Am 3. Dezember verkündete der investigative US-Reporter Matt Taibbi auf seinem Account bei der Social-Media-Plattform Twitter die Ankündigung, in regelmäßigen Abständen Details über die von ihm so genannten "Twitter-Files" zu veröffentlichen.
Diese Serie mit den daraus extrahierten Informationen würde "auf Tausenden von internen Dokumenten basieren, die von Quellen bei Twitter stammen", versicherte Taibbi. Der mittlerweile siebte Teil zeigte mit seinem inhaltlichen Schwerpunkt auf den Beleg durch Unterlagen, dass der US-Inlandsgeheimdienst FBI zwischen Oktober 2019 und Februar 2021 rund 3,4 Millionen US-Dollar an das Unternehmen zahlte, damit ehemalige Top-Manager von Twitter verlässlich die Hunter Biden Laptop-Geschichte weiter als "russische Desinformation" titulieren würden.
Am Wochenende wurden den daran interessierten Lesern nun Inhalte von "Part 8" zur Verfügung gestellt. Die veröffentlichten Dokumente belegen demnach, dass auch das US-Militär, in dem Falle im Pentagon als dem Hauptsitz des US-Verteidigungsministeriums, proaktiv Druck auf die Twitter-Chefetage ausübte. Der amerikanische Investigativ-Journalist Lee Fang erklärt dazu einleitend in seiner Analyse (bestehend aus 21 Teilen/Threads) der publizierten Dokumente (im Thread 2):
"Twitter behauptet seit Jahren, dass das Unternehmen konzertierte Anstrengungen unternimmt, um von der Regierung unterstützte Plattformmanipulationen zu erkennen und zu vereiteln. Hier ist eine Aussage von Twitter vor dem Kongress über sein Versprechen, alle staatlich unterstützten verdeckten Informationsoperationen und betrügerische Propaganda schnell zu identifizieren und zu beenden."
Nun jedoch würden die "Twitter-Files" belegen, dass vielmehr "hinter den Kulissen die psychologische Online-Beeinflussung des US-Militärs durch Twitter genehmigt und besonders geschützt wurde". Ein Dokument (im Thread 4) zeigt laut Fang dabei, dass
"... im Jahr 2017 ein Beamter des U.S. Central Command (CENTCOM) Twitter eine Liste von 52 arabischsprachigen Konten zusandte, 'die wir zur Verstärkung bestimmter Botschaften nutzen'. Der Beamte bat um einen vorrangigen Dienst für sechs Konten, eine Überprüfung für eines und 'Whitelist'-Kennzeichnungen für die anderen."
Das CENTCOM ist eine der elf existierenden Kommandostrukturen für das US-Militär weltweit. Die angeforderten Sonderrechte bewirkten, dass vonseiten Twitters ein Dienstprogramm als Tool programmiert wurde, damit die gewünschte "Whitelist"-Kennzeichnung ohne Umstände erfolgen kann. Eine "weiße Liste", als Ausnahmeliste auch Positivliste oder Unbedenklichkeitsliste genannt, bezeichnet in der Informationstechnik eine Datei, mit deren Hilfe vertrauenswürdige Elemente als solche zusammengefasst und damit schneller verarbeitet werden können, etwa freizuschalten sind.
Im Falle der CENTCOM-Wünsche bewirkte dies im Wesentlichen, dass den Konten ohne die blaue Twitter-Prüfung (ein äußerlich sichtbares Merkmal der angeblichen "Glaubwürdigkeit" des Konteninhabers) ein Verifizierungsstatus verliehen wurde, was wiederum bedeutet, dass diese Konten von möglichen Kennzeichnungen als Spam oder Twitter-Missbrauch ausgenommen sind und sie obendrein bei Hashtags besser sichtbar sind und somit wahrscheinlicher einen Trend aufzeigen oder gar selbst beeinflussen.
Im Falle des Pentagon hatte diese eingeforderte Vorteilsgewährung die gewünschten Auswirkungen. Lee Fang erklärt dies an Twitter-Bespielen von Beiträgen (im Thread 6 und 7):
"Die CENTCOM-Konten auf der Liste twitterten häufig über die militärischen Prioritäten der USA im Nahen Osten, einschließlich der Verbreitung von Anti-Iran-Botschaften, der Förderung des von Saudi-Arabien und den USA unterstützten Krieges im Jemen und 'präziser' US-Drohnenangriffe, die angeblich nur Terroristen treffen."
Twitter-Mails aus dem Jahre 2020 würden nun zumindest andeuten, dass "hochrangigen Twitter-Führungskräften die Existenz von gefälschten Konten und verdeckter Propaganda des Verteidigungsministeriums durchaus bewusst waren und die Konten nicht gesperrt" wurden. Der mittlerweile entlassene stellvertretende Leiter der Rechtsabteilung von Twitter – Jim Baker, zuvor ein FBI-Anwalt – kommentierte in einer E-Mail vom Juli 2020 (im Thread 9) über ein bevorstehendes Treffen mit dem US-Verteidigungsministerium, dass "das Pentagon bei der Einrichtung seines Netzwerks 'schlechtes Handwerk' angewandt habe und nach Strategien suche, um die Konten, die 'miteinander oder mit dem Verteidigungsministerium oder der US-Regierung verbunden sind', nicht aufzudecken".
Fangs Analysen gehen davon aus, dass "viele dieser geheimen Propaganda-Accounts des US-Militärs" trotz ihrer Entdeckung durch Twitter "noch im Jahr 2020 bis zu diesem Jahr weiter" regelmäßig Beiträge veröffentlichten. Einige Konten wurden sogar "erst im Mai 2022 oder später gesperrt, wie aus den von mir überprüften Unterlagen hervorgeht", so der US-Journalist (im Thread 13). Bereits im August dieses Jahres berichtete eine Veröffentlichung des Stanford Internet Observatory über ein verdecktes Propagandanetzwerk des US-Militärs auf den Plattformen Facebook, Telegram, Twitter und anderen Apps. Dieses Netzwerk nutzte dabei "gefälschte Nachrichtenportale und gefälschte Bild-Collagen" (siehe Thread 14). Der Titel des Stanford-Berichts lautet "Ungehörte Stimme – Bewertung von fünf Jahren pro-westlicher verdeckter Einflussnahme".
Der Stanford-Bericht bewies unter anderem die Existenz eines der Twitter-Fake-Accounts, der auf Wunsch von CENTCOM, also des Pentagon, im Jahre 2017 auf die "Whitelist" gesetzt wurde (siehe Thread 16) und somit manipulativ wirken konnte. Dass Führungskräfte bei Twitter von der Kooperation mit dem US-Militär wussten, belegen wiederum interne Mails vom September dieses Jahres (im Thread 19). Als die US-Zeitung Washington Post am 19. September über einen möglichen Skandal berichtete, "beglückwünschten sich Twitter-Vertreter gegenseitig, weil in dem Artikel keinerlei Twitter-Mitarbeiter erwähnt wurden und der Schwerpunkt auf dem Pentagon lag". Der Washington Post-Artikel (Bezahlschranke) warnte damals: "Beschwerden über beeinflussende Operationen des US-Militärs auf Facebook und Twitter haben im Weißen Haus und in Bundesbehörden Besorgnis ausgelöst."
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