Eine Analyse von Kamran Gassanow
Der G20-Gipfel ist vorbei. Einige Experten setzten große Hoffnungen in die Gespräche in Indonesien, weil sie dachten, dass Joe Biden dort persönlich mit Wladimir Putin über die Ukraine sprechen könnte. Wenige Tage später stellte sich jedoch heraus, dass Putin nicht nach Bali reisen wird. Er ließ Russland durch den russischen Außenminister Sergei Lawrow vertreten.
Tatsächlich bedeutete die Abwesenheit des russischen Präsidenten nicht von vornherein das Scheitern des Verhandlungsprozesses. Diejenigen, die daran interessiert waren, hatten auf jeden Fall die Möglichkeit, ihre Ansichten oder Vorschläge über Lawrow zu übermitteln. Letztlich hat das Verhalten der französischen und deutschen Regierungschefs gezeigt, dass Westeuropa zumindest nach jeder Möglichkeit sucht, den Ukraine-Konflikt so schnell wie möglich zu beenden.
Emmanuel Macron und Olaf Scholz konnten ein kurzes Gespräch mit dem russischen Minister führen. Außerdem kündigte der deutsche Bundeskanzler anschließend an, dass er nicht aufhören werde, den Dialog mit dem Kreml zu suchen. Macron versucht, die Voraussetzungen für Gespräche sowohl direkt über Lawrow als auch über die russischen Partner zu schaffen. Bei einem Treffen mit Xi Jinping bat der französische Präsident diesen, Putin an den Verhandlungstisch zu bringen. Interessanterweise war die Türkei in allen vorangegangenen Monaten der Hauptvermittler gewesen. Sie organisierte im März ein Treffen zwischen der russischen und der ukrainischen Delegation und trug bis zum Ende des Sommers zur Aushandlung eines "Getreide-Deals" bei. Auf dem G20-Gipfel ging die Vermittlungsinitiative jedoch eher von dem deutsch-französischen Tandem aus.
Die Lagesondierung von Macron und Scholz ist keine zufällige Episode, sondern eine bewusste Strategie. Macron steht seit den Anfängen der Militäroperation in der Ukraine in Kontakt mit dem Kreml und drängt auf eine diplomatische Lösung der Krise in der Ukraine. Einigen Berichten zufolge habe der französische Präsident versucht, Wladimir Selenskij zu Zugeständnissen und Kompromissen für eine Friedenslösung zu überreden. Scholz ist aufgrund des Drucks der östlichen NATO-Mitglieder und der USA weniger unabhängig in seinen Entscheidungen, aber er hatte auch einen heißen Draht zu Präsident Putin und ist ein Befürworter diplomatischer Lösungen. Am 12. November erklärte er nach einem Gespräch mit Wladimir Putin, er werde sich "von keinem Kritiker davon abhalten lassen, lange Telefongespräche mit dem russischen Präsidenten zu führen".
Die Gründe für die Aktivität Frankreichs und Deutschlands auf der diplomatischen Schiene sind dreierlei: die Krise innerhalb der EU, die Lage an der Front und die Position der Vereinigten Staaten.
Europa befindet sich in einer Wirtschaftskrise. Die Inflation in der Eurozone erreichte im September 10 Prozent, ein Rekordwert seit der Gründung der Europäischen Union. Die Europäische Kommission hat ihre Prognose für das BIP-Wachstum der Eurozone von 2,7 Prozent auf 0,3 Prozent gesenkt. Europa steuere im vierten Quartal 2022 auf eine Rezession zu, verkündete EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni am Vorabend des G20-Gipfels. Finanzielle und wirtschaftliche Schwierigkeiten schlagen sich in politischen Krisen nieder. Das Vereinigte Königreich hat seit Beginn des G20-Gipfels bereits zweimal den Premierminister gewechselt. Der estnische Premierminister ist zurückgetreten. Auch der italienische Ministerpräsident Mario Draghi, der gedroht hatte, Putin von Bali fernzuhalten, hat seinen Posten verloren und damit den Weg für das "nationalistische Dreigestirn" um Giorgia Meloni, Matteo Salvini und Silvio Berlusconi freigemacht. Auslöser für all diese politischen Unruhen in Europa sind die antirussischen Sanktionen und die daraus resultierende Inflation, der Rückgang der Produktion, die Kapitalflucht in die USA, die Arbeitslosigkeit und die Treibstoffknappheit.
Die Lage an der Front weckt gelegentlich Optimismus bei den Anhängern der Ukraine – vor allem während der Offensiven in Richtung Charkow und Cherson –, bringt aber immer noch mehr Kosten als Nutzen. Das Risiko eines direkten Zusammenstoßes zwischen Russland und der NATO ist nach wie vor hoch. Die Staats- und Regierungschefs Frankreichs, Deutschlands und der Vereinigten Staaten sprechen regelmäßig über die Unzulässigkeit eines Atomkriegs, obwohl sie selbst die Anlässe für einen Frontalzusammenstoß vermehren. Die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines war die erste ernsthafte Herausforderung. Am Tag des Gipfels kam es zu einem weiteren Vorfall: Eine ukrainische Flugabwehrrakete schlug auf polnischem Territorium ein.
Dank der besonnenen Reaktion der jeweils gegnerischen Partei ist es bisher gelungen, das Gleichgewicht am Rande des Abgrunds zu halten. Russland hat keine Vergeltungsmaßnahmen für die Sprengung der Pipelines in der Ostsee ergriffen, und Biden und NATO-Generalsekretär Stoltenberg haben die Theorie eines russischen Angriffs auf Polen zurückgewiesen. Jedoch bleiben Russland und die USA/NATO ohne Frieden oder Waffenstillstand auf einem Pulverfass sitzen.
