnahmeverlust von über 600 Millionen Euro durch die Verbannung russischer Touristen. Olentschenko glaubt, dass der Faktor Mensch der Schlüsselfaktor hinter diesem neuen Kurs der finnischen Regierung ist.
"Diejenigen, die heute in Finnland an der Macht sind, fühlen sich von der euro-atlantischen Welt angezogen, das heißt von Europa und den USA. Und da die USA eine aggressive antirussische Haltung eingenommen haben, synchronisieren die schwedische und finnische Politik ihre Bemühungen mit der US-Agenda. Warum sie das tun, ist eine andere Frage, und wir haben nicht genügend Informationen, um diese Frage zu beantworten. Wichtiger ist, dass es diesen Politikern an politischer Unabhängigkeit mangelt, da ihre Argumente nicht das Ergebnis eigener Analysen oder Beobachtungen sind. Sie wiederholen lediglich die in den USA kreierten Slogans", sagte Olentschenko.
Übertriebener Enthusiasmus hat noch niemandem gut getan
Dennoch ist die antirussische Stimmung in Finnland weit entfernt von jener in den baltischen Staaten, wo die Hysterie durch die Decke geht, kommentierte Vadim Truchatschew, Professor an der Fakultät für Internationale Beziehungen, Politikwissenschaft und Auslandsstudien der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität (RSUH) in Moskau gegenüber RT. Die Voraussetzungen sind aber vorhanden.
"Im Gegensatz zu den Balten haben die Finnen gelernt, von ihrer Nachbarschaft zu Russland zu profitieren, obwohl sie das Land nie mochten. Bis vor Kurzem gelang es ihnen, ihre wahre Haltung gegenüber Russland zu verbergen, die sich von jener der Esten, eines verwandten Volkes, nicht wirklich unterscheidet. In der finnischen Politik gab es jedoch einen Generationenwechsel. Die heutige 37-jährige Premierministerin Sanna Marin ist Welten entfernt von den ehemaligen Präsidenten Urho Kekkonen, Tarja Halonen oder sogar dem 74-jährigen amtierenden Präsidenten Sauli Niinisto", sagte Truchatschew.
Die Medien nennen Niinisto manchmal einen der westlichen "Freunde" von Präsident Putin. Und selbst jetzt, nachdem er sich für einen NATO-Beitritt ausgesprochen hat, ist die Rhetorik des Präsidenten viel weniger radikal als die seiner viel jüngeren Premierminister. Im Dezember 2022 sagte er, dass der Kontakt zu Russland für die Nation von entscheidender Bedeutung sei, daher müsse Finnland Russland, zumindest als Nachbar mit einer 1.340 km langen gemeinsamen Grenze respektieren, auch wenn es einige Zeit dauern werde, das Vertrauen Finnlands vollständig zurückzugewinnen.
"Die Generation von Sanna Marin setzt Werte über Geld. Wie sich herausstellte, wurden alte finnische Russlandphobien in Helsinki durch den Wunsch verstärkt, europäischen Werten zu folgen, die dem modernen Russland nicht entsprechen. Damit wird Moskau automatisch zum Rivalen, wenn nicht sogar zum Feind. Und die Militäroperation in der Ukraine hat die finnische Angst ausgelöst, dass sie das nächste oder übernächste Ziel Russlands sein könnten", erklärte Truchatschew.
Der letzte und nicht unwichtigste Faktor für die Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und Finnland ist eine kleine, aber einflussreiche schwedische Diaspora in der finnischen Politik. Der Professor der RSUH nannte diese Gruppe "die russophobischste Gemeinschaft in Skandinavien".
Alles ist Schwarzmalerei
Olentschenko glaubt, dass finnische Politiker in letzter Zeit gegen die langfristigen Interessen ihres Landes gehandelt haben. Die Veränderung der bilateralen Beziehungen zu Moskau werde sich unweigerlich auf die Struktur der finnischen Wirtschaft, den Außenhandel und den Lebensstandard seiner Bürger auswirken, sagte der Experte. Warum Finnland all das will, ist eine offene Frage, auf die es keine rationale Antwort gibt.
"Der Vorteil der Neutralität besteht darin, sich von jedem Pol fernzuhalten, was ermöglicht, gleichberechtigte Beziehungen zu allen aufrechtzuerhalten, was wiederum gut für die Wirtschaft und die Menschen ist", argumentierte Olentschenko.
In Finnland gibt es gewisse Meinungsverschiedenheiten über die Russlandpolitik, aber das eher prorussische Linksbündnis hätte keine Chance, eine Einparteienregierung zu bilden, die als einzige Partei gegen einen NATO-Beitritt ist. Die finnische Regierung sei eine Koalition, wobei der Haupttreiber der antirussischen Stimmung die Grüne Liga sei, deren Mitglied Pekka Haavisto Außenminister sei, fügte er hinzu.
Er sagte auch voraus, dass die Beziehungen zwischen Russland und Finnland nun wohl dem Szenario Russland-Schweden folgen werden: schlecht – aber immer noch besser als die Beziehungen zu den baltischen Staaten oder Polen. Finnlands Haltung gegenüber Russland wird härter sein als jene des Großteils der EU. Es ist erwähnenswert, dass Schweden und Finnland gemeinsam handeln, wobei Schweden die Führung übernommen hat.
"Vorbei sind die Zeiten, in denen Russland in seinen Beziehungen zu Europa pragmatisch sein konnte. Die heutige Generation von Politiker ist ein Verfechter von Regeln und Werten. In ihren Augen ist Russland eine schwache Nation, die nur 2 Prozent des weltweiten BIP ausmacht und zerschlagen werden könnte. Russland hat auch die Weltordnung gestört, und das bedeutet, dass Verhandlungen mit Moskau vom Tisch sind. Finnlands Regierung folgt einfach dieser europäischen Maxime", resümierte Truchatschew abschließend.
Aus dem Englischen.
Maxim Hwatkow
ist ein russischer Journalist, mit Schwerpunkt auf internationale Sicherheit, Chinas Politik und die Mechanismen der Soft-Power.
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