In der konventionellen Kriegsführung kann und wird es, trotz der taktischen Erfolge der Streitkräfte der Ukraine in Cherson und Charkow, keinen überzeugenden Sieg für Kiew geben. Während sich Russland in Richtung Dnjepr zurückzieht, rächt es sich in Richtung Donezk. Die Umgruppierung der russischen Armee geht nicht mit schweren Verlusten an Personal und Ausrüstung einher. Und diese Realität wird in Berlin, Paris und Brüssel erkannt.
Während zu Beginn der Krise die restriktive Haltung der USA als Katalysator für die europäischen Sanktionen gegen Russland und die Waffenlieferungen an die Ukraine wirkte, schraubte Washington nun das Tempo zurück. Darüber hinaus verhandelt die Biden-Administration selbst mit Moskau. Neben einem Treffen zwischen CIA-Chef William Burns und dem Direktor der russischen Auslandsaufklärung Sergei Naryschkin ist bekannt, dass der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan Gespräche mit Nikolai Patruschew und Juri Uschakow führt. Bidens Hauptanreiz, über die Sicherheitsdienste mit dem Kreml in Kontakt zu bleiben, besteht darin, eine mögliche Eskalation und Ausweitung des Ukraine-Konflikts zu einem globalen Konflikt zu verhindern. Die Gespräche Selenskijs mit Putin, zu denen Biden den ukrainischen Staatschef drängt, sind ein unverzichtbares Instrument, um eine Eskalation zwischen den USA und Russland zu verhindern.
Der "Windwechsel" des Weißen Hauses hängt auch mit der mangelnden Unterstützung durch die US-Verbündeten im Nahen Osten und die Partner in Asien zusammen. Trotz Washingtons Drohungen und Druck kaufen China und Indien weiterhin russische Energieressourcen. Auch die Golfstaaten folgen dem Beispiel der USA nicht – gemeinsam mit Russland haben sie am 5. Oktober die Ölproduktion um 2 Millionen Barrel pro Tag gekürzt. China, Indien und die Golfstaaten sowie das NATO-Mitglied Türkei bauen ihre Beziehungen zu Russland aus. Außerdem bieten die Türkei, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain an, in der Ukraine-Krise zu vermitteln.
Einen gewissen, wenn auch nicht entscheidenden Einfluss auf die Position der Biden-Administration haben innenpolitische Ausrichtungen in den USA. Auch wenn der Sieg der Republikaner im Repräsentantenhaus nicht überzeugend ausfiel, wird ein minimaler Vorsprung zu ihren Gunsten als "Bidens Niederlage" empfunden. Eine Stärkung der republikanischen Position würde es schwieriger machen, Waffen und Finanzmittel in die Ukraine zu transferieren. Die Republikaner könnten eine gleichmäßige Aufteilung der militärischen Lasten mit den europäischen EU-Ländern fordern, die angesichts ihrer eigenen Finanz- und Wirtschaftskrisen kaum dazu bereit sind.
Angesichts der Unwirksamkeit der amerikanischen und europäischen Politik in der Ukraine ist es nur natürlich, dass die führenden Vertreter der NATO nach einer Gelegenheit suchen, eine politische Lösung des Konflikts auszuloten. Die Gespräche von Scholz und Macron mit Lawrow sind ein klarer Beweis für den Willen der EU zur Diplomatie. Moskau ist dafür offen, und der russische Präsident hat das auch verkündet. Die scharfe Rhetorik Kiews wird jedoch zu einem ernsthaften Hindernis in diesem Prozess. Die von Selenskij gestellten Forderungen, insbesondere der Rückzug der russischen Truppen und die vollständige "De-Okkupation", was für Moskau die Übergabe nicht nur der vier neu eingegliederten ukrainischen Regionen im Osten und Süden, sondern auch der Krim an Kiew bedeutet, sind grundsätzlich unmöglich zu erfüllen. Frankreich und Deutschland können keinen Druck auf Selenskij ausüben, und die Ukraine genießt weiterhin die Unterstützung der NATO-Falken in Form von USA, Großbritannien und Polen.
Das Gipfeltreffen auf Bali brachte zwar keinen Durchbruch, schuf aber eine gewisse Grundlage für eine politische Lösung der Ukraine-Krise. Die Staats- und Regierungschefs der EU haben ihre Absicht bekundet, den Dialog mit Russland fortzusetzen. Die USA sind in der gleichen Stimmung, haben aber bisher über geschlossene Kanäle Einfluss genommen. Damit der Prozess erfolgreich fortgesetzt werden kann, sind Zugeständnisse von Seiten Kiews erforderlich. Und ohne kollektiven Druck der EU und der USA auf Selenskij ist es unmöglich, diese Ziele zu erreichen.
Während Scholz, Macron und Biden keine aktiven Schritte unternehmen, um Selenskij zu einem Kompromiss zu bewegen, werden die Polen und die Briten dies ausnutzen. Polen und Großbritannien sind äußerst kompromisslos und erwarten, dass die Ukraine bis zum bitteren Ende kämpfen wird. Sobald es Anzeichen für Verhandlungen gibt, inszenieren Warschau und London Sabotageakte und Provokationen. Es ist kein Zufall, dass die Informationen über den angeblichen Angriff Russlands auf Polen an dem Tag verbreitet wurden, an dem die Abschlusserklärung der G20 vereinbart wurde.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst bei Wsgljad erschienen.
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